Gambetta
(spr. gangb-), Léon Michel, franz. Staatsmann, geb. zu Cahors, aus einer jüdischen Familie aus Genua [* 2] stammend, studierte die Rechte und trat 1859 als Advokat in das Barreau von Paris. [* 3] Als Sekretär [* 4] Lachauds, dann Crémieux' machte er sich als Verteidiger in einigen politischen und Preßprozessen bemerklich und beteiligte sich 1863 an der Wahlagitation für Ollivier. In den Vordergrund des politischen Lebens trat er plötzlich mit einer Rede, welche er zur Verteidigung des wegen einer Sammlung für Baudin angeklagten Delescluze vor dem Gerichtshof hielt, und in der er das Kaiserreich mit unerhörter Kühnheit angriff und den Staatsstreich vom 2. Dez. mit den schärfsten Worten verurteilte.
Infolge davon wurde er bei den allgemeinen Wahlen sowohl in Paris als in Marseille [* 5] als Kandidat der unversöhnlichen Opposition in den Gesetzgebenden Körper gewählt. Als Hauptwortführer der äußersten Linken hielt er mehrere glänzende Reden, namentlich bei Gelegenheit des Plebiszits und richtete die heftigsten Angriffe gegen den »abtrünnigen« Minister Ollivier. Seine Beredsamkeit war zwar nicht gedankenreich, aber schwungvoll, treffend und wirksam; sein mächtiges, klangvolles Organ kam ihm dabei sehr zu statten. Er tadelte zwar die leichtfertige Art der Kriegserklärung, stimmte aber für Bewilligung der verlangten Kredite. Am 4. Sept. proklamierte er noch im Sitzungssaal des Gesetzgebenden Körpers die Thronentsetzung Napoleons III. und seiner Familie auf ewige Zeiten und übernahm in der Regierung der Nationalverteidigung das Ministerium des Innern. Am 8. Okt. verließ er Paris in einem Luftballon, kam glücklich zur Erde und begab sich nach Tours, [* 6] wo sich eine Delegation der Regierung befand.
Sein Zweck war, teils Differenzen, welche zwischen den Regierungen von Paris und von Tours wegen der Wahlen zur Nationalversammlung ausgebrochen waren, zu schlichten, teils die Organisation neuer Armeen zur Befreiung der Hauptstadt zu betreiben. Er übernahm daher dort neben dem Ministerium des Innern auch das Departement des Kriegs und das der Finanzen, riß eine unumschränkte Diktatur an sich und suchte den Nationalhaß der Franzosen gegen die Deutschen durch seine Ansprachen und Proklamationen anzufachen. Er verstand es, die wildesten Leidenschaften des Volkes zu entzünden, dem Krieg einen unversöhnlichen Charakter zu geben (guerre à outrance) und durch Aufbietung aller waffenfähigen Mannschaft neue Armeen gleichsam aus dem Boden zu stampfen.
Die Bildung der Nordarmee bei Lille, [* 7] der großen, nachher in zwei Heere geteilten Loirearmee, der Ostarmee im Saônegebiet war sein Werk. Große Scharen wurden hinter diesen Feldarmeen in befestigten Übungslagern gesammelt, ausgerüstet und eingeübt. Eine in England abgeschlossene Anleihe (Morgan-Anleihe) und die großen Opfer der Departements lieferten ihm die Mittel zu diesen kolossalen Rüstungen [* 8] und zur Beschaffung einer zahlreichen Artillerie. Beherrscht von der republikanischen Legende der siegreichen Volkserhebung von 1792 und 1793 hatte er den Glauben und wußte ihn auch eine Zeitlang der Nation einzuflößen, daß es möglich sei, durch ¶
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das Entgegenwerfen großer Massen gegen die Fronte und den kleinen Krieg im Rücken der feindlichen Heere dieselben aufzureiben, Paris zu entsetzen und die Deutschen vom geheiligten Boden des Vaterlandes zu vertreiben. Alle Mißerfolge konnten diesen Glauben nicht erschüttern, sondern reizten ihn nur, in die Leitung der militärischen Aktionen selbst einzugreifen, Generale ab- und einzusetzen und die gewagtesten Unternehmungen, wie den Marsch der Ostarmee auf Belfort, [* 10] direkt zu befehlen.
Doch führte bei diesen strategischen Maßregeln Gambetta
nur die Ideen seines Kriegsdelegierten Freycinet aus. Um jede Opposition
gegen seine Absicht zu ersticken, schritt er zu den gewaltsamsten Maßregeln. Selbst nach dem Fall von
Paris wollte er von Frieden nichts wissen und suchte durch ein ganz ungesetzliches Dekret vom friedliche Elemente
von der Nationalversammlung auszuschließen. Als dies Dekret von der Regierung in Paris annulliert wurde, nahm er 6. Febr. seine
Entlassung.
