Erdbeben.
[* 2] Die
Seismologie als
Wissenschaft ist erst wenige Jahrzehnte alt.
Alle frühern Untersuchungen über Erdbeben
hatten
den
Zweck, auf statistischer Grundlage die zeitliche und örtliche Verbreitung der
Erderschütterungen nachzuweisen. Gegenwärtig
sind weniger die Erdbeben
in ihrer Gesamtheit als jede einzelne
Erschütterung Gegenstand eines besondern
Studiums,
indem man die
Grundsätze der
Dynamik und physikalische Untersuchungsmethoden zu
Grunde legt; indem
man in den mechanischen
Charakter
einer Erdbeben
welle immer tiefer eindringt, steht zu hoffen, daß es gelingen wird, die
Natur der Erdbeben
aufzudecken und in jedem
einzelnen
Fall die
Ursache derselben aus den besondern Verhältnissen der
Erde darzulegen.
Die Bedeutung der experimentellen Untersuchungen für das Erdbeben
studium dargethan zu haben, ist das
Verdienst von
Mallet,
wenn es ihm selber auch noch nicht gelang, ein geeignetes
Instrument zu konstruieren. Begründet wurde die experimentelle
Erdbeben
kunde erst vor etwa 10
Jahren durch die seismologische
Gesellschaft, welche sich auf Veranlassung
von
John
Milne in
Tokio
[* 3]
(Japan)
[* 4] bildete. Es gibt wohl nur wenig
Länder, in denen die Gelegenheit zum
Studium aller Erdbeben
phänomene
so günstig ist wie gerade in
Japan. Da die Untersuchungen von
Milne nicht bloß ein wissenschaftliches
Interesse boten, sondern
auch in ihrer Anwendung praktische
Zwecke verfolgten, so wurde von
Staats wegen ein
seismologisches Institut
gegründet, in welchem die
Experimente in größerm
Umfang und mit geeigneten
Mitteln fortgesetzt werden konnten.
Dieses ist mit dem meteorologischen Institut in Tokio verbunden und steht unter der Leitung des Direktors des letztern. Durch die vereinigten Bemühungen von Milne, Gray und Ewing haben die Seismometer jetzt eine solche Vervollkommnung erfahren, daß es leicht ist, mit Hilfe eines Horizontalpendelseismometers die Bewegung eines Erdpartikelchens während eines Erdbebens zu verfolgen. Auch in den Vereinigten Staaten [* 5] von Nordamerika [* 6] hat man das systematische Studium der seismischen Erscheinungen nunmehr in Angriff genommen.
Bei der ungeheuern
Ausdehnung
[* 7] des staatlichen Gebietes und der relativ geringen Anzahl von Erdbeben
kann die
Beobachtung solcher nicht eine so intensive sein wie in
Japan. Die vom
Direktor der geologischen
Aufnahme der
Vereinigten Staaten
eingesetzte Erdbeben
kommission hat in anbetracht der genannten Umstände vorgeschlagen, von der
Aufstellung von
Seismometern
und Seismographen abzusehen, dafür aber eine große Anzahl von kleinern
Stationen über das ganze Gebiet
hin zu errichten, die mit Seismoskopen ausgerüstet sind. Man ging dabei von der
Ansicht aus, daß es im
Interesse der geologischen
Untersuchung und beim gegenwärtigen Standpunkt der
Seismologie am wünschenswertesten ist, für ein gegebenes Erdbeben
das
Epizentrum,
die Tiefe
¶
mehr
desselben und den Zeitpunkt des Beginns der Erschütterung möglichst genau zu bestimmen. Das weit ausgedehnte Netz von Telegraphenlinien
und die allgemeine Anwendung der Einheitszeit würden diese Art der Untersuchung sehr begünstigen. Nur für Kalifornien, das
in stärkerm Maße von Erdbeben
heimgesucht wird, sind mehrere Stationen ersten Ranges vorgesehen; eine derselben
soll im Lick-Observatorium auf dem Mount Hamilton errichtet werden, um in erster Linie die Einwirkung der mikroseismischen Bewegungen
auf die astronomischen Beobachtungen feststellen zu können. In Italien,
[* 9] der Heimat der Erdbeben
kunde, ist infolge der Katastrophe
von Casamicciola der seismologische Beobachtungsdienst durch königliche Verordnung neu organisiert worden.
[* 8]
^[Abb.: Fig 1. Karte der Verbreitung der Erdbeben
in Italien (nach Taramelli).]
Auf Vorschlag einer Kommission, der unter andern de Rossi, Palmieri, Rossetti, Silvestri und Tacchini angehören, ist ein vollständiges Netz von Beobachtungsstationen errichtet worden, das sich über ganz Italien nebst den dazu gehörigen Inseln ausdehnt. Für Sizilien [* 10] und die umliegenden Inseln ist der Ätna [* 11] als der geeignetste Punkt ausersehen, auf dem eine Station ersten Ranges errichtet werden soll; die gleiche Bedeutung hat für die Insel Ischia [* 12] der Epomeo, an dessen Fuß in Casamicciola eine Station bereits in Thätigkeit ist. Der Vesuv [* 13] bildet den Mittelpunkt für die Phlegräischen Felder am Nordrande des Golfes von Neapel; [* 14] für die erloschenen Vulkane [* 15] des zentralen Italien ist eine vierte Station in Latium vorgesehen, eine fünfte soll in Venetien in der Nähe der Euganeen, einer alten Vulkangruppe am Fuß der Alpen, [* 16] in Thätigkeit treten. Diese fünf Stationen erster Ordnung werden von einer größern Anzahl von Beobachtungspunkten ¶
mehr
untergeordneter Bedeutung umgeben werden. Die Beobachtungen erstrecken sich nicht bloß auf die seismischen Erscheinungen,
sondern umfassen in gleicher Weise die eruptiven Vorgänge wie alle Veränderungen, welche an den Thermalquellen sich bemerkbar
machen. Als erste Frucht dieser erneuten Thätigkeit ist die Übersicht zu verzeichnen, welche Taramelli von der Verbreitung
der Erdbeben
in Italien geliefert hat. Auf Grund derselben ist es möglich, das ganze Gebiet in bestimmte seismische
Provinzen zu zerlegen; die beigedruckte Karte
[* 17]
(Fig. 1, S. 267) läßt in sechs verschiedenen Schattierungen die seismische Intensität
der verschiedenen Gegenden erkennen.
