Frère
-Orban
(spr. frähr-orbāng),
Hubert
Joseph
Walther, belg. Staatsmann, geb. zu
Lüttich,
[* 2] widmete sich
in
Paris
[* 3] dem
Studium der
Rechte, ließ sich 1832 in seiner Vaterstadt als
Advokat nieder und vermählte sich mit dem reichen
Fräulein Orban
, von
dem er die zweite Hälfte seines
Namens annahm. Nachdem er sich bereits 1842 als Mitglied
der gegen die katholischen Ministerien gegründeten liberalen
Gesellschaft
Union, 1846 als
Abgeordneter der
Lütticher
Association
libérale auf dem
Brüsseler liberalen
Kongreß sowie als Mitredakteur des
»Journal de
Liége« und einflußreiches Mitglied der
städtischen
Verwaltung
Lüttichs einen geachteten
Namen erworben, ward er im Juni 1847 von der liberalen
Partei in die
Kammer gewählt und übernahm nach dem
Sturz des katholischen
Kabinetts de
Theux in dem am 12. Aug. gebildeten
Ministerium
Rogier das
Portefeuille der öffentlichen
Arbeiten, verwaltete bis Juni 1852 das der
Finanzen und
begegnete der Finanzkrisis nach 1848 glücklich durch Einführung einer
Erbschaftssteuer und
Gründung der belgischen
Nationalbank.
Er widmete nun mehrere Jahre der Ausarbeitung seines Werkes »La main-morte et
la charité«
(Brüssel
[* 4] 1854-57, 2 Bde.) und nahm, als 1857 das
Ministerium
Dedecker jene
Frage durch
Vorlage eines
¶
mehr
Wohlthätigkeitsgesetzes nach den Wünschen der klerikalen Partei vor die Kammer brachte, an den Debatten so erfolgreichen Anteil,
daß die Vorlage und mit ihr das Ministerium fiel und er wieder das Portefeuille der Finanzen übertragen erhielt. Mit einer kurzen
Unterbrechung im J. 1861 blieb Frère
-Orban
im Ministerium bis 1870 und erhielt 1868 nach Rogiers Rücktritt auch
das Präsidium desselben. Die Finanzen verwaltete er vortrefflich und wußte für die stets wachsenden Bedürfnisse und auch
für besondere Ausgaben, wie Bauten, Ablösung des Scheldezolls und Aufhebung des städtischen Oktrois, stets die erforderlichen
Mittel zu beschaffen.
Als Haupt der Regierung brach er 1869 auf sehr geschickte Weise dem Versuch Frankreichs, durch einen Vertrag
der Ostbahn mit einem Teil der belgischen Bahnen die letztern in die Hand
[* 6] zu bekommen, die Spitze ab und fertigte Frankreich
mit geringen Konzessionen ab, ohne doch einen Bruch herbeizuführen. Doch ward das Kabinett Frère
-Orban
durch die Neuwahlen im Juni 1870 gestürzt
und mußte dem klerikalen Ministerium d'Anethan Platz machen. Als die Liberalen endlich 1878 bei den Wahlen
siegten, übernahm Frère
-Orban
wieder die Bildung eines liberalen Kabinetts, das 21. Juni zu stande kam, und versuchte sofort durch ein
neues Unterrichtsgesetz 1879 die Macht des Klerus zu brechen. Er scheute sich nicht, als die römische
Kurie, welche die widerspenstige Haltung der belgischen Geistlichkeit zu mäßigen versprochen, sich zweideutig zeigte, 1880 den
diplomatischen Verkehr mit ihr abzubrechen. Dennoch vermochte er die radikalen Elemente in der liberalen Partei nicht zu befriedigen
und stieß dieselben durch seine Weigerung, das allgemeine Stimmrecht in Belgien
[* 7] einzuführen, von sich
ab, so daß ein Zwiespalt unter den Liberalen entstand, welcher deren Niederlage bei den Wahlen 1884 und damit auch den Sturz
des Ministeriums Frère
-Orban
zur Folge hatte.