Erblichkeit.
Die Rätsel der Vererbung haben im verflossenen Jahre mehrere Untersuchungen gezeitigt, vor allem ein Werk mit statistischen Untersuchungen von Francis Galton, einem Vetter Darwins (»Natural inheritance«, Lond. 1889), in welchem der Beweis geführt wird, daß jede Abweichung der Eltern vom Mittel nur in geringem Maße Aussicht hat, vererbt zu werden, daß vielmehr bei den Nachkommen meist ein Rückfall zum Mittel bemerklich ist. Hugo de Vries (»Intracellular-Pangenesis«, Jena [* 2] 1889) hat die Pangenesistheorie Darwins (Bd. 5, S. 725) zu neuem Leben zu erwecken gesucht, indem er Darwins Keimchen (Pangene), die Träger [* 3] der erblichen Eigenschaften, als in jeder Zelle, [* 4] und zwar im Zellkern, vertreten annimmt, sich dort durch Teilung vermehren läßt, aber ihren Transport durch den Körper, worauf Darwin den eigentlichen Nachdruck legte, leugnet und sich darin den sogleich näher zu besprechenden Weismannschen Ansichten anschließt. Dafür, daß die Vererbungskräfte vornehmlich oder einzig in den Kernen der Befruchtungszellen zu ¶
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suchen sind, hat Boveri interessante experimentelle Beweise geliefert, indem er die Leichtigkeit, Bastardformen gewisser Seeigel durch künstliche Befruchtung [* 6] zu erzielen, und ein Verfahren der Gebrüder Hertwig, Seeigel-Eier zu entkernen, benutzte, um Mittelformen von Echinus [* 7] microtuberculatus und Sphaerechinus granularis aus teilweise oder völlig entkernten Eiern der letztern Art zu erzielen. Da die Bastardform mit keiner der beiden Eltern zu verwechseln ist, so ergab sich leicht, daß gewisse Larven, die nur denen der väterlichen Art ähnlich waren, aus entkernten Eiern der mütterlichen Form stammen mußten, während die richtigen Bastardformen (von denen manche unter dem Größenmittelmaß waren) aus den gar nicht oder nur teilweise entkernten Eiern hervorgegangen sein mußten. Damit scheint der Beweis erbracht, daß die erblichen Tendenzen wirklich, wie bereits die Gebrüder Hertwig und viele andre Naturforscher angenommen hatten, nur in den Zellkernen, nicht im Plasma wohnen.
Die Frage nach den Grenzen
[* 8] der Vererbung ist in den letzten Jahren mit ungemeiner Lebhaftigkeit erörtert
worden, nicht allein, weil die Dichter der neuen naturalistischen Schule, wie Zola, Ibsen, Echeparay, Hauptmann etc., dieselbe
mit Vorliebe zum Gegenstand ihrer Romane und Dramen gemacht haben, sondern weil von einer Reihe angesehener Naturforscher die
Erblichkeit
von außen erworbener Eigenschaften vollständig geleugnet wurde. Es ist dies die Weismannsche Schule,
welche von der Theorie einer Kontinuität des Keimstoffs ausgeht, d. h. von der Vorstellung, daß das im Körper der jeweiligen
Träger vorhandene Artplasma von diesen nicht aus den Körpersäften neu erzeugt, sondern nur ernährt, vermehrt und
weitergegeben werde, sofern es aus demselben Keimbildungsstoff abgesproßt sei, aus dem die Träger selbst entstanden
sind und so in ununterbrochener Folge weiter zurück bis an den Anfang der betreffenden Lebenslinie. Nach dieser Auffassung,
die sich sehr stark den alten Vorstellungen der Präformationslehre nähert, gibt es somit gar keine Erblichkeit
im gewöhnlichen Sinne,
denn der Keimstoff soll ja hiernach im wesentlichen derselbe bleiben und kann deshalb nur solche Eigenschaften
und Fähigkeiten entfalten, die in demselben von Anfang an lagen.
Die Anfänge dieser neuen Auffassung reichen bis 1876 zurück, in welchem Jahre gleichzeitig Gustav Jäger in Deutschland [* 9] und Francis Galton in England auf die schon Jahrzehnte ältern Beobachtungen hinwiesen, daß bei gewissen Tieren, namentlich Insekten, [* 10] die Entwickelung des Eies zum jungen Tiere damit beginnt, daß sich ein kleiner Zellenteil von der Hauptmasse des zum Körperaufbau dienenden Keimstoffs absondert, um, in das Innere des sich bildenden Körpers aufgenommen, dort den Grundstock des sich später vermehrenden Keimzellenvorrats zu bilden.