[* 17]
^[Abb. 2. Die peripherische Linie der Liparen (nach Erdbeben
Sueß).]
Vergleicht man diese Karte der Verbreitung der Erdbeben mit einer geologischen Karte der betreffenden Gegend, so tritt vor allem die innige Beziehung hervor, welche zwischen den Erderschütterungen einerseits und der Gesteinsart sowie dem Relief des Bodens anderseits besteht. Mittelpunkte hoher seismischer Thätigkeit finden sich im N. bei Siena, Florenz [* 18] und in dem alluvialen Gebiete der Pomündungen. Ein andres Zentrum liegt in Umbrien, das weiter südlich in den Abruzzen mit der höchsten Erhebung der Apenninen zusammenfällt. Neapel und Melfi sind zwei vulkanische Zentren, zwischen denen die Zone von Benevent und Ariano liegt, in welcher verhältnismäßig junge Gesteine [* 19] in metamorphosiertem Zustand vorkommen; die südliche Fortsetzung dieser Zone bildet die Gegend von Potenza. Die südwestliche Halbinsel Kalabrien bildet mit der gegenüberliegenden Spitze von Sizilien eine zusammengehörige und einheitlich gebaute Zone [* 17] (Fig. 2).
Die Westküste der Halbinsel wird von Gneis- und Granitmassen umsäumt, die zum Meer steil abgebrochen sind. Im N. ist es der Monte Cocuzzo, der landeinwärts vom Längenthal des Crati von der Gebirgsmasse der Sila getrennt wird. Gegen S. sind die aus Gneis bestehenden Höhen des Kap Vaticano und die granitischen Klippen [* 20] der Scylla abgesunkene Bruchstücke des Aspromonte, welcher sich mit schroffem Abfall über dieselben erhebt. Aus Granit besteht auch die Nordostspitze von Sizilien, alles Trümmer eines einst zusammenhängenden Gebirgskerns, dessen hauptsächlichster Bruchrand gegen die Liparischen Inseln gerichtet ist.
Dieser Bruchrand war 1783 einige Monate hindurch der Sitz einer heftigen seismischen Thätigkeit; die Erschütterungen pflanzten sich gegen S., W. und N. fort, aber nur wenig gegen O. über den Bruchrand hinaus. Diese Zone ist jedoch nur ein Teil einer großen Kurve, welche fast im Kreisbogen die Liparischen Inseln gegen S. und O. umgibt. Dieselbe verläuft östlich vom Monte Cocuzzo durch das Cratithal, dann längs der Dislokation des Aspromonte und jenseit der Straße von Messina [* 21] zum Ätna.
Außer dieser peripherischen Linie ist in derselben Gegend eine Anzahl andrer Stoßlinien bekannt, welche strahlenförmig von den Liparen ausgehen, und auf denen die Erschütterungen meistens von den Liparen nach außen, und zwar bis an oder auch über die peripherische Linie gerichtet sind. Der Schnittpunkt dieser Stoßlinien südlich von Stromboli, der gleichzeitig als Mittelpunkt der peripherischen Erdbebenlinie angesehen werden kann, fällt nun mit einer Gruppe von kleinen Inseln innerhalb der Liparen zusammen, welche die Trümmer eines einzigen mächtigen Kraters ausmachen.
Von dieser Gruppe gehen drei radiale Linien aus, die mit Ausbruchsstellen der Liparen besetzt sind. Es liegt nahe, diese radialen Vulkanlinien mit den radialen Stoßlinien in Verbindung zu bringen, und zwar in der Weise, daß man annimmt, der von der peripherischen Linie abgegrenzte Raum sinkt schüsselförmig ein, dabei entstehen radiale Sprünge, welche gegen die Liparen konvergieren und in der Nähe des Zentrums mit vulkanischen Ausbruchsstellen besetzt sind.
Wie wenig ausgebildet die Seismologie als exakte Wissenschaft ist, beweist der Umstand, daß die Seismologen über die wichtigsten Begriffsbestimmungen durchaus nicht einig sind, so z. B. in betreff des bedeutendsten seismischen Elements der Intensität eines Erdbebens. Geht man von der Voraussetzung aus, daß die Zerstörung eines Gebäudes proportional der Beschleunigung ist, die durch den Erdbebenstoß in einer mit der Erdoberfläche verbundenen Masse erzeugt wird; nimmt man ferner an, daß die Bewegung bei einer Erdbebenwelle eine einfache harmonische ist, so ist die Intensität I = V² / a= (4π²a) / t², wobei a = Amplitude, t = Periode der größten Welle ist, V = (2πa) / t die Geschwindigkeit bedeutet. Mechanisch läßt sich die Intensität als der Zerstörungseffekt definieren oder als die größte, von dem Impuls herrührende Beschleunigung. Um einen absoluten Wert der Erdbebenintensität zu erhalten, müßte man I in Bruchteilen der Beschleunigung der Schwerkraft ausdrücken; einfacher ist es jedoch, die Werte von I ¶