[* ] (Ontogenie), die Wissenschaft von der Entwickelung des pflanzlichen oder tierischen Lebewesens
von der Eizelle an bis zu seiner Vollendung; sie umfaßt also nicht nur die Embryologie (s. Embryo), sondern auch alle
spätern Metamorphosen. Bis zur Mitte des vorigen Jahrhunderts hatte man im Sinn der Evolutions- oder Präformationstheorie angenommen,
daß die Entwickelung des Embryos nur auf einer Entfaltung von Teilen beruhe, welche im Ei bereits vorgebildet vorhanden seien.
Diese Anschauung gipfelte konsequenterweise in der Einschachtelungstheorie, nach welcher jede Tier- oder Pflanzenart ursprünglich
nur in einem Individuum oder Paar vorhanden gewesen sein sollte, welches aber die Keime aller folgenden Individuen derselben
Art, einen in dem andern eingeschachtelt, enthalten habe. Auf einer Auswickelung solchergestalt eingeschachtelter vorgebildeter
Teile sollte demnach alle Entwickelung beruhen. Diesen Anschauungen machte K. F. Wolff ein Ende, indem er 1759 in seiner
»Theoria generationis« den Nachweis führte, daß der Embryo aus einer Reihe von Neubildungen hervorgeht, welche durch die Zeugungsstoffe
veranlaßt, aber in keiner Weise, weder im Ei noch im Sperma, vorgebildet vorhanden sind (Epigenesis-, Postformationstheorie).
Allein Wolff war seinen Zeitgenossen viel zu weit vorangeeilt, und das Ansehen seiner Gegner, an deren
Spitze A. v. Haller stand, war zu groß, als daß seine Leistungen nach Gebühr hätten gewürdigt werden können; deshalb gerieten
seine Arbeiten in Vergessenheit, bis Merkel 1812 einzelne Teile derselben von neuem herausgab. Durch Oken wurde die Entwickelungsgeschichte zu derselben
Zeit zwar genauer studiert, aber zugleich in den Dienst einer besondern naturwissenschaftlichen Theorie
gestellt, nach welcher aller tierischen Entwickelung das Ziel der Menschwerdung zu Grunde liegen sollte, so daß die niedern
Tiere nur als eine Art Hemmungsbildung des Menschen, als Wesen, die auf dem Weg der Menschwerdung auf einer niedern Stufe stehen
geblieben seien, betrachtet wurden, während der Mensch und die höhern Tiere umgekehrt in ihrer Entwickelung
durch alle niedern Stufen hindurchgehen müßten.
Diese in Deutschland namentlich durch Oken, Rudolphi, in Frankreich durch Etienne Geoffroy de Saint-Hilaire und Serres verteidigte
sogen. Hemmungstheorie setzte, wie man sieht, die Einheit des Plans sämtlicher Tiere voraus und mußte erst durch Baer und
Cuvier widerlegt werden, bevor das Studium der Entwickelungsgeschichte emporblühen konnte. Der Aufschwung derselben begann mit den Forschungen
von Pander und Baer, welche von Döllinger in Würzburg zu erneuerten Forschungen auf diesem Gebiet veranlaßt worden waren.
Pander ist der Urheber der sogleich näher zu erwähnenden Keimblättertheorie, während Baer zum erstenmal die
Entwickelung höherer Wirbeltiere durch alle Stadien und in allen Einzelheiten genau verfolgte, weshalb er auch mit Recht als
der »Vater der Entwickelungsgeschichte« bezeichnet wird. Das Resultat dieser Untersuchungen war, daß die Tiere nicht nach einheitlichem Plan sich
mehr
entwickeln, und daß man wenigstens vier verschiedene Hauptabteilungen unterscheiden müsse, daß die Entwickelung stets vom
Allgemeinen ins Spezielle gehe, und daß sich zuerst die Kennzeichen der Klasse, dann die der Ordnung und hierauf nacheinander
die der Familie, Gattung und Art ausbilden. So erkennt man beim Hühnchen zuerst nur das Wirbeltier, dann
den Vogel, hierauf einen Angehörigen der Scharrvögel, das Huhn, und zuletzt die spezielle Art. Damit blieben aber die Thatsachen
unerklärt, auf welche die Okensche Schule ihre Hemmungstheorie gestützt hatte, daß nämlich höhere Tiere wirklich in ihrer
Entwickelung durch gewisse Zustände hindurchgehen, die bei tiefer stehenden Tieren bleibend sind, also
z. B. der lungenatmende Frosch durch den Zustand eines Kiementiers, und diese Thatsache war um so frappanter, als man bald
hernach auch bei den Embryos der höhern Wirbeltiere, die niemals durch Kiemen atmen, bis zum Menschen hinauf das Auftreten von
Kiemenspalten und andern Einrichtungen bemerkte, die bei niedern Tieren bleibend sind.
