Gase
[* 4] bei der hohen Zersetzungstemperatur, welche ihr Volumen noch bedeutend vergrößert, charakterisiert die Explosivstoffe und bedingt
ihre Wirkung. Man unterscheidet impulsive Explosivstoffe, welche bei hoher Entzündungstemperatur relativ langsam verbrennen
und deshalb zum Treiben von Geschossen, auch zum Sprengen
[* 5] der Hohlgeschosse und der Minen benutzt werden. Sie werden durch einen
Funken zur Explosion gebracht. Die brisanten Explosivstoffe verbrennen bei hoher Entzündungstemperatur außerordentlich
heftig und wirken viel zu zerstörend, als daß sie in Feuerwaffen benutzt werden könnten, zumal sich ihre Verbrennungsgeschwindigkeit
nicht wie die der impulsiven Explosivstoffe durch die äußere Form, die man ihnen gibt, regulieren läßt.
Sie dienen deshalb nur zum Sprengen und müssen durch hohen Druck zur Explosion gebracht werden, da sie
in Berührung mit einer Flamme
[* 6] nur lebhaft ohne Explosion abbrennen. Bei den fulminanten Explosivstoffen erfolgt die Explosion
bei niedriger Entzündungstemperatur mit der größten Heftigkeit und Geschwindigkeit und durch so geringe mechanische Einwirkung,
daß an eine Benutzung dieser Substanzen in größern Mengen gar nicht gedacht werden kann; sie dienen
nur als Zündmittel für andre Explosivstoffe. In Hinsicht auf ihre chemische Beschaffenheit bilden die Explosivstoffe etwa drei Gruppen.
Sie dienen hauptsächlich als Sprengmittel, da sie für Feuerwaffen zu brisant sind. Die dritte Gruppe umfaßt die sogen. Knallpräparate:
Knallgold, Knallsilber und Knallquecksilber, höchst fulminante Körper, die ausschließlich als Zündmittel benutzt werden können.
Die Explosivstoffe finden ausgedehnte Anwendung in den Feuerwaffen, im Minen- und Seekrieg, aber auch im Bergbau,
[* 9] Straßen-
und Tunnelbau, in Steinbrüchen, zum Sprengen der Eisdecke auf Flüssen, um die Schiffahrt frei zu machen, zur Lockerung sehr
harten Erdbodens (Sprengkultur), zum Betrieb von Maschinen, im Signalwesen etc. Die Gesetzgebung schreibt in den meisten Ländern
vor, welche Vorsichtsmaßregeln bei der Behandlung von Explosivstoffen zu treffen sind. In einigen Staaten
hat die Regierung die Fabrikation und den Verkauf gewisser Explosivstoffe als Monopol übernommen, um die hierdurch dem Publikum bereiteten
Gefahren soviel wie möglich einzuschränken. Den Schutz der bei der Fabrikation von Explosivstoffen gefährdeten Arbeiter hat
in Deutschland
[* 10] das Haftpflichtgesetz (s. d.) geregelt. Litteratur s.
bei Schießpulver.
Die Anwendung der Explosivstoffe für Zwecke des Krieges und der Industrie beruht auf der plötzlichen Erzeugung
eines beträchtlichen Gasvolumens in einem allseitig geschlossenen Raume, der zu klein ist, dasselbe unter dem Atmosphärendruck
eingeschlossen zu halten. Infolge hiervon entsteht in sehr kurzer Zeit eine mehr oder weniger große Expansivkraft, die fähig
ist, Geschosse
[* 12] zu schleudern oder die Wandungen der Gefäße zu zerreißen, in denen die Gase eingeschlossen sind. Die plötzliche
Ausdehnung
[* 13] der Gase zu einem viel größern Volumen als das ursprüngliche, welche außerdem von lautem
Geräusch und heftigen mechanischen Wirkungen begleitet ist, bildet die Explosion. Erreicht dieselbe den höchsten Grad der Geschwindigkeit,
so wird sie Detonation genannt.
