Flußverunr
einigung.
Eine der wichtigsten und schwierigsten Aufgaben der öffentlichen Gesundheitspflege ist die rasche und möglichst vollkommene Entfernung des Unrats aus der Nähe der menschlichen Wohn- und Arbeitsstätten. Die bequemste und billigste Art der Beseitigung ist die der Einleitung in den nächstgelegenen öffentlichen Wasserlauf. In der That wird auch der größte Teil alles Unrats (Hausabwässer und gewerbliche Abwässer) den Flüssen und Bächen zugeführt, ja Industrieanlagen werden zu diesem Zwecke absichtlich an Flüssen angelegt.
Mit der Zunahme der Bevölkerungsdichtigkeit, vorzüglich aber durch das Wachstum der
Städte und die
lokale Anhäufung einzelner Industriezweige (z. B. der
Textilindustrie in
Sachsen)
[* 2] hat sich die Menge der
Abwässer, die den
Flüssen zugeleitet werden, bedeutend vermehrt, und durch die beträchtlichen Mengen von Unrat sind einzelne Flußläufe
in hohem
Grade verunreinigt worden. Eine Reihe von wirtschaftlichen und gesundheitlichen Interessen ist durch diese Frage
der Flußverunr
einigung berührt worden.
Die ersten Erscheinungen starker Flußverunr
einigung haben sich in den fünfziger Jahren in dem dichtbevölkerten
und industriereichen England gezeigt. Am fühlbarsten wurde die Verunreinigung der
Themse, die allen Unrat
Londons noch innerhalb
der Stadt in sich aufnahm, ihn aber wegen des Einflusses der Ebbe und
Flut nur ganz allmählich weiter
befördern konnte. Der durch die faulenden
Stoffe im Themsewasser und in den Schlammbänken erzeugte Gestank war so unerträglich,
daß wiederholt die Sitzungen des Parlaments in dem der
Themse nahe gelegenen
Gebäude abgebrochen werden mußten. Ähnliche,
zum
Teil sogar schlimmere Verhältnisse boten der Irwell, der die
Abwässer von Manchester
[* 3] aufnahm, der
Irk, Mersey, Ribble u. a. dar, wie aus dem
Bericht der River
Pollution Commission von 1868 zu ersehen ist.
Ebenso unerträglich wurden einige Jahre später die Zustände der Seine bei Paris, [* 4] als der Hauptsammelkanal von Clichy seinen Inhalt in die Seine ergoß. Nach dem Bericht der franz. Regierungskommission vom J. 1874 wälzte sich die Seine nach Einmündung des Kanals als grau-schwarzer, an der Oberfläche mit Fettaugen, Haaren, Tierleichen bedeckter Strom dahin; ein grauer, in voller Zersetzung und Gärung befindlicher Schlamm häufte sich am rechten Ufer an. Alles Leben, pflanzliches wie tierisches, war hier erloschen.
Auch in
Deutschland
[* 5] haben sich Fälle von Flußverunr
einigung bemerkbar gemacht, insbesondere in
Sachsen, in Westfalen
[* 6] und
der Rheinprovinz.
[* 7] Berüchtigt sind namentlich die Zustände der Wupper und der Leine.
Erhebungen über die
Ursachen der Flußverunr
einigung in
Sachsen haben ergeben, daß weitaus am häufigsten die Beschaffenheit der gewerblichen Schmutzwässer die
Ursache der Flußverunr
einigung ist,
nicht aber der aus den
Exkrementen der
Menschen bestehende
Teil des Unrats, der nur in 7 Proz. aller Fälle
Veranlassung zu Klagen gab.
Trotzdem ist man in Fachkreisen noch immer geneigt, die Einleitung der menschlichen Fäkalien in die
Flüsse
[* 8] als eine der
Hauptquellen der Flußverunr
einigung und gerade als die gefährlichste zu betrachten; bestärkt
wurde man in dieser
Anschauung durch die
Furcht vor den
Bakterien, deren krankheiterregende
Arten nur zu leicht durch die öffentlichen
Wasserläufe verschleppt werden könnten. Nach von
Pettenkofer haben aber die genauesten Forschungen nirgends Anhaltspunkte
dafür ergeben, daß durch
Flüsse, die Fäkalien aufgenommen haben,
Epidemien oder
Krankheiten überhaupt verbreitet wurden.
