Epigraphik
(grch.) oder Inschriftenkunde, derjenige Teil der Altertumswissenschaft, der das Verständnis der in Metall, Stein oder andern dauerhaften Stoffen eingegrabenen Inschriften (grch. epigraphai; lat. inscriptiones) vermittelt. In vielen Fällen, wo die sonstige Litteratur eines Volks vollständig untergegangen, ist man sogar ausschließlich auf die Inschriften angewiesen, so z. B. bei den Assyrern, Phöniciern, Phrygern, Lykern, ebenso wie bei manchen Dialekten von Hellas und Italien. Von den semitischen Inschriften sind besonders hervorzuheben: die für die Geschichte der Schrift besonders wichtige Stele des Mesa, Königs von Moab (um 890 v. Chr.), der Sarkophag des Eschmunazar und die Siloahinschrift; sonst überwiegen die sakralen und Grabinschriften; viele sind, obwohl formelhaft und bedeutungslos, dennoch wichtig durch den Ort, wo sie gefunden wurden, nämlich an den verschiedensten Punkten des Mittelmeers, soweit der phöniz. Handel reichte. Eine Zusammenstellung aller semit. Inschriften ist von der Französischen Akademie begonnen durch das «Corpus inscriptionum semiticarum» (Par. 1881 fg.).
Viel größer ist die Wichtigkeit der griechischen und römischen Inschriften; ursprünglich wurde allerdings gar nicht, und dann wenig geschrieben; es existieren keine Inschriften in griech. Sprache, die älter wären als etwa 620 v. Chr.; die lateinischen sind noch bedeutend jünger, denn die älteste von allen, die linksläufige Duenosinschrift, gehört ungefähr in die Zeit von 350 v. Chr. Für die spätere Zeit wird aber das epigraphische Material sehr umfangreich, und die Kenntnis des Altertums ist dadurch nicht nur auf eine breitere, sondern auch eine festere Grundlage gestellt. Die Masse der Inschriften in Rom während der Kaiserzeit war so groß, daß allein beim Brande des Kapitols unter Vespasian 3000 öffentliche Urkunden vernichtet wurden. Fast noch wichtiger sind die Inschriften für das Privatleben der Alten; von der Geburt des Menschen bis zum Tode giebt es kaum irgend einen Abschnitt, irgend ein freudiges oder trauriges Ereignis, das sich nicht in den Inschriften widerspiegelt.
Die antiken Historiker haben die Masse des inschriftlichen Materials, die ihnen zu Gebote stand, nicht in der Weise ausgenutzt, die zu wünschen wäre; selbst Thucydides erlaubt sich Abweichungen vom Wortlaut, und Tacitus zieht es vor, statt der im Original erhaltenen Rede des Kaisers Claudius eine frei komponierte einzulegen. Daß im Mittelalter das Studium der antiken Epigraphik nicht gepflegt wurde, ist nicht wunderbar, im Gegenteil ist es zu verwundern, daß selbst im 9. Jahrh. die röm. Inschriften berücksichtigt wurden: aus dieser Zeit stammt die berühmte, sehr sorgfältige Sammlung des Anonymus Einsidelensis. Erst in der Renaissancezeit fing man an, den Inschriften wieder mehr Aufmerksamkeit zuzuwenden, und Jahrhunderte hindurch war Italien das Land der Inschriften und zugleich der Inschriftenkunde. Hier entstanden eine Reihe der wichtigsten Sammlungen. (Vgl. De Rossi, Le prime raccolte d'antiche inscrizioni im «Giornale Arcadio», 127, 128.) Schon Cola di Rienzi, der letzte der Tribunen, hatte eifrig kopiert und gesammelt, ebenso Poggio (1380-1459) und Cyriacus von Ancona (1391, gest. vor 1457), der von seinen weiten Reisen in den Orient auch griech. Kopien mit heimbrachte. In Spanien fing man am Ende des 15. Jahrh., in Frankreich Mitte des 16. Jahrh. an zu sammeln; die erste deutsche Sammlung: «Inscriptiones sacrosanctae vetustatis», gaben P. Apianus und B. Amantius (Ingolstadt 1534) auf Kosten R. Fuggers heraus. Von den Holländern ist M. Smetius aus Brügge zu nennen, dessen vorzügliche Sammlungen erst später durch Lipsius (Leid. 1588) herausgegeben wurden. In die zweite Hälfte des 16. Jahrh. fallen auch die besonders für die