Für diese embryologischen Thatsachen konnte erst die durch Darwin zum Siege gelangte Deszendenztheorie die gesuchte Erklärung
geben, und hier waren es Huxley, O. Schmidt, Fritz Müller, Häckel u. a., welche bald den Zusammenhang darlegten. In zweifellosester
Weise gelang dies Fritz Müller (1865) durch seine Studien über die Entwickelung der Krebse, indem er zeigte,
daß Arten aus den verschiedensten Krebsfamilien, die im ausgewachsenen Zustand nur eine ziemlich entfernte Verwandtschaft
und nicht die geringste Ähnlichkeit miteinander zeigen, anfangs in fast gleicher Gestalt als sogen. Nauplius-Larve erscheinen.
Es ist dies ein kleines, sechsfüßiges Tier mit einem unpaarigen Ange auf dem Kopf, und einzelne niedere
Krebsformen gehen zeitlebens nur wenig über seine Gesamtorganisation hinaus.
Mit derselben Form beginnen aber auch gewisse Garneelen, die den höchsten Krebsfamilien angehören, ihre Entwickelung und
gehen
dann durch andre Larvenformen hindurch, die man als Zoëa- und Mysis-Larven bezeichnet hat, weil sie gewissen mittlern
Krebsgeschlechtern gleichen; kurz, der Schluß, wurde unabweisbar, daß die Nauplius-Larve dem gemeinsamen
Ahnen des Krebsgeschlechts gleiche, und daß die höhern, vollkommener differenzierten Krebsarten von den mittlern Formen abstammen,
deren Nachbilder ebenfalls in den Metamorphosen ihrer Larve auftreten.
Ganz unabweisbar wurde dieser Schluß bei jenen Krebsarten, die im erwachsenen Zustand zu einem Klumpen ohne alle Gestaltung
entartet sind, und deren Zugehörigkeit zum Krebsgeschlecht fast nur noch an der Nauplius-Larve oder durch
die Entwickelung überhaupt erkennbar ist (s. Entartung). Auf diese Thatsachen begründete Fritz Müller die Folgerung, welche
Häckel unter dem Namen des biogenetischen Grundgesetzes kurz dahin formuliert hat: die Entwickelungsgeschichte des Individuums (Ontogenesis) ist
die abgekürzte Wiederholung seiner Stammesgeschichte (Phylogenesis).
Dieser Schluß hat sich seither in tausendfältiger Weise bewährt und das Studium der Entwickelungsgeschichte zu einer der wichtigsten Erkenntnisquellen
sowohl für die Ermittelung der natürlichen Verwandtschaften als besonders der Abstammung der Organismen erhoben. Freilich
ist diese Quelle eine nur mit großer Vorsicht zu benutzende, weil nicht immer ungetrübte, wie dies schon
Fritz Müller erkannte. Die in der Entwickelungsgeschichte erhaltene geschichtliche Urkunde wird nämlich allmählich verwischt, indem die Entwickelung
einen immer geradern Weg vom Ei zum fertigen Tier einschlägt, sie wird außerdem sowohl, wenn das Tier sich nicht frei, sondern
in einem Ei entwickelt, als auch, indem es als Larve den Einflüssen des Kampfes ums Dasein ausgesetzt wird,
nachträglich verändert, also im Hinblick auf den getreuen Bericht der Stammesgeschichte gefälscht, und das ist, was Häckel
als Fälschungsgeschichte (Cenogenesis) bezeichnet. Das biogenetische Grundgesetz gibt uns demnach, wenn mit der
[* ]
^[Abb.: Entwickelungszustände von Monoxenia Darwinii. Vergrößert.]
mehr
nötigen Vorsicht angewendet, die wichtigsten Aufschlüsse darüber, warum sich viele Tiere, statt direkt, auf so vielen Umwegen
entwickeln, und warum sie zuerst die Kennzeichen der höhern Abteilungen und dann erst die der niedern und der Art erkennen
lassen, denn die Art ist ja das jüngst entstandene Glied dieser Formenkette; es erklärt ferner die Erscheinungen
des Atavismus, vieler Mißbildungen und vor allem die natürliche Verwandtschaft der Wesen. Daher der ungeheure Aufschwung, den
das Studium der Entwickelungsgeschichte in der Neuzeit genommen hat.
Nach dieser geschichtlichen Einleitung bleibt uns noch übrig, kurz den allgemeinen Gang der tierischen Entwickelung anzudeuten.
Die Entdeckung von Schwann und Schleiden, daß die Zelle das Elementarorgan ist, aus welchem sich jeder zusammengesetzte
organische Körper aufbaut, führte bald zu genauern mikroskopischen Studien über den Aufbau der Gewebe, und es zeigte sich,
daß jedes tierische (oder pflanzliche) Wesen seine Entwickelung als einfache Zelle beginnt.
