Gaseinatmu
ngskrankheiten
entstehen durch die länger oder kürzer dauernde Einatmung verschiedener Gase, Dämpfe und Dünste und kommen vorzugsweise bei gewissen Gewerbtreibenden vor, welche in einer mit schädlichen Gasen und Dämpfen vermischten Atmosphäre zu arbeiten genötigt sind. Die Gase [* 2] und Dämpfe lassen sich bezüglich ihres Verhaltens zur Atmung einteilen in atmungsfähige und atmungsunfähige. Die erstere Gruppe umfaßt beinahe sämtliche Gasgemenge, die letztere nur wenige Gasarten, wie Chlor-, Brom-, Fluorwasserstoff-, Salpetersäure-,
[* 1] ^[Abb.: Fig. 15. Liebigs Kugelapparat.]
[* 1] ^[Abb.: Fig. 16. Absorptionsrohr.]
[* 1] ^[Abb.: Fig. 17. Oxydationsgefäß von Hargreaves.] ¶
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Salzsäuredämpfe, Ammoniak, schweflige Säure, Untersalpetersäure, welche sofort krampfhafte Verengerung der Stimmritze auslösen. Die atmungsfähigen Gase zerfallen dann wieder 1) in solche, welche auf die Dauer das Leben der Säugetiere erhalten (atmosphärische Luft);
2) in solche, welche ohne Nachteil eingeatmet werden können, aber nicht das Leben erhalten (Stickstoff, Wasserstoff, reiner Sauerstoff etc.);
3) in solche, welche eingeatmet giftig wirken (Kohlenoxyd, Kohlensäure, Leuchtgas,
[* 4] Arsen-, Phosphor- und Schwefelwasserstoff,
Blausäure, Chloroformdämpfe etc.). Nur die letztere Gruppe und die irrespirabeln Gase und Dämpfe sind im stande, Gaseinatmu
ngskrankheiten hervorzubringen.
Sofern die schädliche Wirkung des Einatmens sehr rasch am Tierkörper bemerkbar wird und nur geringe Mengen für
die Erkrankung oder den Eintritt des Todes erforderlich sind, sprechen wir von Gasvergiftungen (vgl. Gift); ist dagegen die
Einwirkung eine langsame, wie bei vielen Gewerben eine auf viele Jahre sich ausdehnende, so haben wir es mit Gaseinatmu
ngskrankheiten im eigentlichen
Sinn zu thun.
Die Anzahl der Gewerbe, welche zu Gaseinatmu
ngskrankheiten Veranlassung geben können, ist eine außerordentlich
große. Durch Einatmung sogen. indifferenter Gase, z. B. des Stickstoffs, der Kohlenwasserstoffgase, welcher namentlich Bergleute
und Grubenarbeiter ausgesetzt sind, entsteht Atemnot, welche die Arbeiter zu forcierten Atembewegungen zwingt und auf diese
Weise mit der Zeit zur Entwickelung des Lungenemphysems (s. d.) zu führen pflegt. Schwefligsaure und schwefelsaure
Dämpfe erzeugen Katarrhe der Atmungsschleimhaut, Husten, Bluthusten, Verdauungsstörungen, Appetitlosigkeit, saures Aufstoßen
etc. Bei der Strohhutfabrikation, beim Schwefeln des Hopfens, der Schwefelsäurefabrikation, in Kalkbrennereien, beim Rösten
von Schwefelkiesen, in Glashütten und chemischen Fabriken sind die Arbeiter der Gefahr der Einatmung solcher sauren Dämpfe ausgesetzt.
Salpetrigsaure und salzsaure Dämpfe rufen ebenfalls je nach dem Grade der Konzentration allerhand Reizungszustände der Respirationsorgane hervor. Die Einatmung von Ammoniak in größerer Menge, wie sie in chemischen Fabriken, Gerbereien, Zuckersiedereien, Tabaksfabriken, beim Räumen der Senkgruben vorkommt, bewirkt Brustbeklemmung, Erstickungsanfälle und vorübergehende Harnverhaltung, wogegen lange fortgesetzte Einatmung von Ammoniak in geringerer Konzentration zu chronischen Bronchialkatarrhen führt.
Äußerst reizend wirkt Chlor auf die Atmungsorgane ein, indem es akute Katarrhe der Luftwege, Lungenentzündungen und Blutungen aus den Luftwegen hervorruft. Arbeiter, welche sich lange Zeit in einer mit Chlor verunreinigten Atmosphäre, z. B. in chemischen und Papierfabriken, Bleichereien und Verzinnungsanstalten, aufgehalten haben, sehen stets bleich und elend aus und ältern ungewöhnlich schnell. Konzentriertes Chlorgas ruft Krampf der Stimmritze, Erstickungsgefahr, ja selbst den Tod hervor.
