Ferrara
,
[* 3] einst ein selbständiges ital. Herzogtum, dann eine
Delegation des
Kirchenstaats, gegenwärtig
eine der
Provinzen der
Emilia im
Königreich
Italien,
[* 4] die nördlich an die
Provinz
Rovigo (durch den
Po davon getrennt), östlich
an das
Adriatische Meer, südlich an die
Provinzen
Ravenna und
Bologna, westlich an
Modena grenzt und, in 3
Kreise
[* 5] (Ferrara
,
Comacchio
und
Cento) geteilt, ein
Areal von 2627 qkm (47,7 QM.) umfaßt.
Das Land ist größtenteils niedrig und wird vom
Po und mehreren südlichen
Armen desselben
(Po di Goro,
Po di Volano,
Po di Primaro
etc.), von den Zuflüssen der letztern, wie
Panaro,
Reno etc., sowie von zahlreichen behufs
Entwässerung des
Landes mit großen
Kosten angelegten
Kanälen durchschnitten.
Gleichwohl ist das Land noch vielfach sumpfig (namentlich durch die großen Valli di Comacchio) und hat infolgedessen auch teilweise ein ungesundes Klima. [* 6] Die Bevölkerung [* 7] beläuft sich auf (1881) 230,807 Seelen. Der Boden ist sehr fruchtbar und liefert insbesondere Getreide, [* 8] Hanf, Reis, Wein. Auch Seidenkultur, Viehzucht, [* 9] Fischerei [* 10] und Salzgewinnung [* 11] werden betrieben; Holz [* 12] mangelt. Die Industrie ist nur in der Hauptstadt in Cento und Comacchio von einiger Bedeutung. Exportartikel sind namentlich: Weizen, Hanf, Salz [* 13] und Fische. [* 14]
Die gleichnamige Hauptstadt, in tiefer Sumpfebene, links an einem
Arm des
Po
(Po di und an der von
Florenz
[* 15] über
Bologna nach
Padua
[* 16] führenden
Eisenbahn gelegen, nur 2,4 m über dem 50 km entfernten
Meer, macht den
Eindruck tiefen
Verfalls, da auf der weiten bebauten
Fläche nur eine verhältnismäßig geringe
Bevölkerung wohnt. Ferrara
ist nächst
Turin
[* 17] die
regelmäßigste und eine der schönsten
Städte von Oberitalien,
[* 18] mit
Mauern,
Gräben und
Bastionen umgeben, auch durch eine
Citadelle
verstärkt,
Befestigungen, die aber der jetzigen
Kriegskunst nicht mehr entsprechen und nicht im stande
sind, den wichtigen Po-Übergang zu decken.
Die Hauptstraße ist der ungefähr 3000
Schritt lange Corso, der die Stadt von der
Porta
Po (im W.) bis zur
Porta
Mare (im O.)
durchschneidet und mit zahlreichen
Palästen geschmückt ist. Unter den öffentlichen
Plätzen zeichnet
sich die
Piazza Ariostea, mit einer
Statue des Dichters, aus. Unter den
Kirchen sind die bemerkenswertesten: der
Dom (aus dem 12. Jahrh.),
teils im romanischen, teils im gotischen
Stil (mit spätern Umbauten im Renaissancestil), reich an trefflichen Bildern und
Fresken von
Garofalo (dem vorzüglichsten
Maler Ferraras
),
Guercino, Sebastiano
Filippi etc. und andern Kunstwerken
(darunter prachtvolle Bronzeskulpturen von
Niccolò und
Giovanni Baroncelli u. a.);
ferner die dreischiffige Kirche San Francesco (im Renaissancestil, 1494-1530);
die Kirche San Benedetto, aus welcher die dort beigesetzten Gebeine Ariosts 1801, als die Franzosen die Kirche in ein Magazin verwandelten, in den großen Saal der öffentlichen Bibliothek übertragen wurden;
die mächtige Säulenbasilika Santa Maria in Vado und die uralte, jetzt modernisierte Kirche San Giorgio vor der Porta Romana, die bis 1135 Kathedrale war.
