Titel
Expropriation
(lat.,
Enteignung,
Zwangsenteignung,
Zwangsabtretung), das
Verfahren, durch welches jemand im
Interesse des
öffentlichen Wohls genötigt wird, ein ihm zustehendes
Recht gegen
Entschädigung an den
Staat
oder an eine von der zuständigen
Behörde dazu ermächtigte
Person abzutreten. Der Gegenstand der Expropriation
ist allerdings vorzugsweise das Eigentumsrecht
an
Grundstücken, doch können auch sonstige
Berechtigungen an
Immobilien, wie
Servituten, und auch
Mobilien »expropriiert« werden;
so z. B.
Getreide
[* 3] bei einer
Hungersnot,
Pferde
[* 4] bei einer
Mobilmachung, ebenso
Baumaterialien etc. Insofern nun hierbei der
Eigentümer
oder sonstige Berechtigte zu einer
Veräußerung der ihm zugehörigen
Sache oder zur Aufgabe eines
Rechts
gezwungen wird, liegt allerdings ein
Eingriff in dessen Rechtssphäre vor, der nur durch die Rücksicht auf die öffentliche
Wohlfahrt, welcher sich das
Interesse des Einzelnen unterordnen muß, gerechtfertigt erscheinen kann.
Namentlich ist dem
Staate das
Recht nicht abzusprechen, zur Erreichung des Staatszwecks und im staatlichen
Interesse über das
Privateigentum seiner
Bürger zu verfügen (sogen.
Staatsnotrecht), auch die Ausübung dieses
Rechts auf
Rücksichten des öffentlichen Wohls auf
Gemeinden, Erwerbsgenossenschaften, Unternehmer und sonstige
Privatpersonen zu
übertragen.
Auf der andern Seite erheischt es die
Billigkeit, daß der von einer Expropriation
Betroffene (der Expropriat) von dem Expropriierenden
(dem Exproprianten) vollständig entschädigt werde.
Obgleich schon den
Römern eine
Zwangsenteignung, namentlich bei Anlegung eines öffentlichen Wegs, bekannt
war, so ist doch das Rechtsinstitut der Expropriation
im gemeinen deutschen
Recht zu einer wirklichen
Ausbildung nicht gelangt, sondern
erst die neuere und neueste Zeit mit ihrem großartig entwickelten Verkehrsleben hat eine solche im Weg der Partikulargesetzgebung,
namentlich im Anschluß an das französische
Gesetz vom herbeigeführt. So ist es denn gekommen,
daß die einzelnen deutschen
Staaten auf diesem Gebiet eine zwar sehr ins
Spezielle gehende, aber keineswegs einheitliche
Gesetzgebung
haben.
Doch ist wenigstens für den preußischen
Staat, in welchem zuvor neben den Bestimmungen des allgemeinen
Landrechts,
der Verfassungsurkunde und der
Berg- und
Eisenbahngesetzgebung in den
Rheinlanden das französische
Recht und in den neuerdings
annektierten
Provinzen die dortige Partikulargesetzgebung in Geltung gewesen war, durch das
Gesetz über die
Enteignung von
Grundeigentum vom eine Rechtseinheit in dieser Beziehung hergestellt worden. Von den dermalen geltenden gesetzlichen
Bestimmungen über die Expropriation
sind folgende hervorzuheben.
Was nämlich 1) die zwangsweise Abtretung anbelangt, so kann ein derartiger
Eingriff in die Privatrechtssphäre und in die
Freiheit des Einzelnen nicht willkürlicherweise, sondern nur auf
Grund gesetzlicher Bestimmung erfolgen. Es ist nun einmal
möglich, und nach der
Gesetzgebung verschiedener
Staaten, namentlich
Englands,
Nordamerikas, der
Schweiz
[* 5] und der
Freien Stadt
Hamburg,
[* 6] besteht in der That die Einrichtung so, daß für jedes gemeinnützige Unternehmen die Bewilligung
des Expropriat
ionsrechts durch einen besondern
Akt der gesetzgebenden
Gewalt, also durch ein förmliches
Gesetz, erfolgen muß,
ein zur
Sicherung gegen willkürliche
Eingriffe in die bürgerliche
Freiheit allerdings sehr geeignetes,
aber doch zu weitläufiges und ebendarum unpraktisches
Verfahren.
Dabei ist übrigens zu beachten, daß nach Art. 41 der deutschen
Reichsverfassung vom
Eisenbahnen, welche im
Interesse
der
Verteidigung
Deutschlands
[* 7] oder im
Interesse des gemeinsamen
Verkehrs für notwendig erachtet werden, kraft eines
Reichsgesetzes
auch gegen den
Widerspruch der Bundesglieder, deren Gebiet die
Eisenbahnen durchschneiden, angelegt
oder an
Privatunternehmer zur Ausführung konzessioniert und mit dem Expropriat
ionsrecht (also auch durch Spezialgesetz) ausgestattet
werden können. Abweichend von
¶
mehr
diesem System des Erlasses von Spezialgesetzen für jedes einzelne Unternehmen, hat die deutsche Partikulargesetzgebung allgemeine
Expropriation
sgesetze erlassen und zwar entweder so, daß sie das Prinzip sanktionierte, zum öffentlichen Wohl und Nutzen
sei die Expropriation
gestattet, und dann im einzelnen Fall die Nutzanwendung dieses Prinzips der Administrativbehörde überließ, oder
so, daß sie die einzelnen Fälle spezialisierte, in welchen eine Expropriation
gestattet sei.