Die mechanischen Wirkungen hängen von der Art der Explosion ab und von der Ausdehnung, die sie bewirkt. Ein Teil der lebendigen
Kraft,
[* 14] welche den Gasmolekülen innewohnt, teilt sich teils den Geschossen, teils den zertrümmerten Wandungen
der Umhüllung und den in der Nähe befindlichen Körpern mit, die erschüttert, niedergeworfen, aus den Fugen gebracht und
zerrissen nach allen Richtungen hin geschleudert werden. Diese Resultate können entweder durch die einfache Ausdehnung eines
vorher komprimierten Gases oder eines aus einer überhitzten Flüssigkeit erzeugten Dampfes hervorgebracht
werden, oder besser durch eine chemische Reaktion, die plötzlich in einem festen, flüssigen oder gasförmigen Körper ein
großes Gasvolumen und eine Temperaturerhöhung erzeugt.
Nur diese letztere Methode wird in der Praxis verwertet, weil bei ihr die erzielten Wirkungen für eine bestimmte Menge des wirksamen
Körpers viel heftigere sind, und weil man keiner Hilfsapparate bedarf, um die Gase vorher zu komprimieren
oder die Flüssigkeit zu erhitzen, die man inDampf
[* 15] verwandeln will, Weder die Windbüchse, noch die Dampfkanone haben jemals
wirklich praktische Verwendung gefunden. Ausschließlich die chemischen Reaktionen sind es, deren man sich bedient, um Explosivwirkungen
hervorzurufen, und zwar beschränkt man sich auf solche, bei denen freier Sauerstoff und verbrennliche Substanzen zur Wirkung
gelangen. Den Sauerstoff liefert gewöhnlich das Kaliumnitrat (Salpeter) oder das Kaliumchlorat, während Salpetersäure, da
dieselbe eine Flüssigkeit ist, nur ausnahmsweise Verwendung findet. Man mengt daher die oxydierende Verbindung mit einer gewöhnlich
ebenfalls festen, verbrennlichen Substanz, wie Schwefel, verschiedene Sulfide, Phosphor, Kohle, Zucker,
[* 16] Kohlenwasserstoffe
u. a. m.
Die explosiven Gemische sind aber mehr und mehr durch chemische Verbindungen ersetzt worden, die sowohl den oxydierenden als
verbrennlichen Körper enthalten, und die sämtlich durch Einwirkung von Salpetersäure auf organische Körper entstehen, demnach
sämtlich Stickstoff enthalten, wie z. B. das Nitroglycerin, die Schießbaumwolle, das Knallquecksilber,
das Kaliumpikrat. Auch stickstofffreie Körper, wie der Perchlorsäureäther und das Silberoxalat, können verwendet werden.
Ja man hat selbst sauerstofffreie
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mehr
Körper benutzt, wie das Diazobenzol und das Stickstoffsulfid, Körper, die, da sie unter Wärmeabsorption aus ihren Elementen
entstanden, einen Vorrat von Energie enthalten, der bei ihrer plötzlichen Zersetzung frei werden kann.
Erst nachdem die neuen Explosivstoffe entdeckt waren, gelang es allmählich, an Stelle des bisherigen empirischen Herumprobierens eine
auf die allgemeinen Prinzipien der Chemie und Thermochemie gegründete exakte Theorie der Explosivstoffe zu setzen,
eine Theorie, die die Kraft der explosiven Substanzen ableitet allein aus der Kenntnis ihrer chemischen Reaktionen.
Die Anwendung der Explosivstoffe gründet sich auf den Druck und die Arbeit, die sie entwickeln. Der Druck hängt hauptsächlich ab von der
Natur der gebildeten Gase, von ihrem Volumen und ihrer Temperatur, die Arbeit hauptsächlich von der entbundenen Wärme,
[* 18] die ein
Maß für die entwickelte Energie ist. Mit andern Worten, das Arbeitsmaximum, welches eine explosive Substanz leisten kann, ist
proportional der durch ihre Zersetzung entwickelten Wärmemenge. Bezeichnet. A diese Wärmemenge, ausgedrückt
in Kalorien, so ist die entsprechende Arbeit, in Kilogrammetern ausgedrückt = 425 A, nach dem mechanischen Wärmeäquivalent.