Unter den weltlichen Gebäuden behauptet das Castello, der alte herzogliche Palast, im gotischen Stil (aus dem 14. und 15. Jahrh.), mit vier gewaltigen Ecktürmen besetzt und von einem breiten und tiefen Graben umzogen, den ersten Platz. Er wurde von Nikolaus von Este erbaut, später, nachdem 1554 eine Feuersbrunst den größten Teil des Innern verzehrt hatte, durch Giordano da Carpi erneuert. Diese ehemals hochberühmte Residenz des Hauses Este, die durch Tasso, Ariost, Michelangelo, Dosso Dossi u. a. geweiht ist, diente früher als Residenz des päpstlichen Legaten und wird jetzt als Verwaltungsgebäude benutzt.
Andre hervorragende Gebäude sind: der Palazzo Comunale, der erste Sitz der Este;
der gotische Palazzo della Ragione (Justizpalast), der Palazzo Scroffa, der Palazzo Roverella, das Studio Pubblico oder Universitätsgebäude, der Palazzo dei Diamanti (1493 erbaut), seit 1842 mit der Gemäldesammlung des Ateneo Civico (s. unten), und das Theater. [* 19] Im St. Annenhospital ist die Zelle, [* 20] in welcher Tasso sieben Jahre lang als angeblich Wahnsinniger gefangen saß;
auch das Haus Ariosts und das des Dichters Guarini sind noch erhalten.
Ferrara
, das im 16. Jahrh. über 100,000 Einw.
zählte, hat (1881) mit Einschluß der Vorstädte
San
Luca und
San Giorgio nur eine
Bevölkerung von 30,695
Seelen. Von höhern
Bildungsanstalten besitzt es eine
Universität (s. unten), ein
Lyceum,
Gymnasium, eine technische und eine Musikschule. Die
von
Kaiser
Friedrich II. gestiftete, 1402 von
Nikolaus III. erweiterte, zur französischen Zeit aufgehobene, 1824 wiederhergestellte
freie
Universität umfaßt drei
Fakultäten (juristische, medizinisch-chirurgische, mathematisch-naturwissenschaftliche),
Kurse
für
Notare,
Tierärzte und
Hebammen und sonstige
Institute.
Die Zahl der Studenten ist jetzt gering (ca. 50). Die dazu gehörige Bibliothek, welche zu den größten und interessantesten Italiens [* 21] zählt, wurde zwar erst 1746 gegründet, aber zugleich. durch die reiche Sammlung des Kardinals Bentivoglio vermehrt. Sie enthält gegen 100,000 Bände, seltene Inkunabeln und ca. 1000 Manuskripte, darunter Autographen von Ariost, Torquato Tasso, den »Pastor fido« von Guarini etc. Die Sala Ariostea enthält das Marmormonument Ariosts mit seinen Überresten und andre Ariost-Reliquien.
Außer der
Bibliothek sind noch hervorzuheben: das Domarchiv und das Stadtarchiv. Von den
Kunstsammlungen
steht die
Pinakothek oder die Gemäldesammlung des Ateneo Civico, welche neun
Säle des Hauptgeschosses vom
Palazzo dei Diamanti
füllt, obenan. Sie bietet besondere Gelegenheit, die beiden Hauptmeister der ferraresischen
Malerschule,
Garofalo und
Dosso Dossi,
kennen zu lernen. Ferrara
ist der Sitz des
Präfekten, eines
Erzbischofs, eines
Zivil- und Korrektionstribunals,
eines Assisenhofs, eines Handelsgerichts, einer Finanzintendanz und einer
Handelskammer. 24 km von Ferrara
liegt die
Villa Belriguardo,
bei
Goethe der Schauplatz der
Liebe
Tassos zu Leonore von
Este. Ferrara
ist Geburtsort des
Reformators
Savonarola, des Dichters
Guarini
u. a.
Geschichte. Ferrara
, eine altrömische
Kolonie, war schon frühzeitig, seit der ersten Hälfte des 4. Jahrh.,
als Sitz eines
Bischofs und Hauptort des
Bistums Ferrara
ausgezeichnet.
In den
Zeiten der
Völkerwanderung hatte es von den durch
Nord-
und Mittelitalien herabziehenden Germanenstämmen als offener
Ort manche Unbill zu erdulden. Erst 604 erhielt es
Mauern zur
Verteidigung gegen die
Langobarden. Es gehörte zum
Exarchat, bis es 757 eine Zeitlang unter päpstliche Herrschaft kam.