Auch bei den höhern Wirbeltieren ist das weibliche Ei, wie es aus dem Eierstock kommt, eine solche einfache
Zelle. Dieselbe unterliegt dann nach der Befruchtung zunächst dem von Prevorst und Dumas (1824) entdeckten Furchungsprozeß
oder der Segmentation, d. h. sie teilt sich zuerst in 2 Zellen und diese durch wiederholte Doppelteilung in 4, 8, 16, 32 etc.
Zellen
[* ]
(Fig. A, B, C, D), die zuletzt einen kugeligen Klumpen, die sogen. Maulbeerlarve (Morula,
[* ]
Fig. E),
bilden. Hierauf treten die einzelnen Zellen auseinander und bilden einen mit Flüssigkeit gefüllten Hohlraum, die Flimmerlarve,
auch Blasenkeim (Planula oder Blastula) genannt
[* ]
(Fig. F, G). Indem sich diese aus einer einzigen Lage von Wimperzellen
bestehende Hohlblase durch Einstülpung (Invagination,
[* ]
Fig. H) oder, wie es in einzelnen Fällen geschehen soll, durch Teilung
ihrer Wandzellen in einen aus einer doppelten Zelllage bestehenden Hohlsack mit Mundöffnung verwandelt, entsteht die sogen.
Darmlarve oder Gastrula
[* ]
(Fig. I, K), auch Becherkeim, welche nach Häckel die letzte, allen echten, vielzelligen Tieren
(Metazoen) gemeinsame Grundform darstellt.
In der That ist der bis hierher beschriebene Entwickelungsgang bei den Tieren der verschiedensten Klassen derselbe, obwohl
die Gastrula-Larve unter mancherlei abgeleiteten Formen auftritt, und Häckel schloß daraus nach seinem oben erwähnten »biogenetischen
Grundgesetz«, daß die Gastrula-Larue das Nachbild einer gemeinsamen Ahnenstufe aller höhern Tiere sei,
der sogen. Gasträa, von der noch heute zu den Pflanzentieren gerechnete Verwandte (»Gasträaden der Gegenwart«) leben,
deren Körper zeitlebens nur aus einer doppelten Zellenschicht besteht. Es ist dies die vielgenannte Häckelsche Gasträatheorie,
die von mehreren Zoologen verworfen wird, indem sie annehmen, es seien einzig tektonische Ursachen, welche einen derartigen
Verlauf der ersten Entwickelung aller Tiere bedingen.
Auf diese Weise sind zwei deutlich unterschiedene Zellenschichten entstanden, welche den schon von Pander entdeckten primären
Keimblättern entsprechen, das die Innenwand der Gastrula auskleidende Magen- oder Innenblatt, auch unteres Keimblatt (Entoderm)
genannt, und das sie bedeckende Hautblatt oder äußere Keimblatt (Exo- oder Ektoderm), welche die Grundlage
aller fernern Entwickelung der Tiere bilden und zwar so, daß stets aus dem Hautblatt die Körperbedeckungen, das Nervensystem
und die Sinnesorgane hervorgehen, weshalb es auch Hautsinnesblatt genannt wird,
während sich aus dem Magenblatt die Schleimhaut
des Magens und die Eingeweide bilden.
Huxley wies 1849 die sogen. Homologie der Keimblätter, d. h. ihre Gleichwertigkeit durch alle Tierklassen,
nach und zeigte, daß der Körper der meisten Pflanzentiere zeitlebens nur aus diesen beiden Zellenschichten und deren Derivaten
besteht. Bei höhern Tieren bildet sich indessen zwischen beiden bald noch ein mittleres, sekundäres Keimblatt (Mesoderm)
oder auch zwei sekundäre Keimblätter, woraus die verschiedenen Muskelsysteme hervorgehen. Über den
Ursprung und die Beziehungen sowie die weitern Umbildungen der Keimblätter haben namentlich Remak im Beginn der 50er und Kowalewsky
um die Mitte der 60er Jahre gearbeitet, und in neuester Zeit haben Häckel, van Beneden, Balfour, Ray. Lankester, die Gebrüder
Hertwig u. a. darüber gearbeitet.
Bei der weitern Entwickelung der Tiere krümmen und falten sich diese drei Platten in der mannigfaltigsten
Weise, schließen sich an der Bauchseite röhrenförmig zusammen und bilden so die Grundlage des Embryos, über dessen weitere
Entwickelung bei den höhern Wirbeltieren der Artikel »Embryo« zu vergleichen ist.
