Freie
Gemeinden, religiöse Gemeinschaften, die sich von den bestehenden protestantischen Landeskirchen losgesagt und selbständig konstituiert haben. So besonders in Preußen, [* 2] wo seit Friedrich Wilhelms IV. Thronbesteigung die pietistisch-orthodoxe Partei durch ihren Anspruch, in der protestantischen Kirche Alleinberechtigung zu üben, eine Reaktion hervorrief, deren erstes Stadium das Auftreten der Lichtfreunde oder, wie sie sich selber nannten, der Protestantischen Freunde bezeichnet.
Den Anstoß dazu gab die Maßregelung des
Predigers
Sintenis zu
Magdeburg,
[* 3] welcher gegen die
Anbetung
Christi
gesprochen hatte, und eine infolgedessen von dem
Prediger
Uhlich (s. d.) und 15 andern
Geistlichen zu
Gnadau abgehaltene
Konferenz
Dieser freie
Verein für vernunftgemäßes, praktisches
Christentum wuchs bald zu
Volksversammlungen an, welche
Uhlich geschickt zu leiten verstand. Auch Anhänger der jetzt in
Preußen zurückgesetzten Hegelschen
Philosophie
schlossen sich an. Auf der von gegen 3000 Gesinnungsgenossen besuchten Frühlingsversammlung zu
Köthen
[* 4] (1844) warf
Wislicenus
(s. d.) die
Frage auf, ob die
Heilige Schrift noch die
Norm unsers
Glaubens sei, und entschied ausschließlich zu gunsten des
in der Menschheit, insbesondere der christlichen, fort und fort lebendigen
Geistes der
Wahrheit und
Liebe,
der auch die
Heilige Schrift wesentlich hervorgebracht habe,
Ansichten, die er in seinem
Buch »Ob
Schrift, ob
Geist?« (1.-4. Aufl.
1845) weiter ausführte.
Dagegen trat Professor Guericke in Halle in [* 5] der »Evangelischen Kirchenzeitung« auf, indem er die Lichtfreunde als vom Christentum gänzlich Abgefallene behandelte; die Regierungen von Preußen und Sachsen [* 6] schritten mit Maßregeln gegen ihre Versammlungen ein, und Wislicenus wurde wegen öffentlich ausgesprochener »unchristlicher« Ansichten 1846 seines Amtes entsetzt. Dies veranlaßte eine Protestbewegung durch alle preußischen Provinzen, welche in einer Eingabe des Berliner [* 7] Magistrats an den König vom gipfelte, worin, als dem Charakter des Protestantismus entsprechend, vollkommene Freiheit der Forschung und der Mitteilung auf religiös-kirchlichem Gebiet beansprucht wurde.
Der König antwortete die Einmischung zurückweisend, die damit verbundene
Anklage gegen die
»Evangelische Kirchenzeitung«
rügend. In der
Provinz und im
Königreich
Sachsen folgten jetzt Versammlungen auf Versammlungen. Die wachsende
Teilnahme des
Volkes an kirchlichen
Erörterungen, die sich notwendig vielfach mit politischen
Fragen verbinden mußten,
erschien bald den
Regierungen bedenklich, und so wurden die Versammlungen 1845 zuerst in
Sachsen, dann auch in
Preußen verboten.
Inzwischen (1846) entstanden in freie Gemeinden
Königsberg
[* 8]
(Rupp) und
Halle (G. A.
Wislicenus), ferner (1847) in
Marburg
[* 9]
(Bayrhoffer),
Nordhausen
[* 10] (Eduard
Baltzer),
Halberstadt
[* 11] (E.
Wislicenus) und in
Magdeburg, nachdem
Uhlich aus der
Kirche gestoßen war.
Diese Freien Gemeinden
erlangten durch das
¶
mehr
königliche Patent vom in Preußen freie
Religionsübung. Während des Jahrs 1848 spielten die Führer der Protestantischen Freunde
eine hervorragende Rolle; Uhlich, Baltzer, Wislicenus saßen im Frankfurter Parlament, die Zahl der Gemeinden belief sich auf 40. Mit
dem Eintreten der politischen Reaktion wurde die religiöse Bewegung noch lebhafter, indem sich die Demokratie
an das Frei-Gemeindetum offen anschloß, und bald richtete sich die immer heftiger werdende und immer mehr auf das politische
Gebiet hinübergreifende Polemik gegen das Christentum selbst.