Diese Zahl drückt die potenzielle Energie der explosiven Substanz aus; sie wird in der Praxis natürlich niemals erreicht,
aber man muß sie kennen als die einzige absolute Vergleichungsgrenze. Die thatsächliche Umwandlung dieser Energie
in Arbeit ist abhängig von dem Volumen der Gase und dem Gesetz der Expansion. Diese Umwandlung ist immer unvollständig, ja
nur ein Teil derselben wird ausgenutzt. Bei den Waffen
[* 19] z. B. ist die Arbeit, die dem Geschoß seine lebendige Kraft verleiht,
allein von Nutzen, während die auf Kosten der Waffe sowie zur Fortschleuderung der Gase und der Luft aufgewandte
Arbeit verloren ist. Außerdem bleibt ein beträchtlicher Bruchteil der Energie ungenutzt unter der Form von in den Gasen aufgespeicherter
oder dem Geschoß, der Waffe etc. mitgeteilter Wärme.
Entsprechend den verschiedenen Arbeiten, die mittels der explosiven Substanzen geleistet werden sollen, verwendet man Pulver,
deren Kraftentwickelung eine verschiedene ist. Die Kraft der Explosivstoffe gibt sich aber kund durch den Druck, welche dieselben ausüben,
und die Arbeit, die sie leisten. Der Druck resultiert von dem Volumen, welches die Gase bei der Explosionstemperatur einnehmen,
die Arbeit von der Wärmemenge, die entbunden wurde, und die Verteilung dieser auf die Explosivstoffe und
die diese umgebenden Massen hängt von der Geschwindigkeit ab, mit der die Gase sich entwickeln. Diese fundamentalen Bedingungen,
Gasvolumen und Wärme, sind die Folgen der chemischen Reaktion. Jede Reaktion, die Gase entbindet oder das Volumen eines bereits
vorhandenen Gases vergrößert, kann eine Explosion veranlassen. Zur Bestimmung der Kraft einer explosiven
Substanz muß man also ihre chemischen Reaktionen kennen, die von ihr entwickelte Warme und das Gasvolumen sowie die Geschwindigkeit
der Reaktion.
Die chemische Reaktion ist bekannt, wenn die chemische Zusammensetzung der explosiven Substanz sowie die Zusammensetzung der
Explosionsprodukte bekannt ist, da aber die letztere infolge des Temperaturwechsels, der während des
Explosionsvorganges sich vollzieht, sich ändern kann, so muß auch die Dissociation in Rechnung gezogen werden.
Die explosive Substanz kann entweder allein Verwendung finden, oder im Gemisch mit einem trägen Körper, welcher die Heftigkeit
der Explosion abzuschwächen, d. h. einen brisanten Explosivstoff in einen einfach treibenden oder dislozierenden
zu verwandeln, bestimmt ist. Dies ist z. B. beim gewöhnlichen Dynamit, dem Gemisch aus Nitroglycerin und Kieselgur, oder der
nassen sowie paraffinierten Schießbaumwolle der Fall. Umgekehrt kann man die explosive Substanz mit einer ähnlichen mischen,
um ihre Wirkung zu verstärken, wie bei den Dynamiten mit aktiver Basis (Nitroglycerin und Schießbaumwolle).
Dem entsprechend kann eine vollständige Verbrennung bei der Explosion erfolgen, z. B. beim Silberoxalat, das in Kohlensäure
und metallisches Silber zerfällt; oder es fehlt an Sauerstoff, wie beim Kaliumpikrat und der Schießbaumwolle, oder endlich
Sauerstoff ist im Überschuß vorhanden, wie beim Nitroglycerin. In letzterm Falle kann man die gesamte
Energie der explosiven Substanz ausnutzen, wenn man ihr einen verbrennlichen Körper in geeigneter Menge beimischt, wie Kohle
oder noch besser Schießwollpulver. Fehlt der explosiven SubstanzSauerstoff, so kann ihr ein sauerstoffreicher Körper, wie
Kaliumchlorat oder Kaliumnitrat, beigemischt werden.