Später
erhob es sich faktisch zur Selbständigkeit, wenngleich es nominell im 11. Jahrh. die
Oberhoheit des
Markgrafen Bonifaz von
Tuscien und nach ihm die seiner Tochter
Mathilde, der »großen Gräfin«, bis zu deren
Tod (1115)
¶
mehr
anerkannte. Wie in den meisten andern Kommunen Ober- und Mittelitaliens, rangen seit dieser Zeit auch hier zwei Adelsfraktionen um die Herrschaft. An ihrer Spitze standen die beiden mächtigsten Familien der Gegend, die Salinguerra Torelli und die Adelardi, die ihren Einfluß dadurch befestigten, daß sie das Kapitanat des Volkes, die oberste Exekutivbehörde der Kommune neben dem Rat oder Consiglio, längere Zeit hindurch zu behaupten wußten. Von diesen vertraten die Torelli das ghibellinische oder kaiserliche, die Adelardi das guelfisch-päpstliche Interesse.
In dem Kampfe Friedrich Barbarossas gegen die Kommunen stand Ferrara
auf der Seite der letztern und war Mitglied des lombardischen
Städtebundes. Dieser Umstand begründete für längere Zeit das Übergewicht der guelfischen Adelardi,
die bald auch das Podestat der Stadt, d. h. die mit weitreichenden Befugnissen ausgestattete
oberste Administrativ- und richterliche Würde, erlangten. Gegen Ende des 12. Jahrh. errang die auf Herzog Wels ihren Ursprung
zurückführende Familie der Este den größten Einfluß auf die Leitung der städtischen Angelegenheiten
und behauptete denselben durch weise Förderung der städtischen Interessen wie durch Unterwerfung des umliegenden Gebiets
unter das Gebot der Stadt.
Während der Kämpfe Friedrichs II. mit der Kirche und den Kommunen trat Ferrara
auf Seite des erstern und vertrieb den Guelfen Azzo
von Este, wurde aber von diesem 1240 wieder unterworfen und nach Bezwingung der ghibellinischen Torelli
seitdem ständig von den Este behauptet, erst als Podestas und Kriegsführern, dann als faktischen Oberherren, die bald den
Titel Markgrafen von Ferrara
annahmen. 1329 ward Aldobrandino II. von Este vom Papst mit dem Vikariat Ferrara
belehnt. 1471 erhob Paul
II. den Markgrafen Borso zum erblichen Herzog von und die Este schlugen nun ihre Residenz in Ferrara
auf, das sie zu einem glänzenden
Fürstensitz umschufen. (Weiteres s. Este.) Beim Erlöschen des Hauptstammes der Este mit Alfons II. (1597) zog Clemens VIII.
das Herzogtum als erledigtes Lehen ein und schlug es zum Kirchenstaat. Im Januar 1438 wurde hier von Eugen
IV. ein Konzil zur Wiedervereinigung der griechischen mit der römischen Kirche eröffnet, dem Kaiser Michael IV. Paläologos
persönlich beiwohnte, das indes, im Januar 1439 nach Florenz verlegt, erst dort zum gewünschten Abschluß gedieh. 1735 erhob
Papst Clemens XII. das Bistum Ferrara
zu einem Erzbistum.
Von 1796 an, wo Ferrara
von den Franzosen eingenommen wurde, bildete es erst einen Teil der Cisalpinischen Republik, dann (von 1805 bis
1814) des Königreichs Italien, kam aber durch den Wiener Kongreß bis auf den im Norden
[* 23] des Po liegenden und mit dem Lombardisch-Venezianischen
Königreich vereinigten Teil wieder unter die Herrschaft des Papstes. Die Österreicher erhielten das Besatzungsrecht
in der Citadelle von und hielten dieselbe mit einer kurzen Unterbrechung 1849-1859 besetzt. Nach dem Abzug der Österreicher
nach der Schlacht bei Magenta riß sich Ferrara
1859 vom Kirchenstaat los und wurde nebst der Romagna mit dem
Königreich Italien vereinigt.