Der schließliche Ausgang rechtfertigte Gambettas
Unternehmen nicht, die ungeheuern Opfer für Fortsetzung
des Kampfes waren umsonst gebracht; doch würdigte das Volk die beispiellose Energie des Diktators, der wenigstens die Ehre Frankreichs
gewahrt habe. Von neun Departements in die Nationalversammlung gewählt, optierte er für den Niederrhein, stimmte gegen den
Frieden und legte nebst den übrigen Deputierten des abgetretenen Gebiets 1. März sein Mandat nieder, um sich
nach San Sebastian zurückzuziehen.
Erst nach der Überwältigung der Kommune trat er bei einer Neuwahl wieder in die Nationalversammlung ein, in der er die Führung der republikanischen Linken übernahm; zugleich gründete er ein neues Blatt: [* 11] »La République Française«. Anfangs wurde er durch die heftigen Anklagen der Monarchisten gegen seine Diktatur dazu gereizt, durch radikale Agitationen die Auflösung der Nationalversammlung erzwingen zu wollen. Als er aber erkannte, daß er hierdurch nur den Sturz Thiers' ermöglicht und den Bonapartisten, seinen gehaßtesten Feinden, genützt habe, befleißigte er sich größerer Mäßigung und bot zu der Verfassung vom Februar 1875 die Hand. [* 12]
Seit 1876 Mitglied der Deputiertenkammer, ward er das Haupt der republikanischen Partei und erlangte als Vorsitzender der Budgetkommission auch auf die Verwaltung maßgebenden Einfluß. Während des Reaktionsversuchs 1877 leitete er den Widerstand des Landes mit großem Geschick und glänzendem Erfolg und steigerte sein Ansehen. Dennoch trat er weder an die Spitze des Ministeriums, noch bewarb er sich 1879 nach Mac Mahons Rücktritt um das Amt des Präsidenten der Republik. Er begnügte sich, Präsident der Deputiertenkammer zu werden.
Doch übte er als Haupt der Majorität einen herrschenden Einfluß auch auf die Leitung des Staats aus, zwang die Regierung zu der kostspieligen Befestigung der Ostgrenze, zu den antiklerikalen Gesetzen und zur Amnestie der Kommunisten und mischte sich namentlich in die auswärtige Politik. Da er alle Minister, die sich seinem Willen nicht fügen wollten, ohne weiteres stürzte und dadurch eine dauernde Regierung unmöglich machte, erregte er endlich auch bei seinen Parteigenossen Unzufriedenheit.
Sein Plan war, die Listenwahl durchzusetzen, sich dann bei den Neuwahlen in möglichst vielen Departements wählen zu lassen
und mit dem Ansehen eines Erwählten der Nation die Regierung zu übernehmen, um die Demokratie zu vollenden und den Revanchekrieg
gegen Deutschland
[* 13] zu beginnen. Zwar lehnte der Senat 1881 die Einführung der Listenwahl ab;
bei den Neuwahlen
für die Deputiertenkammer, welche Gambetta
leitete, erlangten seine Anhänger aber eine so große Majorität, daß er nun nicht
umhin konnte, ein Kabinett zu bilden.
Dasselbe, le grand ministère genannt, kam zu stande. In der innern Politik machte Gambetta
die Verfassungsrevision
nebst Listenwahl zu seinem Programm; in der auswärtigen Politik wollte er die Beziehungen zu Rußland enger knüpfen und aus
Anlaß der ägyptischen Frage ein festes Bündnis mit England schließen, um, hierauf gestützt, gegen Deutschland aufzutreten.
Aber England lehnte die gemeinschaftliche englisch-französische Aktion in Ägypten,
[* 14] die Gambetta
vorschlug, ab,
und die Kammer verwarf die von Gambetta
beantragte Listenwahl.
Sofort nahm Gambetta
seine Entlassung und beschränkte sich auf seine frühere Thätigkeit, den Ministern durch die Stimmen seiner
Anhänger in der Kammer seinen Willen aufzuzwingen. Ende 1882 erkrankte er in seinem Landhaus zu Ville d'Avray bei Paris
und starb Sein glänzendes Begräbnis erfolgte auf Staatskosten;
seine Leiche ward in Nizza [* 15] beigesetzt. In Cahors wurde ihm 1884 ein Standbild errichtet;
in Paris soll ihm ein großartiges Denkmal errichtet werden. Gambetta
starb unvermählt;
er hatte ein intimes Verhältnis zu einer Dame, Léonie Leon, die er aber nach dem Tod ihres Gatten nicht heiratete, obwohl sie ihm einen Sohn geboren. Er war ein glühender Patriot, ein begeisterter Redner und ein kühner, energischer Politiker, doch ehrgeizig und herrschsüchtig, weswegen er wohl auch bei längerm Leben keine großen Erfolge errungen haben würde.
Seine »Discours et plaidoyers politiques« (Par. 1880-84, 10 Bde.) und »Dépêches etc.« (1886 ff.) gab Reinach heraus.
Vgl. Freycinet, La guerre en province (deutsch, Bresl. 1872);
v. d. Goltz, Léon Gambetta
und seine Armeen (Berl.
1877);
Reinach, Léon Gambetta
(Par. 1884);
Neucastel, Gambetta
, sa vie et ses vues politiques (1885).