Daß dieselbe explosive Substanz sich in sehr verschiedener Weise zersetzen kann, das hängt ab von der
relativen Geschwindigkeit, mit der die Zersetzung erfolgt, und von der Temperatur, bei der dieselbe sich vollzieht. Außer den
Zersetzungsprodukten, die nach erfolgter Abkühlung auftreten, müssen auch noch die Zersetzungsprodukte untersucht werden,
die entstehen während der Dauer der Explosion und im Augenblick, bei welchem die explosive Substanz die höchste
Temperatur erreicht hat, d. h. es muß die Dissociation berücksichtigt werden.
Die gesamte Wärmemenge, die während einer explosiven Reaktion entwickelt wird, kann auf experimentellem Wege in einem Kalorimeter
gemessen werden. Sie kann berechnet werden, wenn man von den mechanischen Wirkungen absieht, immer dann, wenn
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mehr
die Produkte der explosiven Reaktion genau bekannt sind, und wenn man von vornherein die Bildungswärme der ursprünglichen
Substanzen sowie der Produkte aus ihren Elementen kennt. Zieht man die erste Menge von Wärme von der zweiten ab, so erfährt
man die während der Explosion entwickelte Wärme.
Die entwickelte Wärme ist ein Maß für das Arbeitsmaximum, das von der explosiven Substanz geleistet werden
kann, wenn sie unter dem Atmosphärendruck zur Wirkung gelangt. Diese Menge von Wärme ist mit der Zahl 425, d. h. mit dem mechanischen
Wärmeäquivalent, zu multiplizieren, um diese Arbeit in Kilogrammetern zu erhalten. Das Produkt ist der Wert ihrer potenziellen
Energie.
Das entstandene Gasvolumen und seine Temperatur sind der konstante Bestimmungsfaktor für den entwickelten Druck, wenn die
explosive Substanz sich zersetzt. Das Gasvolumen, auf 0° und 760 mm Barometerstand reduziert, kann entweder durch das Experiment
beobachtet oder für jede genau bekannte Reaktion berechnet werden. Die Temperatur kann direkt gemessen werden,
wenigstens im Prinzip, in Wirklichkeit ist diese Messung bei den in Betracht kommenden sehr hohen Temperaturen außerordentlich
schwierig. Man weiß bisher nur, daß die Explosion des Schießpulvers eine höhere Temperatur entwickelt, als zur Schmelzung
des Platins (1900°) erforderlich ist. Die theoretische Berechnung liefert nicht brauchbare Resultate.
Der im Entstehungsmoment der explosiven Reaktion entwickelte Druck kann entweder im voraus berechnet oder
direkt gemessen werden mit Hilfe verschiedener Apparate, der Gasdruckmesser, durch an metallischen Organen bewirkte Deformationen
(Eindrücken eines Meißels in eine Metallplatte oder Komprimierung von Kupfercylindern oder Pressung von Bleicylindern in
einen konischen Kanal
[* 21] von kleinerm Durchmesser). Die mit diesen Apparaten erhaltenen Deformationen werden
verglichen mit den Deformationen, die man durch genau bekannte, mittels hydraulischer Pressen hervorgebrachte Drucke erhält.
Die Methoden, die vorgeschlagen worden sind, den durch die explosiven Substanzen entwickelten Druck zu berechnen aus dem Gasvolumen
und der Wärmemenge, welche von ihnen erzeugt wurde, verdienen nur dann Berücksichtigung, wenn die erhaltenen
Resultate mit den auf experimentellem Wege erhaltenen übereinstimmen.