Vgl. Wolff, Theoria generationis (Halle 1759);
v. Baer, der Tiere (Königsb. 1828-37, 2 Bde.);
Remak, Untersuchungen über die Entwickelung der Wirbeltiere (Berl. 1850-55);
Rathke, der Wirbeltiere (Leipz. 1861);
Balfour,
Handbuch der vergleichenden Embryologie (deutsch, Jena 1880-1881, 2 Bde.);
Häckel, Biologische Studien (das. 1876-77);
Derselbe,
Ziele und Wege der heutigen Entwickelungsgeschichte (das. 1875);
Derselbe, Anthropogenie, Entwickelungsgeschichte des Menschen (4. Aufl., Leipz. 1881);
Kölliker, Entwickelungsgeschichte des Menschen (2. Aufl., das. 1879);
Derselbe, Grundriß der Entwickelungsgeschichte des Menschen und der höhern Tiere (2. Aufl., das.
1884);
His, Unsre Körperform und das physiologische Problem ihrer Entstehung (das. 1875).
[* ] Die Lehre von der Rekapitulation in der Entwickelungsgeschichte, das von Fritz Müller entdeckte und von Häckel formulierte
sogen. biogenetische Grundgesetz, nach welchem jedes junge Wesen die Formenzustände seiner Ahnen durchlaufen und »seinen eignen
Stammbaum erklettern« muß, hat in den letzten Jahren zahlreiche Angriffe, namentlich von seiten Karl Vogts,
erfahren, die sich vorzugsweise gegen die Unterlehre von der nachträglichen
mehr
Veränderung (Cenogenesis oder Fälschungsgeschichte) des Keimlebens richteten. Aber in einer glänzenden Rede, mit welcher
Marshall die biologische Sektion der britischen Naturforscherversammlung 1890 eröffnete, hat derselbe gezeigt, daß dieser
Theorie an Fruchtbarkeit für die Wissenschaft kaum eine andre an die Seite gestellt werden kann, und daß die Schwierigkeiten
derselben sehr wohl erklärt und begriffen werden können. Daß die Bildungen der lebenden Wesen nicht
ohne ihre Entwickelungsgeschichte verstanden werden können, zeigen besonders auffallend die abweichenden Formen, wie Seitenschwimmer unter den
Fischen, deren Auge wir aus der normalen Lage nach der Oberseite wandern sehen, oder die Napfschnecken (Patella-Arten), deren
unter den Genossen ganz fremdartige Schale sich als spätere Errungenschaft dadurch verrät, daß der
Embryo ein spiraliges Gehäuse hat wie alle andern Schnecken.
Die abweichende Bildung innerer Organe wird oft nur durch die Entwickelungsgeschichte klar verständlich, so z. B.
die seitliche Lage der Sehlappen beim Vogelgehirn, denn vor dem Ausschlüpfen aus dem Ei liegen sie, wie
bei allen andern Wirbeltieren, an der dorsalen Fläche. Dies gilt nicht nur für die höhern Formen, sondern ebenso für die
niedern, und gerade bei einer jetzt lebenden Foraminifere (Orbitolites tenuissima) konnte Carpenter nachweisen, daß sie in
ihrem Wachstum die Stadien älterer und einfacher gebauter Foraminiferen in allen Einzelheiten genau rekapituliert,
also denselben Vorgang, den Würtenberger an den fossilen Ammonitengehäusen nachwies, darbietet.
Diese Verfolgung wird besonders wichtig für das Verständnis der rudimentären Organe, die, wie schon Darwin bemerkte, am
Embryo meist von relativ oder sogar absolut größerm Umfang als beim erwachsenen Wesen sind, da der Embryo dasjenige Stadium
des Stammbaums zurückruft, in welchem sie noch funktionell thätig waren. Durch ihre vollendete Rückbildung
kann das erwachsene Tier manchmal kleiner werden, als seine Larve war, z. B. beim sogen. Fisch- oder Trugfrosch (Pseudis paradoxa)
von Surinam, der zur Sage, ein Fisch verwandle sich in einen kleinen Frosch, Veranlassung gab.
Zugleich wird es erst durch genauere Verfolgung der Entwickelungsgeschichte verständlich, weshalb
solche den Ahnen eines Tieres schon vor vielen Jahrtausenden verloren gegangene Organe (z. B. die Kiemenspalten bei Säugetieren)
immer wieder erscheinen, weil sich nämlich andre, noch jetzt im Gebrauch befindliche Organe aus ihrem Material oder in inniger
Beziehung zu demselben bilden. Dadurch liegt auch, wie Kleinenberg in seiner Arbeit über Lopadorhynchus
gezeigt hat, die wahrscheinliche Ursache der ganzen Erscheinung.
