Friesen
(Frisii, Frisones, in ihrer eignen
Sprache
[* 2] Frisan),
Name eines germanischen Volksstammes, welcher zu der Zeit,
wo die
Römer
[* 3] mit ihm in Berührung kamen, im nordwestlichen Germanien
[* 4] an der Nordseeküste zwischen
Rhein
und
Ems,
[* 5] also westlich von den
Chauken und östlich von den
Batavern, wohnte (s.
Karte
»Germanien etc.«).
Tacitus teilt sie in
die größern und kleinern Friesen
, ohne aber die
Wohnsitze beider näher anzugeben. Die Friesen
werden schon von
dem genannten Schriftsteller als ein emsiges, ebensowohl auf die Ausbeutung des
Meers wie auf
Viehzucht und
[* 6]
Ackerbau bedachtes
Volk beschrieben.
Durch
Drusus, der bei seiner
Fahrt an der nordwestlichen
Küste
Deutschlands
[* 7] mit den Friesen
zusammentraf, den
Römern zinspflichtig
gemacht, blieben sie denselben treu und leisteten
Drusus wie
Germanicus bei ihren
Unternehmungen in
Deutschland
[* 8] großen Vorschub. Erst infolge der durch den
Centurio Olennius bei Eintreibung des
Tributs verübten
Gewaltthätigkeiten empörten
sie sich 27
n. Chr., doch gelang es Gnäus
Domitius
Corbulo, sie von neuem zu unterwerfen (47). 58 entstand ein neuer Streit,
als die Friesen
einen öden Grenzstrich am
Rhein besetzt hatten.
Trotzdem sie zwei ihrer
Fürsten an
Kaiser
Nero schickten, wurden sie doch von dem römischen
Statthalter überfallen und zur
Räumung gezwungen. Von da an werden die Friesen
wenig genannt; nur zuweilen geschieht ihrer als kühner Seeräuber
Erwähnung, wie sie denn auch neben
Angeln und
Sachsen
[* 9] an der
Eroberung
Britanniens teilgenommen haben sollen.
Im frühen
Mittelalter ist der
Name auch weiter östlich verbreitet;
Friesland erstreckt sich an der Nordseeküste von dem
Fluß
Sincfala im W. (dem heutigen Flüßchen 't Zwin, welches nördlich von Sluys mündet) bis zur
Weser im O. Es zerfällt in
drei Teile: Westfriesland, die heutigen
Provinzen
Zeeland,
Süd- und
Nordholland und einen Teil von
Utrecht
[* 10] umfassend, Mittelfriesland, die heutige
Provinz
Friesland, und
Ostfriesland, die heutige holländische
Provinz
Groningen, das
preußische
Ostfriesland und ein Teil von
Oldenburg.
[* 11]
Außerdem werden in den westlichen Küstenstrichen
Schleswigs von der
Eider bis
Tondern hin und auf den vorliegenden
Inseln
Nordstrand,
Föhr,
Sylt und andern
Nord- oder Strandfriesen
erwähnt. Das Friesenvolk kam bereits im 6. Jahrh. in feindliche
Berührung mit den
Franken; der Frankenkönig
Dagobert I. (622-638) gründete sodann in dem Grenzkastell
Utrecht eine
Kirche,
wohl auch zum
Zweck der
Mission unter den Friesen
, dieselbe wurde indes von diesen bald nachher wieder zerstört.
Etwa 40 Jahre später fand dann der Sachse Wilfried, Erzbischof von York, günstigere Aufnahme bei den und erhielt von ihrem Herzog oder König Aldgisl I. selbst die Erlaubnis zu Predigt und Mission. Dessen Sohn und Nachfolger Ratbod wurde in einen Krieg mit Pippin von Heristall verwickelt, der ihn 689 bei Wyk te Duerstede schlug und zur Abtretung Westfrieslands nötigte. Nun kam 690 der heil. Willibrord nach Friesland und begann die Mission mit mehr Erfolg aufzunehmen; er ist sogar schon bis zu der durch ein altes Heiligtum berühmten Insel Fositesland (Helgoland) [* 12] gekommen.