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lateinische Epigraphik verhängnisvollen großartigen Fälschungen des neapolit. Architekten Pirro Ligorio, die bis in das 19. Jahrh, herab in den Inschriftensammlungen eine bedeutende Rolle spielen; am wenigsten noch in den von Janus Gruter herausgegebenen «Inscriptiones antiquae totius arbis Romani» (Heidelb. 1602; neue vermehrte Ausg. von J. G. Grävius, Amsterd. 1707). Die Anregung zu dieser großartigen Sammlung war von J. Scaliger aufgegangen, der auch einen mustergültigen epigraphischen Index dazu anfertigte. Darauf folgte die große Sammlung von L. A. Muratori, «Novus thesaurus veterum inscriptionum» (4 Bde., Mail. 1739-42; mit Ergänzungen von Seb. Donati, 2 Bde., Lucca 1765).
An der Spitze der neuern Epigraphiker stehen Gaëtano Marini (1742-1815), dessen epochemachendes Werk «Gli atti dei fratelli Arvali» (Rom) 1795 erschien, und sein Schüler Bartolomeo Borghesi (1781-1860), dessen zerstreute Aufsätze in den «Œuvres épigraphique» (3 Bde., Par. 1864-69) gesammelt wurden. Da sich das epigraphische Material von Jahr zu Jahr mehrte, so wurde das Bedürfnis nach einem neuen «Corpus inscriptionum» schon längst lebhaft empfunden; besonders war es Olaus Kellermann, ein dän. Gelehrter, der sich mit diesem riesigen Plane trug, aber durch den Tod (1837) an der Ausführung gehindert wurde; auch franz. Projekte hatten keinen Erfolg, bis die Berliner Akademie die Sache in die Hand nahm und nach längerm Schwanken die Aufgabe dem bedeutendsten der jetzt lebenden Epigraphiker, Th. Mommsen, übertrug, dessen «Inscriptiones regni Neapolitani latinae» bereits (Lpz. 1852) erschienen waren. Dem ersten Bande des «Corpus inscriptionum latinarum» (Berl. 1863), der die Inschriften republikanischer Zeit zusammenfaßte, gingen als Vorläufer die von Ritschl bearbeiteten «Priscae latinitatis monumenta epigraphica» (Berl. 1862) voran; dann erschienen die weitern Bände nach der geogr. Reihenfolge der röm. Provinzen geordnet, bearbeitet von Mommsen, Henzen, Hirschfeld, Hübner, Zangemeister u. a. Die von Wilmanns gesammelten afrik. Inschriften im 8. Bande wurden 1881 von Mommsen herausgegeben. Das riesige Werk ist (1894) bis zum 15. Bande vorgeschritten, während 1893 eine 2. Auflage der ältern Bände zu erscheinen begonnen hat. Die nötigen Ergänzungen bietet die «Ephemeris epigraphica» (Berl. seit 1872), von der bis 1892 8 Bände erschienen sind. Eine Auswahl der wichtigsten lat. Inschriften als Hilfsmittel besonders für akademische Vorlesungen bietet das Werk von G. Wilmanns «Exempla insciptionum latinarum» (2 Bde., Berl. 1873). - Vgl. auch Handbuch der klassischen Altertumswissenschaft, hg. von J. Müller, Bd. 1 (2. Aufl., Münch. 1892); Cagnat, Cours d'épigraphie latine (2. Aufl., Par. 1889); de Ruggero, Dizionario latine (Rom 1886 fg.).