Man hatte schon gegen Darwin die Einwendung gemacht, neue Organe könnten nicht durch die Zuchtwahl hervorgebracht werden, da
ihre Anfänge nutzlos wären. Nun entstehen aber neue Organe fast immer durch die Umbildung und den Funktionswechsel
andrer schon vorhandener, z. B. die Lunge der Luftwirbeltiere aus der Schwimmblase der Fische, die Füße, Fühler und Kiefer der
Artikulaten aus Seitenanhängen, die früher eine andre Thätigkeit hatten. Damit nun in der Entwickelung des Individuums die
neuen Organe gebildet werden können, müssen aber die frühern, aus denen sie entstanden sind, wenigstens
in den Anfängen angelegt werden, damit der fortwirkende Reiz, die entsprechende Gliedkette nicht fehle, da sich jede Vollendung
durch nicht zu überspringende Stufen vollzieht.
Wieviel hier noch zu entdecken sein wird, läßt sich leicht aus der Thatsache erkennen, daß man bei sehr vielen
Tieren noch
nicht einmal den Anfang gemacht hat, die Entwickelungsgeschichte zu studieren, um dadurch Anhaltepunkte
für die Stammesgeschichte zu erhalten. So z. B. fehlt uns, trotz der großen Fortschritte
der Neuzeit, ein klarer Einblick in die Stammesgeschichte der Säugetiere, so viele fossile Überreste wir auch von ihnen
kennen. Aber das ist nicht zu verwundern, da wir nicht einmal von einem einzigen unsrer Haustiere die
vollständige, unschwer festzustellende Entwickelungsgeschichte kennen.
Diejenige des Pferdes z. B. hat vollständig aus den fossilen Überresten rekonstruiert werden können,
und die neuern Arbeiten am lebenden Tier, z. B. die Untersuchungen Klevers am Pferdegebiß, haben dieselbe wertvoll ergänzt,
aber dieses günstige Ergebnis war nur dadurch möglich, daß die Pferde in allen ihren Vorstufen große
Herden in den gemäßigten Zonen gebildet haben, so daß verhältnismäßig zahlreiche Reste von ihnen gefunden wurden, wie
dies bei andern seltenen Tieren nicht der Fall ist.
Hier wird die Untersuchung am lebenden Tier also noch viel zu ergänzen haben, weil sie ja einerseits
gewissere Ergebnisse als die Paläontologie gibt, wenn ihre Deutung nur nicht oft allzu schwierig wäre. Denn nicht immer
liegt der Fall so einfach wie bei den Vögeln, unter denen der Archaeopteryx in allen wesentlichen Punkten den Zustand der Skelettbildung
eines noch nicht ausgebrüteten Vogels unsrer Zeit zeigt. Die Übereinstimmung der heutigen embryonalen
Formen mit ausgewachsenen fossilen hatte schon der ältere Agassiz mit seinen Mitarbeitern erkannt, denn er verkündete die
Erkenntnis, »daß die Entwickelungsphasen aller lebenden Tiere der Reihenfolge ihrer ausgestorbenen Vertreter in den vergangenen
geologischen Perioden entsprechen«, aber es ist leider nicht erlaubt, ihn zum Entdecker der darin gegebenen
wissenschaftlichen Erkenntnis zu erheben, denn gerade er sowie sein Mitarbeiter Karl Vogt haben nie aufgehört, diesen merkwürdigen
Parallelismus verkehrt zu deuten.
Die größte Schwierigkeit für die Benutzung des abgekürzten Berichtes der Stammesgeschichte, welche die persönliche Entwickelungsgeschichte bietet,
wird durch den Umstand hervorgebracht, daß sie nicht immer eine unveränderte Wiedererscheinung (Palingenese)
genannt werden kann, weil vielfach nachträgliche Veränderungen eingetreten sind, die den regelrechten Entwickelungsgang
fälschten. Diese von Häckel zuerst klar dargelegte Fälschungslehre hat die unglaublichsten Angriffe erfahren, weil die Natur
eine Fälscherin genannt wurde, oder vielmehr, weil die Angreifer nicht einsehen konnten oder wollten, worauf sich der Ausdruck
Fälschungsgeschichte (Cenogenesis) bezog, nämlich auf die nachträgliche Abänderung des ursprünglichen,
treuen Entwickelungsganges, der oft bei ganz nahestehenden Formen erhalten ist. In vielen Fällen können wir die Ursachen dieser
nachträglichen Veränderungen sehr wohl erkennen, z. B. bei dem westindischen Laubfrosch (Hylodes martinicensis), der das
Kaulquappenstadinm überspringen muß, weil es auf seinen vulkanischen Heimatsinseln nicht immer Wassertümpel
gibt, in denen er seine Kaulquappenzeit durchmachen könnte. Wäre nun bloß diese Froschart übriggeblieben, so würden wir
nicht wissen, daß die Frösche durch ein molchartiges Stadium hindurchgehen müssen, in denen sie mit Kiemenspalten versehen
sind und mit Kiemen atmen, wie es fast alle andern Frösche thun. Wir haben also alle Ursache, diese unter
Umständen für uns im höchsten Grade irreführende Verdunkelung als eine Fälschung der getreuen Überlieferung, wie
mehr
sie bei so vielen andern Froscharten vorliegt, zu bezeichnen.