Bei allen Explosivstoffen spielt die Zeitdauer der Reaktionen eine wesentliche Rolle. Einmal hervorgerufen, vollzieht sich die
Reaktion von selbst, indem sie sich entweder durch einfache, allmähliche Entzündung oder durch fast augenblickliche Detonation
fortpflanzt. Diesen Beginn der Reaktion hat man Zündung genannt, was eine erste lokale Erhitzung bedeutet.
Der Beginn der Reaktion kann indessen auch von einem Stoß, einem Druck, einer Reibung herrühren. Um sich zu entwickeln, bedarf
die Reaktion einer sie einleitenden Arbeit; die explosive Substanz muß auf eine gewisse Anfangstemperatur gebracht werden,
das Schießpulver z. B. auf 315°, das Knallquecksilber auf 190°. Ohne diese Notwendigkeit könnte keine
explosive Substanz im voraus dargestellt und in Magazinen gelagert werden.
Stoß, Druck, Reibung u. a. m. sind nur unter der Voraussetzung wirksam, daß auch sie eine lokale
Erhitzung der explosiven Substanz bewirken. Je nach den Bedingungen, unter denen diese Erhitzung erfolgt, kann die Zersetzung
derselben explosiven Substanz bei sehr verschiedenen Temperaturen und ebenso mit sehr verschiedenen Geschwindigkeiten
erfolgen. Im Zusammenhang hiermit
steht die Sensibilität der explosiven Substanzen. Eine Substanz ist sensibel für die geringste
Temperaturerhöhung, eine andre für einen Stoß, eine andre detoniert bei der leisesten Reibung. Die Sensibilität hängt ab
von der Initialtemperatur, der die explosive Substanz ausgesetzt wurde, ferner von der Substanzmenge,
auf welche sich die Arbeit des Stoßes oder der Reibung verteilt, d. h. von der Kohäsion der explosiven Substanz.
Die mehr oder weniger lange Dauer einer Reaktion ändert kaum die Menge der durch die vollständige Zersetzung einer gegebenen
Explosivstoffmenge entbundenen Wärme. Können sich die entwickelten Gase aber ausdehnen, dann wird der
Anfangsdruck um so geringer sein, als die Zersetzung der betreffenden Explosivstoffmenge längere Zeit dauern wird. Erlaubt
eine sehr rapide Zersetzung der ganzen, in einem geschlossenen Raume befindlichen Explosivstoffmasse dem Anfangsdruck, die
kolossale Größe seiner theoretischen Grenze zu erreichen oder sich ihr zu nähern, so wird es schwierig
sein, Gefäße herzustellen von genügender Widerstandsfähigkeit, um die Explosionsgase eingeschlossen zu halten.
Hieraus erklärt sich der Einfluß widerstandsfähiger Umhüllungen und der Verdämmung, ein Einfluß, der bemerkt wird sowohl
bei langsam als bei schnell sich zersetzenden explosiven Substanzen. Da aber die Explosionsprodukte fortdauernd Wärmeverluste
erfahren infolge von Berührung, Leitung und Strahlung und somit eine Abkühlung, welche die Temperatur
und daher auch den Druck sowie die Geschwindigkeit der chemischen Reaktion vermindert, so erleidet der Anfangsdruck eine Abschwächung,
die um so geringer sein wird, je schneller die explosive Substanz sich zersetzt, je enger der Raum ist, in welchem
dieselbe sich eingeschlossen befindet, und je widerstandsfähiger die Wandungen desselben sind.
Aber selbst bei in schwacher Umhüllung oder unter einer Wasserschicht, ja sogar bei an freier Luft befindlichen explosiven
Substanzen zeigt sich das gleiche Verhalten. Denn wenn die Dauer der Reaktion ins Ungemessene abnimmt, so entwickeln die entbundenen
Gase einen Druck, der mit solcher Geschwindigkeit anwächst, daß sogar die in der Umgebung befindlichen
festen, flüssigen und selbst luftförmigen Körper nicht Zeit finden, sich in Bewegung zu setzen und ihnen allmählich nachzugeben;
diese Körper setzen dann der Ausdehnung der GaseWiderstände entgegen, die denen, welche ein fester Einschluß bietet, zu vergleichen
sind.