Die in dem «Corpus» nicht berücksichtigten Inschriften der italischen Dialekte sind gesammelt von A. Fabretti, «Corpus inscriptionum italicarum» (Tur. 1867; mit Glossar und drei Nachträgen, ebd. 1872-78), ferner von Lepsius, «Inscriptiones Umbriace et Oscae» (Lpz. 1841) und Zvetaieff, «Sylloge inscriptionum oscarum» (Petersb. 1878). Ein «Corpus inscriptionum etruscarum» von Pauli erscheint seit 1893 (Leipzig).
Die griechische Epigraphik, obwohl bis in das 19. Jahrh. neben der lateinischen meist stiefmütterlich behan-
delt, erlangte dennoch neuerdings früher als erstere auf Veranstaltung der Berliner Akademie ein zusammenfassendes «Corpus inscriptionum graecarum», begonnen von A. Böckh, dann fortgeführt von Ernst Curtius und A. Kirchhoff (4 Bde., Berl. 1825-77). Allein diese für die damalige Zeit hoch bedeutende Leistung genügt heute nicht mehr, namentlich weil damals die Mittel fehlten, im Orient eigene Abschriften anfertigen zu lassen. Auch das Material hat sich inzwischen stark vermehrt. Das Böckhsche «Corpus» ist daher zum Teil ersetzt gleichfalls auf Veranlassung der Berliner Akademie durch die «Inscriptiones graecae antiquissimae», hg. von H. Röhl (Berl. 1882), das «Corpus inscriptionum atticarum», hg. von A. Kirchhoff, U. Köhler, W. Dittenberger (ebd. 1873 fg.), die «Inscriptiones graecae Sicilae et Italiae», hg. von Kaibel (ebd, 1890), und das «Corpus inscriptionum graecarum Graeciae septentrionalis» (ebd. 1892). Für den Rest ist man immer noch angewiesen u.a. auf drei große Sammlungen: die in Athen seit 1837 mit längern Unterbrechungen unter der Redaktion erst von Pittakis, dann der Archäologischen Gesellschaft erscheinende «Ephemeris Archaeologike», A. Rangabe's «Antiquités helléniques» (2 Bde., Athen 1842-55) und Phil. Le Bas' «Voyage archéologique en Grèce et en Asie mineure» (Bd. 1-6, Par. 1847-77), deren Bearbeitung von Waddington und Landon fortgesetzt, aber nie zu Ende geführt wurde. Dialektisch wichtige Inschriften sind zusammengestellt von P. Cauer, «Delectus inscriptionum graecarum propter dialectum memorabilium» (2. Aufl., Lpz. 1883); Collitz, «Dialektinschriften» (Gott. 1885), historisch-antiquarisch wichtige von Dittenberger, «Sylloge inscriptionum graecarum» (2 Bde., Lpz. 1883). Zur Einführung in das Studium ist außer Franz, «Elementa epigraphices graecae» (Berl. 1840), auch C. T. Newton, «Die griech. Inschriften» (übersetzt von J. Imelmann, Hannov. 1881), und S. Reinach, «Traité d'epigraphie grecque» (Par. 1885), zu empfehlen. Für die Geschichte der griech. Schrift besonders der ältern Zeit ist die bedeutendste Leistung die von A. Kirchhoff, «Studien zur Geschichte des griech. Alphabets» (4. Aufl., Gütersloh 1887).
Die christliche Epigraphik wird in Deutschland weniger gepflegt. Das griech. «Corpus» hat zwar nicht die christlichen principiell ausgeschlossen, bietet aber doch im vierten Bande nur eine mangelhafte und willkürliche Auswahl; auch das lateinische hat die christlichen Epigraphik nicht gänzlich ausgeschlossen. Hier aber laufen die Fäden zusammen in Rom bei J. B. de Rossi, dem berühmten Herausgeber der «Inscriptiones christianae urbis Romae VII saculo antiquiores» (2 Bde., Rom 1861-88). Landschaftlich geordnete Sammlungen lieferten Le Blant, «Inscriptions chrétiennes de la Gaule» (Par. 1855-65), und Hübner, «Inscriptions Hispaniae christianae» (Berl. 1871); ders., «Inscriptiones Britanniae christianae» (ebd. 1876).