Obwohl das Auftreten von Keimzellen bei höhern Tieren meist erst viel später zu beobachten ist, so wurden jene Wahrnehmungen und die daran geknüpften Schlüsse doch von den oben genannten Naturforschern verallgemeinert, und Jäger meinte, daß der Keimstoff sich nach geschehener Befruchtung ganz allgemein in zwei Anteile spalte, einen ontogenetischen (Personalteil Raubers), aus dem sich der Körper des neuen Sprößlings aufbaut, und einen phylogenetischen (Germinalteil Raubers), der im Körper desselben aufgespeichert bleibt, um sich daselbst durch Zellteilung zu vermehren und den Stamm für die Absprossung neuer Fortpflanzungszellen zu bilden. Somit wäre ein ununterbrochener Zusammenhang nur für die Keimzellen gegeben, nicht aber für die den Körper (soma) aufbauenden somatischen Zellen, die erst sekundär aus den erstern entstehen, welche alle erblichen Anlagen der Art in ihren Kernen enthalten und bewahren, während die somatischen Zellen nur absterbende, vergängliche Formen bilden.
Man erkennt sogleich, daß aus dieser neuen Ansicht tiefgreifende Folgeschlüsse für die Erblichkei
tslehre entspringen müssen,
denn es werden hier zwei nebeneinander bestehende, sehr ungleichwertige Elementarteile des Körpers angenommen:
somatische oder Baustoffzellen, die aus den Keimzellen entstehen, und Keimzellen, die nicht aus somatischen Zellen, sondern
nur wieder aus Keimzellen entstehen können. Damit werden die somatischen Zellen, die den gesamten Körper mit Ausschluß des
Inhalts der Geschlechtswerkzeuge aufbauen, völlig dem Einfluß auf Erblichkei
tserscheinungen entzogen, und Veränderungen,
die nur ihr Wesen berühren, ihre Erstarkung oder Schwächung nach bestimmten Richtungen, alles, was man als Anpassung, Fortschritt
und Rückgang des Körpers durch äußere Einwirkung bezeichnet, auch Erkrankungen etc., welche nur die Körperzellen
betreffen, können nicht auf die Keimzellen einwirken: es kann mit einem Worte keine der von erstern erworbenen
Eigenschaften geben.
Auch der Einfluß dieser neuen Anschauung der Dinge auf die Vorstellungen vom Werden der Lebewelt springt sofort in die Augen. Denn die ältere, von Erasmus Darwin und Lamarck angebahnte Deszendenztheorie, nach welcher die Organe und Fähigkeiten der höhern Organismen durch Anstrengungen des Körpers in bestimmten Richtungen, durch Übung und Kräftigung der Organe, durch langsame Einflüsse von Klima, [* 11] Land und Umgebung, durch Wechselwirkung mit andern Organismen und Anpassung an bestimmte Bedürfnisse und Erfordernisse zu immer zweckmäßigern Formen fortgebildet sein sollen, könnte nicht richtig sein, wenn solche Veränderungen des Körpers nicht erblich wären und sich nicht in bestimmten Richtungen summieren könnten. Das durch äußere Einflüsse im Ringen des Individuums gegen dieselben Erreichte würde immer wieder mit demselben verschwinden, die Nachkommenschaft müßte in dieser Beziehung jedesmal wieder von vorn anfangen.
Damit steigt die Frage auf, wie denn die Weismannsche Lehre
[* 12] von der Nichterblichkeit
der durch äußere Verhältnisse und durch
die Anstrengungen des Organismus, sich mit denselben ins Gleichgewicht
[* 13] zu bringen, die Entstehung der zahllosen
Anpassungen an bestimmte Lebensverhältnisse und die durch die Paläontologie unwidersprechlich bewiesene Vervollkommnung der
Lebewesen im Laufe der geologischen Zeiten erklären wolle? Sie versucht dies, indem sie zu diesem Zwecke eine unbegrenzte Veränderungsneigung
im Keimbildungsstoff annimmt und sie durch die natürliche Zuchtwahl, d. h. das Überleben des Passendsten,
in die rechten, erfolgreichsten Wege leiten läßt. Es handelt sich also um eine gänzliche Verdrängung der sogen.