Man spricht naturgemäß von Fälschungen nur bei groben Abweichungen und Auslassungen der regelrechten Phasen, da in gewissem
Sinne ja überall eine Fälschung eintreten muß, denn es kann sich doch immer nur um eine stark abgekürzte Wiedergabe handeln.
Am wenigsten brauchen solche Veränderungen bei niedern Organismen einzutreten, die ihre Lebensweise
seit jeher in ähnlicher Art und in demselben Mittel vollendet haben, namentlich bei Tieren, die während ihrer ganzen Stammes-
und Personalentwickelung den Schoß des Meeres nicht verlassen haben.
Denn hier kann unter günstigen Umständen das Tier von seinen ersten Larvenzuständen an in derselben
Weise wie seine ältesten Ahnen die ihm nötige Nahrung finden, und darum haben z. B. viele Seekrebse der verschiedensten Entwickelungsstufen
einen in den Anfängen sehr übereinstimmenden Entwickelungsgang beibehalten, der sich dadurch als derjenige der ganzen Familie
erweist. Dagegen ist bei Süßwasser- und Landtieren, welche ihre Lebensbedingungen öfters gewechselt haben, fast
überall eine starke Veränderung des Entwickelungsganges eingetreten, die größte bei solchen Tieren, die mit einer ansehnlichen
Nahrungsmenge in Eiern eingeschlossen oder im Mutterleib ihre ersten Entwickelungen vollenden. Der Zeitpunkt des freien Hervortretens
verschiebt sich dabei namentlich bei höhern Tieren so weit, bis sämtliche vorzeitliche Veränderungen durchlebt sind, und
das Junge tritt schon als den Eltern ähnliches Wesen ans Licht.
Die unmittelbare Folge einer großen Anhäufung von Nahrungsdotter im Ei ist eine mechanische Verzögerung der Entwickelungsprozesse,
das Endergebnis dagegen eine bedeutende Verkürzung der Entwickelungszeit. Dieses scheinbare Paradoxon erklärt sich leicht.
Ein kleines Ei, wie das des Amphioxus, vollbringt seine erste Entwickelung rasch und läßt schon nach ca. 18 Stunden
eine zu vollkommen unabhängigem Leben befähigte Larve hervorgehen, während das bebrütete Hühnerei in derselben Zeit nur
sehr geringe Fortschritte gemacht zu haben scheint.
Allein während sich die junge Amphioxus-Larve die zu ihrer Weiterbildung nötige Nahrung mühsam selbst suchen und zubereiten
muß, ist das junge Hühnchen damit reichlich versehen und dadurch befähigt, seinen doch eigentlich
viel längern Weg zum vollendeten Tier viel schneller zu durchlaufen, indem viele Stufen, namentlich der Anfangszustände,
zusammengezogen und auch wohl durch direktere Umbildung übersprungen werden; es kann, um ein anschauliches Bild zu brauchen,
den Gipfel seines Stammbaumes von Ast zu Ast springend erreichen, während ihn das als Larve geborne Tier
mühsam erklettern muß.
Nun bedingt schon die große Dottermasse, mit denen sich diese Tiere, welche im Ei ihre Entwickelung mehr oder weniger vollenden,
einrichten müssen, Abänderungen der Formwandlungen, und weil Nahrungsstoff in Fülle vorhanden ist, kann dabei mancher
Umweg vermieden werden. Es ist aber nicht gesagt, daß von Anfang an frei lebende Larven nicht auch großen nachträglichen
Veränderungen ausgesetzt wären; wir brauchen uns nur an die mannigfachen Farben und Hautauswüchse der Insektenlarven zu
erinnern, die durchaus ephemere selbständige Anpassungen der Larven an die Verhältnisse der Außenwelt darstellen, denen
die Entwickelung im Ei völlig entzogen ist.
Im allgemeinen geht die Entwickelung der höhern Tiere dahin, die Jungen immer mehr den äußern Einflüssen auf ihren ersten
Schritten
zu entziehen, und daher sehen wir ein Auftreten immer größerer Eier, während sich deren Zahl entsprechend vermindert,
in demselben Grade nämlich, wie die Wahrscheinlichkeit des Aufkommens wächst. So sehen wir bei Reptilien
und Vögeln größere Eier als bei den Amphibien und Fischen auftreten, und die Ausnahme der großen Haifischeier erklärt sich
vielleicht mit den fleischfressenden Gewohnheiten, die schon ein kräftiges Junges voraussetzen, um andre Tiere überwältigen
zu können.
