Titel
Gallikanische
Kirche, Bezeichnung der katholischen Kirche Frankreichs in Beziehung auf ihre eigentümliche Stellung dem römischen Stuhl gegenüber; daher Gallikanismus, die auf Geschichte und Staatsrecht gegründete nationale Eigentümlichkeit, welche die katholische Kirche Frankreichs auszeichnet oder doch früher ausgezeichnet hat. Ihre Wurzeln hat diese Eigentümlichkeit teils in der altkirchlichen Episkopalverfassung überhaupt, teils in dem stärkern Souveränitätsbewußtsein der französischen Könige.
Namentlich ist bereits in der selbständigen Gestalt, welche die gallo-fränkische
Kirche unter dem Einfluß
Karls d. Gr.,
der
Bischöfe und
Gelehrten seiner Zeit gewann, gleichsam das
Ideal gegeben, welches die spätern Verteidiger des
Gallikanismus,
Fürsten und
Bischöfe, gemeinschaftlich verfolgten. Der erste namhafte kirchliche Verteidiger jenes
Ideals
war der mutvolle
Hinkmar (s. d.) von
Reims,
[* 2] der erste namhafte königliche
Ludwig der
Heilige. Den echt gallikanischen
Sinn des
letztern bekundet namentlich seine sogen.
Pragmatische Sanktion vom Jahr 1269, durch welche den
Prälaten und
Patronen der
Kirchen
ihre
Rechte über die
Kirchenpfründen, den
Kathedral- und andern
Kirchen des
Reichs ihr freies
Wahlrecht gesichert,
drückende Geldforderungen des römischen
Hofs zurückgewiesen und nur bei billigen, frommen und sehr dringenden Veranlassungen
unter ausdrücklicher Beistimmung des
Königs und der
Kirche des
Reichs Beisteuern bewilligt werden sollten. Weiter ausgedehnt
wurden diese Bestimmungen durch die zwischen dem
Papst
Eugen IV. und
Karl VII. nach Maßgabe der Beschlüsse
des
Konzils zu Basel
[* 3] geschlossene neue
Pragmatische Sanktion vom auf
Grund deren die kirchliche
Jurisdiktion mehr und mehr
eingeschränkt und der königlichen ganz
¶
mehr
untergeordnet ward. Ludwig XI. hob zwar, um den römischen Stuhl den Ansprüchen des Hauses Anjou auf den Thron
[* 5] von Neapel
[* 6] geneigt
zu machen, gleich nach seiner Thronbesteigung die Pragmatische Sanktion seines Vaters wieder auf, und Franz I. opferte in seiner
Abhängigkeit von seinem Kanzler Duprat, den nach dem Kardinalshut
[* 7] gelüstete, und in seiner Anhänglichkeit
an den römischen Stuhl die wichtigsten Freiheiten der gallikanischen
Kirche, indem er zu Bologna mit dem Papst ein
Konkordat abschloß, worin zwar das durch die Pragmatische Sanktion ausgesprochene Verbot der päpstlichen Reservationen und
Anwartschaftserteilungen sowie des Mißbrauchs der Appellation und des Interdikts wiederholt, dafür aber
die wichtige Bestimmung, daß der Papst unter dem allgemeinen Konzil stehe, mit Stillschweigen übergangen wurde.
Aber nur »auf ausdrücklichsten Befehl des Königs« konnte das Pariser Parlament bewogen werden, die päpstliche Bulle, welche
die Pragmatische Sanktion verdammte, zu registrieren und nach wie vor blieben die rein
gallikanischen
Grundsätze der drei großen Konzile zu Pisa,
[* 8] Konstanz
[* 9] und Basel
maßgebend für die Gesinnung der Nation und die Stellung
des Klerus. Auf dem Konzil von Trient
[* 10] vertrat der Kardinal Guise von Lothringen wieder den Gallikanismus, und von den Beschlüssen
des Konzils erkannte Frankreich nur diejenigen an, die seinen eignen Staatsmaximen und Kronprivilegien
sowie Kirchengesetzen und Gewohnheiten entsprachen.