Lamarckschen (eigentlich ältern Darwinschen) durch die reine Darwinsche Zuchtwahltheorie. Als Hilfsmittel für die Erklärung
wird der dunkle Vorgang zu Hilfe gerufen, welchen man als die Austreibung der Richtungskörperchen (s.
Bd. 13, S. 817) bezeichnet hat, nämlich ein Austreten kleiner Keimstoffmengen aus den Keimzellen vor und nach der Befruchtung,
von welcher einzelne der zahlreichen, durch die beständige Kreuzung
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in die Keimmasse hineingetragenen Vererbungsrichtungen entfernt würden, so daß andre die Oberhand erhalten könnten. Es wäre dann nicht ausgeschlossen, daß dadurch auch angeborne Mißbildungen, wie Hasenscharte, Gliedmaßendefekte u. dgl., ja sogar bestimmte Krankheiten entstehen könnten, die dann als blastogene (d. h. im Keimstoff entstandene) Mangel auch erblich sein müßten, während durch äußere Ursachen, Verletzungen, Ansteckungen, Überanstrengungen gewisser Teile, z. B. des Gehirns etc., im übrigen Körper entstandene (somatogene) Mängel und Krankheiten nicht erblich sein könnten.
Es ist nach dem Gesagten leicht zu erkennen, daß für einen mit starker Phantasie begabten Forscher die Entwickelung des Naturlebens
auch ohne die Voraussetzung der Erblichkeit
durch äußere Einflüsse erzeugter Veränderungen
zu denken ist, und so erklärt sich, daß die Weismannsche Theorie in England großen Erfolg und sogar den Beifall des Mitentdeckers
der Darwinschen Theorie, Wallaces, gefunden hat. In Deutschland ist man ihr kritischer entgegengetreten, und mehrere der urteilsfähigsten
Forscher des darwinistischen wie des antidarwinistischen Lagers, z. B. Häckel, Fritz Müller, Virchow u. a.,
haben sie mehr oder minder entschieden abgelehnt.
Die neue Erblichkeit
stheorie weist in der That, so wünschenswert ihre Annahme wegen der Vereinfachung des Verständnisses
wäre, große Schwächen auf, die darin bestehen, daß sie einmal alle Fähigkeiten in den uranfänglichen Keimstoff hineinlegt
und ihn durch Verlust von Vererbungsrichtungen immer einseitiger und ärmer an Fähigkeiten, statt reicher
werden läßt, während man doch nur an das geistige Vermögen der höhern Tiere zu denken braucht, um zu sehen, wie groß
der wohl nur durch äußere Verhältnisse weckbare Zuwachs ist. Zweitens schlägt die Theorie aller Erfahrung des Volksurteils
wie der Ärzte, welche fest von der Vererbung von außen her erworbener Fähigkeiten und Mängel überzeugt
sind, ins Gesicht.
[* 15] Namentlich kann die der Geisteskrankheiten, die sicherlich nicht zu den blastogenen Krankheiten zu rechnen
sind, da man die erregenden äußern Ursachen in der Mehrzahl der Fälle zu erkennen im stande ist, als Gegenbeweis
angeführt werden.
Ebenso widerspricht die Naturforschung der mit so vielem Beifall aufgenommenen Lehre auf Schritt und Tritt. Die Weismannsche Theorie macht die Variabilität der Naturdinge, wie man sieht, von der geschlechtlichen Vermehrung abhängig. Nun geht aber die allgemeine Erfahrung der Naturforscher dahin, daß die niedersten pflanzlichen und tierischen Wesen sich durchweg auf ungeschlechtlichem Wege vermehren. Es hätten demnach niemals höhere Wesen und also auch keine mit geschlechtlicher Vermehrung entstehen können, wenn dieselbe streng richtig wäre.
Ferner würden ohne geschlechtliche Vermehrung niemals Varietäten entstehen können. Es ist aber im Gegenteil bekannt, daß die meisten Spielarten unsrer Bäume, z. B. die Blutbuchen, Trauerformen, die Arten mit panaschierten, weißen, zerschlitzten Blättern, besondere Frucht- und Blütenformen, am häufigsten an einzelnen Ästen und Zweigen eines Gewächses aufgetreten sind, ohne daß Ausstoßung von Richtungskörperchen u. dgl. ins Spiel treten konnte.