Ein TropfenChlorstickstoff kann auf einem Uhrglas detonieren, ohne dasselbe zu zertrümmern, während, wenn man ihn mit ein
wenig Wasser bedeckt, das Glas
[* 22] zerschmettert wird. Je nachdem sich mehr oder weniger große Massen einer explosiven Substanz
zersetzen, kann die Art ihrer Zersetzung sich verschieden gestalten, ein Verhalten, das bei den spontanen
Zersetzungen großer Explosivstoffmengen beobachtet wird. Zuerst langsam bei gewöhnlicher Temperatur, wird die Zersetzung schneller
unter dem Einfluß der von ihr bewirkten Temperaturerhöhung, indem die Wärme auf die Anfangsreaktion eine neue Reaktion folgen
läßt, die mehr Wärme entwickelt; hierdurch erhöht sich die Temperatur noch weiter, so daß die Reaktion
eine stürmische wird und schließlich eine allgemeine Explosion eintritt. Auf diese in Laboratorien oft beobachtete Thatsachen
hat man sich berufen, um die spontanen Explosionen der Schießbaumwolle und des Nitroglycerins zu erklären. Sie haben dahin
geführt, als besonders gefahrvoll eine explosive
¶
feste oder flüssige chem. Körper oder Gemische letzterer,
welche sich durch gewisse Mittel zur Explosion (s. d.) bringen lassen.
In den meisten Explosivstoffe ist Sauerstoff, an Stickstoff oder Chlor gebunden, in großer Menge und außerdem Kohlenstoff vorhanden, der
bei der explosiven Zersetzung sich des Sauerstoffs bemächtigt und damit in fast unmeßbar kurzer Zeit Kohlensäuregas liefert.
Manche Explosivstoffe sind jedoch vollständig sauerstofffrei, so z. B. Stickstoffwasserstoffsäure,
Jod- und Chlorstickstoff, welche sich bei den leisesten Erschütterungen in ihre gasförmigen Elemente zersetzen: 2NCl3
= N2 + 3Cl2, oder bei diesem momentanen Zerfalle wenigstens ein
Gas entwickeln, wie die metallischen Explosivstoffe (s. unten 6).
Viele Explosivstoffe finden technische Verwendung zum Schleudern von Geschossen oder zum Sprengen und werden dann speciell
Triebmittel oder Sprengstoffe genannt.
Je nach der Entzündungstemperatur und der Heftigkeit, mit welcher die Gasentwicklung auftritt, kann man die Explosivstoffe in
drei Hauptgruppen teilen. I. Impulsive Explosivstoffe, welche bei hoher Entzündungstemperatur relativ langsam verbrennen,
sie dienen sowohl als treibende Mittel für Geschosse in Feuerwaffen, als auch zu Sprengzwecken, namentlich
in Hohlgeschossen und Minen. II. Brisante Explosivstoffe, welche bei hoher Entzündungstemperatur außerordentlich heftig verbrennen; sie
dienen lediglich als Sprengmittel, da sie in Feuerwaffen zu sehr zerstörend auf diese wirken würden.
III. Fulminante Explosivstoffe, bei welchen die Gasentwicklung bei niederer Entzündungstemperatur, aber
mit der größten Heftigkeit und Geschwindigkeit vor sich geht; sie dienen als Zündmittel für andere Explosivstoffe (S. Detonator.) Die
impulsiven Explosivstoffe werden gewöhnlich durch Feuer, die brisanten Explosivstoffe durch hohen Druck, die fulminanten Explosivstoffe durch eine geringere
mechan. Einwirkung zur Thätigkeit gebracht. Die brisanten Explosivstoffe brennen bei
der Berührung mit der gewöhnlichen Flamme nur lebhaft ab, ohne eine plötzliche Gasentwicklung zu zeigen,
sind daher die wenigst gefährlichen, während die fulminanten Explosivstoffe außerordentlich leicht zur explosiven
Zersetzung gebracht werden, und daher ihre Verwendung in größern Mengen zu vermeiden ist. Bei den impulsiven Explosivstoffe läßt sich
die Verbrennungsgeschwindigkeit bis zu einem gewissen Grade durch die äußere Form beherrschen, was bei
den brisanten bis jetzt nur selten gelungen ist.