Direkt giftig wirkt das Kohlenoxydgas, welches die Leuchtgasarbeiter, Rohrleger, die Arbeiter in Eisenhütten, Koksfabriken, Gasanstalten, Metallgießereien, die Buchbinder und Büglerinnen zuweilen in größerer Menge einatmen (vgl. Kohlenoxydvergiftung). Auch die Einatmung von Kohlensäure und kohlensauren Gasgemengen scheint direkt giftig auf den Organismus zu wirken. Veranlassung dazu bietet sich sehr häufig dar, denn solche kohlensaure Gasgemenge kommen in schlecht ventilierten Kellern zur Zeit der Gärung des Weins und Biers, in den Spiritus- und Preßhefefabriken, in tiefen Brunnenschächten, Leichengrüften, Lohgruben, Bergwerken vor und bedingen oft genug Erstickungsanfälle, Scheintod und wirklichen Tod bei denen, welche sich unvorsichtigerweise an solche Orte begeben.
Auch der Schwefelwasserstoff, welcher nicht selten zusammen mit andern stinkenden Gasarten eingeatmet wird, gibt bei Kloaken- und Schleusenarbeitern, in Kautschukfabriken und beim Flachsrösten Veranlassung zu akuten Vergiftungen oder zu chronischem Siechtum. Dasselbe gilt von dem Schwefelkohlenstoffgas, welches bei der Kautschukfabrikation und in der Wollwäscherei eine große Rolle spielt. Arbeiter, welche mit der Fabrikation der Jod- und Brompräparate beschäftigt sind, sind zuweilen akuten Vergiftungszufällen durch diese Gase ausgesetzt, welche mit heftigem Hustenreiz, Kopfschmerz, Entzündung der Augenbindehaut und Nasenschleimhaut sowie mit einem rauschähnlichen Zustand einhergehen, aber schnell wieder verschwinden, wenn reine Luft eingeatmet wird.
Häufiger kommt die chronische Jodvergiftung vor, welche sich als allgemeine Kachexie, hochgradige Abmagerung etc. darstellt und mit hartnäckigem Magenkatarrh verbunden ist. Außerdem kommen noch in Betracht: die Arsendämpfe in chemischen Fabriken, Laboratorien und Hüttenwerken (s. Arsenikvergiftung);
die Zinkdämpfe, welche bei Messingarbeitern, Gelbgießern und Gürtlern das Gießfieber oder Zinkfieber veranlassen;
die Bleidämpfe, welche namentlich Malern und Schriftgießern verderblich werden (s. Bleivergiftung);
die Quecksilberdämpfe, welche die Arbeiter in Quecksilberberg- und Hüttenwerken, die Spiegelbeleger und Vergolder, die Thermometer- und Barometerfabrikanten, die Zündhütchenarbeiter etc. schädigen (s. Quecksilbervergiftung);
die Phosphordämpfe, denen die Arbeiter in Phosphor- und Zündhölzchenfabriken ausgesetzt sind (s. Phosphorvergiftung);
die Terpentinöldämpfe, welche bei Malern, Firnisarbeitern, Appretierern und in Zündhölzchenfabriken entzündliche Reizungen der Lungen, des Magens und der Nieren veranlassen;
die Anilindämpfe, welche den Anilismus erzeugen, etc. Auch die Einwirkung der komprimierten Luft (s. d.) ist hierher zu rechnen.
Was die Behandlung der Gaseinatmu
ngskrankheiten anbetrifft, so kommt alles darauf an, die Gewerbtreibenden vor
einer mit schädlichen Gasen verunreinigten Atmosphäre zu schützen, sie derselben möglichst zu entziehen oder doch durch
einen zweckmäßigen Betrieb des Gewerbes, durch ausgiebige Ventilation der Arbeitsräume etc. die vorhandene Gefahr zu mildern.
Gewisse Operationen lassen sich in abgeschlossenen, gut ventilierten Kasten etc. vornehmen, deren Luft niemals eingeatmet zu
werden braucht und nie in die eigentlichen Arbeitsräume übertreten kann.
Oft kann man durch Respiratoren oder durch Vorbinden von Schwämmen und Tüchern, die mit geeigneten Flüssigkeiten getränkt sind, der Gefahr vorbeugen.
Vgl. Eulenburg, Die Lehre [* 5] von den schädlichen und giftigen Gasen (Braunschw. 1865);
Hirt, Die Gasinhalationskrankheiten (in Ziemssens »Handbuch der speziellen Pathologie und Therapie«, Bd. 1, 3. Aufl., Leipz. 1882);
Layet, Allgemeine und spezielle Gewerbepathologie (deutsch von Meinel, Erlang. 1877).