Fritz Müller hat auf besondere regelmäßige Veränderungen hingewiesen, die an Bananen eintreten, wenn sie den Boden an gewissen Bestandteilen erschöpft haben, und die sich erhalten, auch wenn dieselben wieder in bessern Boden verpflanzt werden. Auch der erbliche Rückschritt der Organismen durch Nichtgebrauch einzelner Organe scheint schwer mit der Lehre Weismanns in Einklang zu bringen, doch hat derselbe zur Erklärung eine besondere Theorie erdacht (s. Rückschritt).
Als eigentlicher Prüfstein sollte die Nichterblichkeit
der Folgen von Verletzungen dienen, weil man in
vielen Fällen von schwanz- und hornlosen Nachkommen solcher Tiere gesprochen hatte, die durch gewaltsame Eingriffe dieser Teile
beraubt worden waren. Auf der Insel Man züchtet man seit langer Zeit schwanzlose Katzen,
[* 16] in Brasilien
[* 17] eine hornlose Rinderrasse,
und es wurde dann wohl erzählt, bei welcher Gelegenheit die Stammart diese Teile verloren hatte. Um
hierüber zu einem beweiskräftigen Ergebnis zu kommen, legte Weismann eine Zucht weißer Mäuse an, denen regelmäßig die
Schwänze abgehackt wurden, ohne daß unter 849 aus der Paarung solcher verstümmelter Eltern erzielten Jungen auch nur ein
einziges Stück mit Stummelschwanz oder sonstiger Schwanzmißbildung gefunden worden wäre.
Dieses Ergebnis konnte aber vorausgesehen werden und ist thatsächlich vorausgesagt worden, denn wir wissen, daß bei niedern
wirbellosen Tieren ziemlich allgemein und selbst noch bei niedern Wirbeltieren, wie Molchen und Eidechsen,
[* 18] verloren gegangene
Beine und Schwänze schon während des Lebens neu ergänzt werden; es wäre demnach geradezu zu verwundern,
wenn eine solche Ergänzung nicht wenigstens bei der vollständigen Verjüngung des Vorfahren im Neugebornen eingetreten wäre.
Ganz falsch ist daher der Schluß, daß mit solchen Versuchen die Nichterblichkeit
von Verletzungen und deren Folgen wirklich
bewiesen sei.
Schon lange vorher war aus den diesbezüglichen Erfahrungen von Darwin und andern Forschern geschlossen worden, daß Verletzungen und andre gewaltsame Eingriffe nur dann Anlaß zu erblichen Folgen geben, wenn sie ein langwieriges Siechtum erzeugen und damit Einfluß auf die Körperkonstitution gewinnen. Darum sind besonders Nervenverletzungen in ihren dem Zentrum nähern Teilen, indem sie die Ernährungsthätigkeit der von ihnen versorgten Organe stören, leicht von erblichen Folgen begleitet, und Brown-Séquard hat den Mißerfolgen von Weismann eine trotz ihrer großen Zahl noch höhere Summe von Beispielen mit vorhergesagter erblicher Folge vorausgehen lassen, indem er durch Verletzung von Nervensträngen bei Meerschweinchen ganz bestimmte erbliche Folgeübel erzeugte.
Wenn aber schon durch so jähe Eingriffe von außen her Erbkrankheiten erzeugt werden können, wieviel sicherer müssen dann die langsamen konstitutionellen Veränderungen vererbt werden, die durch Aufenthalts- und Klimawechsel, veränderte Nahrung und Lebensweise sowie durch andre, jahrhundertelang fortgesetzte äußere Einflüsse auf die Organismen erzeugt wurden! Und da durch die letztern die Mannigfaltigkeit der Organismen in ihrer Gestalt und Färbung, Ausrüstung und Anpassung an bestimmte Lebensverhältnisse, z. B. der Blumenformen an bestimmte Insekten, die ihre Befruchtung vollziehen, viel leichter verständlich wird, so muß mit doppeltem Mißtrauen eine neue Lehre geprüft werden, die trotz ihrer zahlreichen Anhänger der Begründung durch klare Thatsachen entbehrt.
Vgl. Weismann, Über die Vererbung (Jena 1883);
Derselbe, Die Kontinuität des Keimprotoplasmas als Grundlage einer Theorie der Vererbung (das. 1885);
Derselbe, Über die Zahl der Richtungskörper und ihre Bedeutung für die Vererbung (das. 1887);
Derselbe, Über ¶