Nach ihrer Zusammensetzung zerfallen die Explosivstoffe in mechanische Gemenge und chemische Verbindungen. Bei den erstern ist der Sauerstoffträger
ein salpetersaures oder ein chlorsaures Salz;
[* 23] die Beimengungen sind leicht verbrennliche Stoffe, wie Holzkohle, Schwefel, Zucker
u. s. w. Die chem. Verbindungen sind knallsaure Salze oder Nitrate von organischen Substanzen, wie von Baumwolle,
[* 24] Holzfaser, Stärkemehl,
Glycerin u. s. w., welche durch Behandlung mit konzentrierter Salpetersäure (unter
Anwendung von Schwefelsäure)
[* 25] Stickstoff und eine reiche Menge Sauerstoff aufnehmen. Die Nitrate können durch mechan. Beimengungen
technisch besser verwertbar gemacht werden. Von anderer Seite ist eine Unterscheidung der Explosivstoffe in
«direkt wirkende», deren Entzündungstemperatur mit der Explosionstemperatur
zusammenliegt, und in «indirekt wirkende Explosivstoffe», bei denen
die Explosionstemperatur höher liegt, in Vorschlag gebracht.
Die Explosivstoffe lassen sich folgendermaßen gruppieren:
1) Explosivstoffe mit salpetersaurem Kalium als Sauerstoffträger, Holzkohle als Brennstoff und Schwefel als Zusatz zur Förderung
des Verbrennungsprozesses und Erhöhung der Ausbewahrungsfähigkeit. Hierher gehört das gewöhnliche oder schwarze Schießpulver
(s. d.) und das Braune Pulver (s. d.) und in den Verhältniszahlen abweichende Pulverarten
von Neumeyer, Champy und Bennet.
Ersatzmittel des Kalisalpeters sind:
a. Salpetersaures Natrium; so im Pyronone von Reynaud, ferner im Brise-rocs von Robaudi, im Pyrolithe humanitaire
von Terré und Mercader, im Steinbrech von Wetzlar,
[* 26] sowie in den Pulvern von Davey, Oxland, Eaton, Schwarz, Schäffer und Budenberg.
¶
mehr
b. Salpetersaurer Baryt; hierher gehört das belg. Barytpulver und das Saxifragin.
c. Salpetersaures Ammoniak beim grobkörnigen Pulver c/86.
2) Explosivstoffe mit chlorsaurem Kalium als Sauerstoffträger, wie das muriatische Schießpulver von Berthollet (s. Berthollets Schießpulver),
ferner das Pulver von Kellow und Short, Hafenegger, Pudrolith von Oller; zu den chlorsaures Kalium enthaltenden
Explosivstoffe geboren ferner die weißen Pulver (s. Augendres Schießpulver, Schultzes Pulver, Uchatiuspulver) sowie das von Krafft, Callou,
Spence, Ehrhardt, Hahn,
[* 28] Horsley.
Ersatzmittel des chlorsauren Kaliums ist überchlorsaures Kalium: Nissers Pulver und Ammonit. Letzteres ist ein neuerer Sprengstoff,
ein Gemisch von Ammoniumnitrat und Mononitronaphthalin, also dem Bellit (s. d.) sehr ähnlich, mit welchem
es auch fast alle Eigenschaften teilt. In Belgien
[* 29] wird es von Favier fabriziert, daher auch Faviers Sprengmittel genannt.
3) Explosivstoffe mit Surrogaten für die Kohle. Die Kohle ist in den Explosivstoffe durch die verschiedensten Stoffe ersetzt worden, so durch extrahierte
Gerberlohe, Sägemehl, Kleie, Stärke, Zucker, Blutlaugensalz, Seignettesalz, weinsaures Kalium, humussaures
Ammonium, Katechu, Gerbsäure u. a. Manche der vorhergenannten Explosivstoffe enthalten solche
Surrogate.