Damals stellte der Jurist Pithou 83 Artikel zusammen (1594), welche auf die beiden Sätze hinausliefen, daß der Papst im Staate
des Königs über das Weltliche nichts zu bestimmen habe, und daß er selbst im Geistlichen nichts verfügen könne, was den
geltenden Konzilienbeschlüssen entgegenstehe. Seinen Höhepunkt erreichte aber der Gallikanismus in den
vier Propositionen (propositiones s. declarationes cleri gallicani) oder den vier Artikeln der gallikanischen
Kirche, welche
infolge eines Streits Ludwigs XIV. mit Papst Innocenz XI. über die Besetzung der niedern geistlichen Stellen in einem erledigten
Bistum formuliert wurden, und die dahin gingen:
1) Könige und Fürsten sind in weltlichen Dingen der Kirchengewalt nicht unterworfen und können weder direkt noch indirekt von ihr entsetzt, auch können ihre Unterthanen nicht vom Gehorsam gegen sie entbunden werden;
2) der Papst ist den Beschlüssen der allgemeinen Kirchenversammlung unterworfen;
3) seine Macht regulieren die von der ganzen Christenheit angenommenen Kanons und die in Frankreich von alters her gültigen Grundsätze, Gebräuche und Einrichtungen;
4) auch in Sachen des Glaubens ist das Urteil des Papstes nicht unfehlbar und unabänderlich (irreformabile), wenn die Kirche nicht beistimmt. Diese Artikel, von Bossuet redigiert, wurden von einer außerordentlichen Versammlung von 35 Bischöfen und 35 Pfarrern in Paris [* 11] proklamiert, und zu ihnen mußten sich alle Behörden des Reichs feierlichst bekennen. Unter Ludwig XIV. selbst und seinen Nachfolgern ist zwar vieles hier Behauptete wieder preisgegeben worden.
Um so weiter schritt aber die Revolution nach der entgegengesetzten Richtung aus. In der Deklaration der Menschenrechte wurde die Freiheit des Glaubens anerkannt, alles Kirchengut für Nationaleigentum erklärt und die Administration des gesamten Kirchenguts den weltlichen Behörden übergeben, wofür der Staat die Erhaltung der Kirche und der Armen übernahm; ja, endlich wurde die Kirche selbst aufgehoben und ein Vernunftkultus eingeführt. Bonaparte als Erster Konsul der Republik stellte zwar die kirchlichen Verhältnisse durch ein mit dem Papst abgeschlossenes Konkordat wieder her; aber der Friede zwischen dem jungen Frankreich und der Hierarchie konnte von keiner Dauer sein.
Vergebens forderte der Papst die Alleinherrschaft seiner Kirche im französischen Kaiserreich, vergebens protestierte er gegen die Verletzung des kanonischen Rechts durch den Code Napoléon; als er sich weigerte, die vom Kaiser ernannten Bischöfe kanonisch einzusetzen, ward er sogar verhaftet, blieb aber gleichwohl den Bitten und Drohungen des Kaisers gegenüber standhaft. Unterstützt durch den Erzbischof von Paris, den Kardinal Maury, erhob der Kaiser die Deklaration von 1682 durch Dekret vom abermals zum Reichsgesetz; dagegen gelang es nicht, durch eine Synode der französischen, italienischen und deutschen Bischöfe zu Paris (1811) eine vom Papst unabhängige Reichskirche zu gründen. Nur im Drang der Umstände willigte Pius VII. in den Abschluß des Konkordats von Fontainebleau, in welchem sein Recht auf Einsetzung der Bischöfe nicht anerkannt und auch von seiner Restitution in sein weltliches Regiment nichts erwähnt wurde.
Auf den Rat seiner Kardinäle trat er daher bald wieder davon zurück. Nach der Restauration vermochten die zurückgekehrten exilierten Priester, mit dem Grafen von Artois und der Herzogin von Angoulême verbündet, den König zu einem Konkordat mit Papst Pius VII. (1817), wodurch das frühere von 1801 aufgehoben und das von 1516 hergestellt wurde. Die öffentliche Meinung wies indes dies »Gespenst der Vorzeit« so entschieden zurück, daß man den betreffenden Gesetzentwurf der Deputiertenkammer nicht vorzulegen wagte; vielmehr erklärten 1824 alle Obern und Professoren der bischöflichen Seminare und 1826 alle Bischöfe feierlich, daß sie an den Satzungen von 1682 festhielten.