Auch bei den Mollusken erzeugt die höchstentwickelte Gruppe (Cephalopoden) mit wenigen Ausnahmen die größten
Eier. Bei den Säugetieren legen nur noch die ältesten Vertreter (Schnabeltiere) Eier, weil hier die Placentaernährung des
jungen Tieres die Dotterernährung ersetzt. Auch der Einfluß des Mittels ist dabei von Bedeutung, denn die Süßwasserfische
haben im allgemeinen größere Eier als Seefische (nach Sollas), weil allzu kleine Larven den Strömungen
der Bäche und Flüsse nicht genügend Widerstand leisten könnten.
Diese Entwickelung im Ei wird nun nicht bloß zum Grunde mancher durch Raumenge bedingten Formwandlungen auf den ersten Stufen,
sondern auch von Anachronismen und Umkehrungen der Reihenfolge mancher Formwandlungen und Organbildungen. So hat
Balfour bemerkt, daß sich bei Elasmobranchierkeimen die Schlundröhre vorübergehend völlig schließt und dann wieder
öffnet, und diesen sicherlich nicht ererbten, sondern erzwungenen Zustand haben Marshall und Bles unlängst auch in der der
Frösche festgestellt. Zu den Anachronismen gehört die Vollendung der Kammerscheidewand im Herzen höherer Wirbeltiere vor der
Vorhofsscheidewand, das Vorauseilen der Bildung des Kopfes und seiner Sinnesorgane bei den Wirbeltierembryonen.
Mitunter treten solche Anachronismen nur bei einzelnen Arten auf. So eilt z. B. die Entwickelung des kontinuierlichen Aortenbogens,
der vom Herzen zur Aorta führt, beim gemeinen Wasserfrosch (Rana esculenta) der Entwickelung der Kiemen voraus, und wenn unsre
Studien auf dieses bequemste Objekt der Physiologie beschränkt wären, könnten wir zu dem irrtümlichen
Schluß gelangen, dies sei eine unverfälschte Urkunde, so unwahrscheinlich ihre Botschaft wäre. Aber wenn wir nun genauer
hinsehen, so finden wir, daß der Bogen, solange die Kiemen arbeiten, unterbrochen wird und erst wiederhergestellt erscheint,
wenn die Kiemen verschwinden, und wenn wir dann den Grasfrosch (Rana temporaria) untersuchen, so ergibt
sich, daß sich dort der Bogen erst bildet, wenn die Kiemen zurückgehen, ähnlich wie es bei den Eidechsen stattfindet, und
wie es auch erwartet werden mußte.
Mitunter zeigen zwei in ihren Endzuständen sehr ungleiche Tiere in den Larvenzuständen große Übereinstimmungen,
und so sind manche Verwandtschaften entdeckt worden, die für den Ausbau des Systems von der größten Wichtigkeit sind, z. B.
die Ähnlichkeit zwischen Amphioxus und den Tunikaten in der Ausbildung der Rückensaite und diejenige zwischen Amphioxus und Balanoglossus
in der Verdoppelung der Kiemenspalten. Die hierin gegebenen Andeutungen sind zwar nur mit großer Vorsicht
zu benutzen, wenn man nicht durch bloße Analogien getäuscht werden will, und überhaupt gehört ein weiter Blick wie namentlich
auch genaue Kenntnis der fossilen Arten dazu, um das Studium der Entwickelungsgeschichte fruchtbar zu machen, da diese beiden Gebiete sich gegenseitig
erhellen. Eine besondere Wechselbeziehung stellt sich heraus zwischen der Entwickelungshöhe und Größe
mehr
eines Tieres, und dies ist besonders von Herbert Spencer beleuchtet worden. Wir sehen in den meisten Fällen, daß eine Tierfamilie
in der Zeit, in welcher sie den Höhepunkt ihrer Entwickelung erreicht hat, auch die größten Körpergestalten erzeugt, denn
die Größenvermehrung erlaubt schon an sich eine größere Feinheit und Ausbildung der Gewebe und Organe.
Daher sind die Anfangsglieder jeder Gruppe gewöhnlich klein, die Equiden sind seit ihrem ersten Auftreten in fuchsgroßen
Vertretern zur Eocänzeit ständig gewachsen, ebenso die Dinosaurier der Sekundärzeit, und Fürbringer meint, daß die ersten
Vögel wahrscheinlich noch viel kleiner waren als Archaeopteryx, der nur eine mäßige Größe erreichte.