4) Explosivstoffe mit Surrogaten für den Schwefel: Haloxylin (s. d.), Collodin (s. d.),
Vigorit von Bjorkmann, Xanthatpulver.
5) Explosivstoffe mit organischen Nitroverbindungen.
a. E. mit Nitroglycerin. Zu diesen zur größten Wichtigkeit gelangten Sprengstoffen gehören außer dem Nitroglycerin (s. d.)
die sämtlichen Dynamite (s. d.) und die meisten rauchschwachen Pulversorten (s.
Schießpulver, rauchschwaches).
b. Explosivstoffe mit Nitrocellulose, Schießbaumwolle (s. d.), nitrifiziertes Holz
[* 30] von Schultze,
Dualin (s. d.), Abels oder Brugères Pulver, rauchschwaches Schießwollpulver (Cotton gunpowder).
c. Die Sprengelschen Explosivstoffe, 1870 von Dr. Sprengel erfunden, bestehen aus zwei an und für sich nicht explosiblen Komponenten,
welche erst kurz vor ihrem Gebrauch zusammengebracht werden und dann eine Mischung von großer Explosionswirkung
abgeben. Der eine dieser Komponenten ist meist Salpetersäure, seltener ein anderer unorganischer Sauerstofflieferer, während
der andere ein organischer, meist ein Nitrat der aromatischen Reihe wie Nitrobenzol, Binitrobenzol, Trinitrophenol, Nitronaphthalin,
jedoch auch Schwefelkohlenstoff, oder endlich Pikrinsäure sein kann. (S. Panklastit, Hellhoffit, Emmensit,
Rackarock, Romit.)
d. Explosivstoffe mit Nitrorohrzucker, Nitrostärke, Nitromannit u. a. Diese Verbindungen sind namentlich benutzt, um durch ihre eigene Explosion
die anderer Explosivstoffe einzuleiten, indem man sie zur Füllung von Zündhütchen u. dgl. verwandt hat. Hierher gehört auch Uchatiuspulver
(s. d.).
explosivstoffe Explosivstoffe mit Pikrinsäure; dieselben führen auch die Bezeichnung Pikratpulver (s. d.).
f. Explosivstoffe mit salpetersaurem oder chromsaurem Diazobenzol (Knallanilin).
Der Wert der Explosivstoffe ist ein sehr hoher, einmal zur Erzeugung der treibenden Kraft in Feuerwaffen für militär.,
Jagd- und sonstige Zwecke, sodann als Sprengstoffe zu militär. Zwecken, im Bergwesen, im Straßen- und
Eisenbahnbau,
[* 31] endlich
als Zündmittel für Feuerwaffen und Sprengladungen. Über die Gesetzgebung gegen den gemeingefährlichen
Gebrauch von Explosivstoffe s. Sprengstoffgesetz.
Litteratur. Rutzky und von Grahl, Das Schießpulver und seine Mängel (Wien
[* 32] 1863);
Explosivstoffe Schultze, Das neue chem. Schießpulver
(Berl. 1865);
Handbuch der technischen
Chemie (3. Aufl., 7 Bde., Braunschw.
1874-80), ArtikelGlycerin und Schießpulver; Berthelot, Sur la force des matières explosives (3. Aufl., 2 Bde.,
Par. 1883);
P. F. Chalon, Traité théorique et pratique des explosifs modernes (ebd. 1889);
A. Ledieu und
Explosivstoffe Cadiat, La nouveau matériel naval (2 Bde.,
ebd. 1889-90);
Cundill, A dictionary of explosives (Lond. 1889);
Eißler, Handbook of modern explosives (ebd. 1890).
Vgl. auch: von Löbell, «Jahresberichte über die Veränderungen und Fortschritte im Militärwesen» (Jahrg. 1874-82, Berl.
1875-83).