Die Juliregierung von 1830 regelte die kirchlichen Beziehungen des Papstes zur Staatsgewalt gesetzlich und erklärte die Freiheit aller Konfessionen. [* 12] Diese Bestimmung wurde in die Charte vom aufgenommen. Im Sinn des entschiedensten Liberalismus gründete bald darauf (August 1830) der Abbé Chatel eine französisch-katholische Kirche, welche alle religiösen Richtungen Frankreichs zu umfassen bestimmt war, Auzou eine französisch-evangelische Kirche, welche mehr nur gegen die hierarchische Verfassung gerichtet war.
Gegen beide fand sich jedoch die Regierung bewogen, einzuschreiten, und seitdem blieb der spezifisch römisch-katholischen Richtung fast allein das Feld. Trotz der gesetzlichen Verordnungen, wonach geistliche Orden nur unter Zustimmung der Kammern gesetzliche Duldung erhalten sollten, schlichen sich viele solcher Korporationen und unter ihnen auch Jesuiten ein; zwar wurden (1845) auf eine Interpellation von Thiers hin wenigstens die Jesuitenkongregationen aus Frankreich verbannt, aber auch jetzt noch blieben die einzelnen Glieder [* 13] des Ordens unangefochten.
Die Konstitution vom gab das Religionsbekenntnis frei und versprach für die Ausübung des Kultus den Staatsschutz, sowie sie auch der Geistlichkeit der anerkannten oder noch anzuerkennenden Kulte Besoldung von seiten des Staats aussetzte. Die Regierung des zweiten Kaiserreichs begünstigte die katholische Kirche insofern, als sie derselben einen größern Einfluß auf den Unterricht gestattete. Doch war die Stellung Napoleons III. zum päpstlichen Stuhl jedenfalls als eine sehr zweideutige zu bezeichnen. Während er z. B. durch die zu Ende des Jahrs 1859 in Paris erschienene Broschüre ¶
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»Der Papst und der Kongreß« die ganze weltliche Herrschaft des Papstes in Frage stellen ließ und demselben in einem eigenhändigen Schreiben vom zumutete, freiwillig auf die abgefallenen Provinzen zu verzichten, und die Besitzergreifung des Kirchenstaats durch sardinische Truppen zuließ; während ferner eine offiziöse Broschüre Laguéronnières: »Frankreich, Rom und [* 15] Italien«, [* 16] den Prozeß gegen die weltliche Herrschaft des Papstes von neuem instruierte, hielten doch französische Truppen allein noch den päpstlichen Stuhl aufrecht.
Der allgemeine Widerspruch von seiten der französischen Bischöfe gegen die Politik der beiden genannten Broschüren zeigte, daß die Zeiten des Gallikanismus vorbei sind. Thatsächlich ist der Papst bei allem Wechsel der politischen und kirchlichen Systeme in Frankreich unerschüttert und zuletzt sogar fast allein auf dem Plan geblieben. Bei den Vorbereitungen für das vatikanische Konzil erneuerten zwar die Bischöfe Maret von Sura und Dupanloup von Orléans [* 17] den Standpunkt Bossuets, allein auf dem Konzil selbst befanden sich die Häupter der französischen Kirche in der bloßen Defensive, und nach dem Konzil, welches die Unfehlbarkeit des Papstes proklamierte, eröffneten sie den allgemeinen Rückzug.
Heutzutage kann man auch mit Bezug auf Frankreich sagen, daß die alten innerkatholischen Gegensätze vollständig hinter dem neuen Gegensatz zwischen dem modernen Staat und dem ultramontanen System zurückgetreten sind, wenn sich auch in der dritten Republik das Streben zeigt, den Einfluß des Klerus auf das Schulwesen möglichsten Beschränkungen zu unterwerfen.
Vgl. Dupin, Les libertés de l'Église gallicane (Par. 1824, neue Ausg. 1860);
Bordas-Demoulin, Les pouvoirs constitutifs de l'Église (das. 1855);
Huet, Le [* 18] Gallicanisme, son passé, sa situation présente (das. 1855);
Puyol, Études sur la renovation du Gallicanisme (das. 1876, 2 Bde.).