Nach Pippins Tod versuchte indes Ratbod sich von dem fränkischen Einfluß wieder zu befreien; im Einverständnis mit den Neustriern, die sich gegen die karolingischen Majordomus erhoben hatten, gewann er Westfriesland zurück, fuhr dann 716 mit seinem Heer den Rhein hinauf, landete bei Köln, [* 13] schlug dort Karl Martell und kehrte mit reicher Beute in die Heimat zurück, wo er die Kirchen zerstörte und den heidnischen Kultus herstellte. Nach seinem Tod 719 ging unter seinem Nachfolger Aldgisl II. Westfriesland wieder verloren, und Willibrord, der sich während des Kriegs geflüchtet hatte, kehrte nach Utrecht zurück, das von nun ab ununterbrochen Bischofsitz für diese friesischen Lande war. Indessen gelang es auch jetzt noch nicht, das ¶
mehr
Christentum über die Grenze von Mittelfriesland hinaus weiter nach O. zu verbreiten; dort ward noch Winfried-Bonifacius nebst dem Bischof Eoban von Utrecht 754 von den Heiden erschlagen. Inzwischen hatte Karl Martell 734 einen zweiten Zug nach Friesland unternommen und über Aldgisls Nachfolger Poppo einen Sieg gewonnen. Seit dieser Schlacht, in der Poppo fiel, ist von einem Herzog, dessen Gewalt sich über alle Teile Frieslands erstreckt hätte, nicht mehr die Rede; an der Spitze der einzelnen Gaue oder Hundertschaften scheinen besondere, vom Volk gewählte Vorsteher gestanden zu haben, die vielleicht schon jetzt in einer Art von Bundesverfassung lebten.
Trotzdem hatte noch Karl d. Gr. eine letzte Erhebung der Friesen
, die sich an die Sachsenkriege anschloß, niederzuschlagen;
seitdem war Friesland dem Christentum und dem fränkischen Reich völlig unterworfen. Insbesondere werden Handel und Schiffahrt
als Beschäftigungen der in dieser Zeit erwähnt; ihre Schiffer fuhren in slawische Lande (einmal die Elbe hinauf bis zur
Havel), und friesische Kaufleute begegnen sich in sehr verschiedenen Teilen des fränkischen Reichs, auch in England etc. Entweder
unter Karl d. Gr. oder vielleicht schon früher fand auch die Aufzeichnung des friesischen
Gesetzbuchs, der Lex Frisionum (s. Friesisches Recht), statt. Im allgemeinen wurde die Organisation der karolingischen Verfassung
auch in Friesland durchgeführt, doch erhielten sich gerade hier noch manche Institutionen aus altgermanischer
Zeit.
Durch den Vertrag von Verdun [* 15] 843 kam bei der Teilung des fränkischen Reichs Friesland an Lothar und bildete also einen Teil von Lothringen, das 870 an das ostfränkische Reich oder Deutschland fiel. Als nach dem Tod Ludwigs des Kindes 911 Lothringen sich von Deutschland wieder lossagte und den westfränkischen König Karl anerkannte, blieb Friesland Konrad I. treu; so kam es, daß sich dieses von dem Verband [* 16] der Länder ablöste, an denen der Name Lothringen haften blieb, u. während des ganzen Mittelalters eine besondere Landschaft bildete, deren Grenze gegen Sachsen die Weser, ein Nebenfluß derselben, die Wapel, und eine Linie von da westlich nach der Ems zu waren, während es im S. gegen Lothringen sich bis zur Mündung der Maas und des Rheins erstreckte (s. die »Geschichtskarte [* 17] von Deutschland I«).
In der Folge trennte sich das Geschick von Westfriesland von dem des übrigen Friesland. Dort entwickelte sich schon früh die Landeshoheit; neben den Grafen von Holland, deren Geschlecht sich bis zum Ausgang des 9. Jahrh. zurückverfolgen läßt, beherrschte besonders der Bischof von Utrecht ein größeres Territorium. So erlosch der Name der in den spätern Provinzen Holland, Zeeland und Utrecht; westlich von der Flie behauptete er sich nur auf einigen Inseln, wie Texel, und in der äußersten Spitze von Nordholland, welche erst nach langen Kämpfen im 13. Jahrh. den Grafen von Holland unterworfen wurde und noch jetzt den Namen Westfriesland führt.