Eben darum findet man bei kleinern Tieren in der Regel primitivere, einfachere und leichter verständliche Verhältnisse, und
deshalb empfiehlt Fürbringer gerade diese zu phylogenetischen Studien. Freilich kann die Kleinheit auch Degeneration bedeuten,
so daß wir dann bei ihnen durchaus nicht mit primitiven Bildungen zu thun haben, vielmehr mit solchen, die
von einem schon erreichten Höhepunkt wieder herabgestiegen sind. So zeigt eine kleine, nur ein paar Linien lange Nacktschnecke
(Limapontia) keine Spur von den oft sehr ausgedehnten und schmuckvollen äußern Kiemen ihrer nähern Verwandten; sie hat sich
auf bloße Hautatmung eingeschränkt, obwohl sie durch die große, spiralig gewundene Schale ihrer Jugend
anzeigt, daß sie, wie jene, von Schnecken mit entwickelten Atmungswerkzeugen abstammt. Die Einfachheit ihrer Organisation
beruht demnach auf Ökonomie und ist kein primitives Merkmal.
In der Regel wird man schließen dürfen, daß jeder nicht physiologisch für ein lebendes Wesen unmögliche Durchgangszustand
der Embryonen, wenn er in bestimmten Gruppen regelmäßig auftritt, in gewisser Weise auf früher wirklich
endgültig bestehende Zustände zurückdeutet. Lehrreich ist dafür beispielsweise die Bildung des Cephalopoden-Auges. Es bildet
sich eine kleine Grube, deren Rand sich allmählich erhebt, sich zur Bildung einer Höhle verengert, dann durch ein Häutchen
schließt, welches sich zur Linse erweitert, während sich die Rückwand der Höhle zur Netzhaut ausbildet.
Jede Stufe in dieser Entwickelungsreihe bietet physiologisch einen Vorteil und Fortschritt gegen die vorige, aber auch die
einfachsten sind als endgültige Bildungen noch bei heute lebenden Mollusken erhalten: die bloße Anfangsvertiefung bei Solen,
die Grube mit weiter Öffnung bei den Napfschnecken, diejenige mit verengerter Öffnung, aber noch ohne
Linse, bei Nautilus. Endlich kommt die Linse hinzu, ein Zustand, wie er lebenslang bei den Schnecken und andern Gastropoden besteht.
Aber bei den Cephalopoden geht die Bildung noch darüber hinaus: die Bildung von Hautfalten, die als Iris und Augenlider bekannt
sind, sorgt für den bessern Schutz des Auges und erweist sich als ein deutlicher Fortschritt gegen die
etwas plumpe Methode des bloßen Zurückziehens bei den Schnecken.
Es fragt sich nun, ob die ohne Zweifel am meisten veränderten, aber mit großer Regelmäßigkeit sich wiederholenden Anfangszustände
der
höhern und niedern Tiere ebenfalls Anspruch auf die Deutung als Nachbilder der ersten Schritte der
tierischen Organisation haben, namentlich die unter den verschiedensten Formen wiederkehrende Bildung jenes aus doppelter Zellenwand
aufgebauten Becherkeims, auf welche Häckel seine Gasträa-Theorie begründete. Marshall, der sich sein lebenlang mit einschlägigen
Studien beschäftigt hat, tritt mit großer Wärme für eine derartige Deutung ein, und so scheint sich denn nach
so vielen Jahren von Kampf und Streit die Überzeugung der Zoologen dieser vor allem prinzipiell wichtigen Theorie zuzuwenden.
Sogar eine spätere Larvenform, die von Balfour studierte Pilidium-Larve, von der er die etwas spätere Echinodermenlarve
und die viel weiter verbreitete Trochosphärenlarve herleitete, beginnt in dieser Richtung die Aufmerksamkeit auf sich zu
ziehen. Dieser Pilidium-Larve, von der Balfour alle höhern Tierformen, mit Ausnahme der Krustaceen und Vertebraten, ableiten
wollte, würde ungefähr ein Organismus »wie eine Meduse mit radialer Symmetrie« entsprechen.
Das Bestreben der jüngsten phylogenetischen Spekulation geht nun dahin, dies voll anzunehmen und als Ahnen der Turbellarien
und aller höhern Tiere eine Rippenqualle oder einen Ktenophoren zu bezeichnen, der, anstatt frei zu schwimmen,
begonnen hat, am Meeresboden umherzukriechen und dadurch die allen höhern Tieren gemeinsame zweiseitige Symmetrie zu erwerben.
So hat das vor einem Vierteljahrhundert geschlossene Bündnis des ontogenetischen mit dem phylogenetischen Studium schon jetzt
die reichsten Früchte getragen, und man darf bei aller Schwierigkeit der Deutung von dieser Seite auch
in Zukunft die wertvollsten Aufschlüsse erwarten.