Im Gegenteil hat in neuester Zeit
Hans
Büchner nachgewiesen, daß krankheiterregende
Bakterien im Flußwasser
unter dem Einfluß des
Tageslichts sehr schnell zu
Grunde gehen.
Eine Ausnahme machen nach
Koch die
Cholerabacillen,
[* 9] die, wenn sie mit den Fäkalien in fließende
Gewässer gelangen, unter
Umständen sich längere Zeit lebenskräftig erhalten und die Seuche weiter verbreiten können, weshalb
bei der Choleraepidemie in
Hamburg
[* 10] 1892 von seiten des
Reichs eine strenge strompolizeiliche Überwachung der
Elbe und ihrer
Zuflüsse angeordnet wurde. Hauptursache der Flußverunr
einigung sind Fabrikanlagen, die viel organische
Stoffe enthaltende
Abwässer in die
Flüsse laufen lassen, vor allem
Stärke-, Zucker-, Leimfabriken, Wollwäschereien,
Brennereien,
Brauereien u. a.
Unter dem ersten Eindruck der erwähnten Mißstände hat man allerorts sich bestrebt, durch Gesetze die Flußverunreinigung
zu
beseitigen und zu verhüten; in England sind zuletzt durch die Flußreinigungsakte von 1886 die
Bedingungen, unter denen
Abwässer
in die öffentlichen Flußläufe eingeleitet werden dürfen, geregelt worden. In andern
Staaten, z. B. in
Preußen,
[* 11] ist man so weit gegangen, auf
Grund eines Gutachtens der königl. wissenschaftlichen Deputation für das Medizinalwesen
die Einleitung von
Abwässern in ungereinigtem Zustande, namentlich aber die Einleitung der Fäkalien in
Flüsse ganz allgemein
für unzulässig zu erklären.
Eine derartige allgemeine Bestimmung birgt entschieden große Ungerechtigkeiten in sich. Nicht jeder
Fluß
wird durch die ihm zugeführten
Abwässer verunreinigt. Es giebt
Flüsse, in die seit Jahrzehnten ununterbrochen der Unrat
eines ganzen
Landes, wie z. B. in den
Nil, gelangt, ohne daß jemals eine Flußverunreinigung
zu stande kommt. Der
Tiber hat jahrhundertelang
die Schmutzwässer der Stadt
Rom
[* 12] aufgenommen, ohne daß das Wasser eine sichtbare Verunreinigung erfahren
hat. Es rührt dies davon her, daß jeder
Fluß die Fähigkeit hat, einen großen
Teil des Unrats zu verarbeiten, sich gewissermaßen
selbst wieder zu reinigen. Notwendigerweise muß der
Fluß zur Selbstreinigung eine genügende Länge sowie eine entsprechende
Wassermenge und
Bewegungsgröße haben. übrigens kann auch ein
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mehr
hochgradig verunreinigter Fluß, wenn ihm nur eine gewisse Zeit zur Reinigung gelassen wird, sich wieder völlig reinigen,
wie die Seine beweist, die bei Meulan, 70 km unterhalb Paris, wieder reines Wasser führt. Seit längerer Zeit hat man sich
bemüht, festzustellen, wie viel Unrat man einem Flusse übergeben darf, ohne seine selbstreinigende Kraft
[* 14] zu überschreiten. Pettenkofer ist der Ansicht, daß eine Flußverunreinigung
dann nicht zu befürchten ist, wenn die Wassermenge des Flusses
mindestens fünfzehnmal so groß als die Abwässermenge ist, ferner wenn die Stromgeschwindigkeit im Fluß nicht geringer
ist als die in den Abwässerkanälen, weil sonst Gelegenheit zur Ablagerung und Schlammbildung gegeben
ist.
Reicht die selbstreinigende Kraft des Flusses nicht aus, ist er wegen zu geringer Geschwindigkeit, zu geringer Wassermenge u. s. w. in Gefahr, dauernd verunreinigt zu werden, so dürfen die Abwässer ihm nur im gereinigten Zustand, nachdem sie durch Filter-, Klär- und Rieselanlagen gegangen sind, übergeben werden. Diese Ansicht von Pettenkofers hat auch der Deutsche [* 15] Verein für öffentliche Gesundheitspflege sich zu eigen gemacht, und nach diesem Grundsatz ist das Reichsgesundheitsamt in einigen Fällen, wo es sich um Begutachtung der Zulässigkeit direkter Einleitung von Abwässern in öffentliche Wasserläufe handelte, verfahren.