Währenddessen behaupteten die übrigen Friesen
ihre Unabhängigkeit nicht nur den benachbarten
Dynasten, sondern auch im großen und ganzen der Reichsgewalt gegenüber, die hier nur äußerst geringes Ansehen hatte.
So entstand hier eine ganz eigentümliche, freie Landesverfassung, in welcher im Gegensatz zu den rings umher emporgekommenen
feudalen Ordnungen altgermanische Rechtssatzungen fortbestanden. Die sieben friesischen Seelande bildeten nun einen Bund
zu Schutz und Trutz gegen äußere Feinde.
Jedes derselben zerfiel in Gaue und diese wieder in Bauerschaften, an deren Spitze aus der
Mitte der Volksgenossen hervorgehende
Richter und gewählte Talemänner (Sprecher) standen. Es gab gemeine Versammlungen der einzelnen Landschaften und Seelande;
über allen stand die alljährlich am dritten Pfingsttag zusammentretende feierliche Versammlung von
Abgeordneten aller Friesen
am Upstallsboom (Obergerichtsbaum) unweit Aurich;
[* 18] hier wurde über Gegenstände von besonderer Wichtigkeit,
Krieg und Frieden, Änderung der Landrechte u. dgl., beschlossen. In kirchlicher
Beziehung waren die Friesen
dem Erzbischof von Bremen
[* 19] und den Bischöfen von Münster
[* 20] und Utrecht untergeben, aber auch dem Klerus gegenüber
behaupteten sie ihre Unabhängigkeit. So bestand die freie Landesverfassung während der ersten Hälfte des 13. Jahrh.
fort; nur die zwischen Weser und Jade wohnenden Stedinger, die gleichfalls dem Stamm der Friesen
angehörten, erlagen 1234 in der
Schlacht von Altenesch einem gemeinschaftlichen Angriff des Erzbischofs von Bremen, des Grafen von Oldenburg
und andrer Fürsten, und ihr Land ward mit Oldenburg vereinigt.
Allmählich aber kamen in den einzelnen Teilen Frieslands Häuptlinge oder Dynasten empor, und infolge der immerwährenden Fehden zwischen denselben einerseits und der fortgesetzten Angriffe von außen anderseits gingen im Lauf des 14. Jahrh. Eintracht und Freiheit zu Grunde. Die Verbindung zwischen Mittel- und Ostfriesland lockerte sich mehr und mehr; jeder von beiden Landesteilen ging seine eignen Wege. In Mittelfriesland fanden im 14. Jahrh. fortwährende Kämpfe zwischen den reichen Vetkoopers (Fetthändlern) im Ostergo und den ärmern Schieringern im Westergo, die ihren Namen von der Aalfischerei hatten (Frieslands Schieraal), statt; erstere holten oft bei den Groningern und den Grafen von Holland Hilfe, letztere suchten die alte Volksfreiheit aufrecht zu erhalten.
Trotzdem führten weder die Kriegszüge, welche namentlich Albrecht von Holland 1396-99 gegen die Friesen
unternahm, zu einer dauernden
Unterwerfung des Landes, noch gelang es Philipp von Burgund, seit er Holland in Besitz genommen hatte, seine
Ansprüche auf Friesland durchzusetzen; vielmehr wurde die Reichsunmittelbarkeit der Friesen
noch 1457 von Kaiser Friedrich III.
ausdrücklich anerkannt. Erst Herzog Albrecht von Sachsen, den Kaiser Maximilian zum Lohn für ihm geleistete Dienste
[* 21] zum erblichen
Reichsstatthalter in Friesland ernannt hatte, setzte 1498 die Anerkennung seiner Herrschaft durch und schlug
einen Aufstand, der sich gegen ihn erhob, mit beispielloser Grausamkeit nieder. 1523 ging die Erbstatthalterschaft an Kaiser
Karl V. über. Seitdem teilte Friesland die Geschicke der burgundisch-habsburgischen Niederlande,
[* 22] doch bewahrte seine innere
Verfassung noch immer Spuren der alten stolzen und trotzigen Freiheit; auch hatte die niederländische Provinz Friesland nebst
Groningen lange Zeit (1606-1747) besondere Statthalter aus einer Seitenlinie des oranischen Hauses, Nassau-Dietz.