Nachdem 1849 auf einer Konferenz zu Halberstadt eine Vereinigung mit den Deutschkatholiken (s. d.) angebahnt worden war, kam
dieselbe auf einer 1850 in Leipzig
[* 13] begonnenen und wegen einzelner Ausweisungen in Köthen fortgesetzten
Versammlung wirklich zu stande. Als Grundbekenntnis wurde aufgestellt: »Ich glaube an Gott und sein ewiges Reich, wie es von
Jesus Christus in die Welt eingeführt wurde«. Aber die aus dieser Vereinigung hervorgegangene »Religionsgesellschaft
freier
Gemeinden« fand in Deutschland
[* 14] wenig Anklang, weil man glaubte, daß sie weniger religiöse als
politische Zwecke verfolge.
Daher schritten seit 1850 die Regierungen der meisten deutschen Staaten gegen die Freien Gemeinden
ein; in Bayern
[* 15] wurde die Gültigkeit
ihrer Taufe nicht anerkannt, in Hessen
[* 16] untersagte man das Auftreten der Reiseprediger, in Sachsen wurden die Freien Gemeinden
aufgelöst und verboten, in Preußen bekämpfte man sie mit allen gesetzlichen Mitteln. So wurden dieselben,
auch infolge innerer Streitigkeiten, immer schwächer; 1859 schlossen sich 54 Gemeinden zu Gotha
[* 17] zu einem Bund freireligiöser
Gemeinden zusammen, welche als ihren ersten Grundsatz die freie
Selbstbestimmung in allen religiösen Angelegenheiten anerkannten.
Jedes dritte Jahr sollte eine Bundesversammlung stattfinden; auf der elften, am 9.-11. Juni 1885 zu Braunschweig [* 18] abgehaltenen waren 100 Gemeinden und Vereine in Deutschland vertreten. S. Freidenker. Freidenkerische und freireligiöse Zeitschriften sind: das »Menschentum« (Gotha, Organ des Deutschen Freidenkerbundes),
»Es werde Licht« [* 19] (Nürnb.),
»Bundesblätter« (Wiesb.),
»Morgenröte« (Offenbach), [* 20]
»Freireligiöses Sonntagsblatt« (Magdeb.),
»Neue religiöse Reform« (Darmst.),
»Reformblätter« (Königsb.),
»Gib's weiter« (Magdeb.) und der »Freidenkeralmanach« (hrsg. von Specht, Gotha, seit 1872).
Aus ganz entgegengesetzten Gründen, weil ihnen die Landeskirche nicht bekenntnismäßig genug schien, haben strenge Lutheraner in Preußen, Sachsen, Hessen, Hannover, [* 21] Schweden [* 22] Freikirchen gebildet. Namentlich aber war dies in der reformierten Kirche der Fall; die 1834 entstandene streng calvinistische »reformierte Freikirche« in Holland zählt über 120,000 aktive Mitglieder. In Schottland trennte sich die »freie Kirche« (Free Church of Scotland) von der Staatskirche (s. Schottische Kirche).
Gleichzeitig kam es zur Bildung von strenggläubigen Freikirchen in der Schweiz, [* 23] so in Genf [* 24] (s. Momiers), Bern, [* 25] Neuchâtel, besonders aber im Waadtland (s. d.), und seit 1848 auch in Frankreich, wo die Führer der Orthodoxie, Graf Gasparin und Friedrich Monod, eine der schottischen und waadtländischen nachgebildete freie Kirche errichteten, die in Pressensé und Roger Hollard begabte Prediger, in Waddington einen berühmten Anhänger auf dem Gebiet der Wissenschaft und der Politik besitzt.
Eine ganz anders geartete Erscheinung endlich bietet die »freie Kirche« der italienischen Protestanten. Nachdem 1848 die Waldenser in Piemont Duldung errungen hatten, bildete sich um den Advokaten Mazzarella eine Gemeinde, welche nach der 1854 vollzogenen Trennung von den Waldensern der Grundstein für eine eigentümlich italienische Form des Protestantismus wurde. Auch De Sanctis (s. d.) hielt sich zehn Jahre lang dazu. Die sektiererische Gefahr, die ihn zu den Waldensern zurücktrieb, wurde beschworen von dem ehemaligen Barnabitenpater und Feldkaplan Garibaldis, Alessandro Gavazzi, unter dessen Einfluß die Generalversammlungen von Mailand [* 26] (1870) und Florenz [* 27] (1871) sich ein Glaubensbekenntnis und eine Verfassung gaben (Unione delle chiese libere in Italia), während die darbystisch gesinnten Elemente wieder eine besondere Freigemeinde bildeten (Chiesa cristiana libera). -
Mehr an die Freien Gemeinden
in Deutschland erinnert die 1867 durch Anregung von M. Freie Gemeinden
E. Abbot aus dem amerikanischen Unitarismus
hervorgegangene Free religious Association.