Ersteres System ist das des französischen und badischen Rechts sowie des neuen preußischen Expropriation
sgesetzes von 1874,
welch letzteres § 1 verordnet: »Das Grundeigentum kann nur aus Gründen des öffentlichen Wohls für ein Unternehmen, dessen
Ausführung die Ausübung des Enteignungsrechts erfordert, gegen vollständige Entschädigung entzogen
oder beschränkt werden«. Im § 2 ist dann weiter bestimmt, daß die Entziehung und dauernde Beschränkung des Grundeigentums
auf Grund königlicher Verordnung erfolge, welche den Unternehmer und das Unternehmen, zu dem das Grundeigentum in Anspruch
genommen werde, zu bezeichnen habe.
Das bayrische Gesetz vom dagegen und im Anschluß an dieses die Expropriation
sgesetze verschiedener
deutscher Kleinstaaten befolgen das System der Spezialisierung der einzelnen Fälle, in denen eine Expropriation
zulässig sein soll.
Diese Fälle (überhaupt wohl die regelmäßigen Fälle der Expropriation
) sind nach dem bayrischen Gesetz folgende: Erbauung von Festungen
und sonstigen Vorkehrungen zu Landes-, Defensions- und Fortifikationszwecken, insbesondere auch von Militäretablissements;
Erbauung oder Erweiterung von Kirchen, öffentlichen Schulhäusern, Spitälern, Kranken- und Irrenhäusern;
Herstellung neuer oder Erweiterung schon bestehender Gottesäcker;
Regelung des Laufs und Schiffbarmachung von Strömen und Flüssen;
Anlegung neuer und Erweiterung, Abkürzung oder Ebnung schon bestehender Staats-, Kreis- und Bezirksstraßen;
Herstellung öffentlicher Wasserleitungen;
Austrocknung schädlicher Sümpfe in der Nähe von Ortschaften;
Beschützung einer Gegend vor Überschwemmungen;
Erbauung von öffentlichen Kanälen, Schleusen und Brücken; [* 9]
Erbauung öffentlicher Häfen oder Vergrößerung schon vorhandener;
Erbauung von Eisenbahnen zur Beförderung des innern und äußern Handels oder Verkehrs;
Aufstellung von Telegraphen [* 10] zum Dienste [* 11] des Staats;
Vorkehrungen zu wesentlich notwendigen sanitäts- und sicherheitspolizeilichen Zwecken;
Sicherung der Kunstschätze und wissenschaftlichen Sammlungen des Staats vor Feuers- oder andrer Gefahr.
Über den Umfang des abzutretenden
Objekts entscheidet die zuständige Verwaltungsstelle mit Ausschluß des Rechtswegs. Nur im französischen Recht ist angeordnet,
daß die Expropriation
durch Richterspruch geschehen müsse. Dabei kann der Eigentümer, wofern nur ein Teil seines
Grundstücks in Anspruch genommen wird, verlangen, daß der Unternehmer das Ganze gegen Entschädigung übernehme, wenn das
Grundstück durch die Abtretung so zerstückelt werden würde, daß das Restgrundstück nach seiner bisherigen Bestimmung
nicht mehr zweckmäßig benutzt werden könnte. Gleiches gilt, namentlich auch nach dem preußischen Gesetz von 1874 (§
9), für die teilweise Expropriation
von Gebäuden.
2) Was die Entschädigung für die expropriierten Gegenstände anbetrifft, so erfolgt die Feststellung der Entschädigungssumme zunächst durch die Administrativbehörden unter Zuziehung von Sachverständigen, welch letztere die betreffende Sache nach ihrem wahren, gemeinen Werte, den dieselbe zur Zeit der Abtretung nach ortsüblicher Würdigung hat, zu taxieren haben, unter gleichzeitiger Berücksichtigung aller Schäden und Nachteile, welche den Eigentümer durch die Abtretung dauernd oder vorübergehend treffen, z. B. wegen dadurch verursachter Unterbrechung einer gewerblichen Thätigkeit, wegen Beschädigung oder Verlustes der Früchte, wegen Wertminderung des verbleibenden Restgrundstücks etc. Gegen die Entscheidung der Verwaltungsbehörden ist regelmäßig die Berufung auf den Rechtsweg und auf richterliche Entscheidung, und zwar nach § 30 des neuen preußischen Gesetzes binnen sechs Monaten nach Zustellung des Regierungsbeschlusses, gestattet.
Die Entschädigungssumme, welche vom Tag nach erfolgter Besitzeinweisung an mit landesüblichen Zinsen zu verzinsen ist, muß
alsbald nach beendigtem Verfahren gezahlt, oder es muß wegen der Zahlung Kaution geleistet werden. Für
den Fall, daß Hypotheken oder sonstige Lasten auf dem Expropriation
sgegenstand haften, ist der Expropriant zur gerichtlichen
Hinterlegung des Entschädigungsbetrags befugt.
Vgl. außer den Lehrbüchern des deutschen Privatrechts: Thiel, Das Expropriation
srecht
und das Expropriationsverfahren (Berl. 1866);
Meyer, Das Recht der Expropriation (Leipz. 1868);
v. Rohland, Zur Theorie und Praxis des deutschen Enteignungsrechts (das. 1875);
Meyer: Das Recht der Expropriation nach dem Gesetz vom (in der »Zeitschrift für deutsche Gesetzgebung«, Bd. 8, S. 547 ff., Berl. 1875);
Beauny de Récy, Théorie de l'expropriation (Par. 1872);
Grünhut, Enteignungsrecht (Wien [* 12] 1873).
Ausgaben des neuen preußischen Expropriationsgesetzes lieferten unter andern Höinghaus (Berl. 1874), Kletke (das. 1874), Siegfried (das. 1874), Bähr und Langerhans (2. Ausg., das. 1878).