Wesentlich anders und unabhängig davon hatten sich inzwischen die Geschicke von Ostfriesland gestaltet. Auch hier tobte das ganze 14. Jahrh. hindurch ein furchtbarer Kampf zwischen den einzelnen Häuptlingen, unter denen sich Focko Ukena und Ocko ten Brok besonders berühmt gemacht haben, bis endlich ein neuer »Bund der Freiheit« geschlossen und Edzard Cirksena zum Anführer gewählt wurde. Er stand in inniger Verbindung mit den Hamburgern, die damals in Ostfriesland sehr mächtig waren, und erlangte von ihnen die Abtretung der bis dahin von Hamburg [* 23] behaupteten Herrschaft über die schnell emporblühende Stadt Emden. [* 24] Auf ¶
mehr
Edzard I. (gest. 1441) folgte sein Bruder Ulrich, der vom Kaiser Friedrich III. 1454 zum Reichsgrafen erhoben und mit dem Land zwischen Ems und Weser, der Reichsgrafschaft Ostfriesland, erblich belehnt wurde. Nach Ulrichs Tod 1466 übernahm seine Witwe, Gräfin Theda, für ihre unmündigen Kinder die Regierung; ihr und ihrem Sohn Edzard II. gelang es allmählich, das Ansehen und die Macht der Grafen auch in den östlichen Bezirken, wie Ostringen und Rüstringen, immer mehr zur Geltung zu bringen; doch bestanden hier noch einige besondere Dynastien fort, z. B. in Harlingerland, das erst weit später mit Ostfriesland vereinigt wurde. Dagegen ging das Butjadingerland zwischen Weser und Jade den Grafen verloren; die Butjadinger wurden 1574 durch einen gemeinschaftlichen Heereszug der Herzöge von Braunschweig [* 26] und Lüneburg [* 27] und des Grafen von Oldenburg besiegt und dem letztern unterworfen. Als das Haus Cirksena mit dem Tode des Fürsten Karl Edzard erlosch, nahm Preußen [* 28] auf Grund einer 1694 erhaltenen Anwartschaft Besitz von Ostfriesland (s. d.).
Vgl. außer den ältern Werken von Ubo Emmius (1616), Pirius Winsemius (1622), Sjoerd Pietar (1698), P. Thaborita (»Historie van Friesland«, hrsg. im »Archief voor vaterlandsche en inzonderheit Vriesche Geschiedenis«, Leeuw. 1824): Wiarda, Ostfriesische Geschichte (Bd. 1-9, Aurich 1791 bis 1813; Bd. 10, Brem. 1817);
de Crane, Gesta Frisonum (Workum 1837);
Element, Lebens- und Leidensgeschichte der
Friesen
(Kiel
[* 29] 1845);
Suur, Geschichte der Häuptlinge Ostfrieslands (Emden 1846);
O. Klopp, Geschichte Ostfrieslands (Hannov. 1854 bis 1858, 3 Bde.);
Perizonius, Geschichte Ostfrieslands (Weener 1868-69, 4 Bde.);
Leding, Die Freiheit der Friesen
im Mittelalter (Emden
1878);
Hooft van Iddekinge, Friesland en de Friezen in de middeleeuwen (Leiden [* 30] 1881);
»Friesisches Archiv«, herausgegeben von Ehrentraut (Oldenb. 1847-54, 2 Bde.);
E. Friedländer, Ostfriesisches Urkundenbuch (Emden 1874-80, 2 Bde.);
die Zeitschrift »De vrije Fries« (Leeuw. 1839 ff.).
Eine geographische Übersicht gibt Ledebur, Die fünf Münsterschen Gaue und die sieben Seelande Frieslands (Berl. 1835).