Entwickelu
ngsgeschichte.
[* 2] Die
Lehre
[* 3] von der
Rekapitulation in der Entwickelu
ngsgeschichte, das von
Fritz
Müller entdeckte und von
Häckel formulierte
sogen.
biogenetische Grundgesetz, nach welchem jedes junge
Wesen die Formenzustände seiner
Ahnen durchlaufen und »seinen eignen
Stammbaum erklettern« muß, hat in den letzten
Jahren zahlreiche
Angriffe, namentlich von seiten
Karl
Vogts,
erfahren, die sich vorzugsweise gegen die Unterlehre von der nachträglichen
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Veränderung (Cenogenesis oder Fälschungsgeschichte) des Keimlebens richteten. Aber in einer glänzenden Rede, mit welcher
Marshall die biologische Sektion der britischen Naturforscherversammlung 1890 eröffnete, hat derselbe gezeigt, daß dieser
Theorie an Fruchtbarkeit für die Wissenschaft kaum eine andre an die Seite gestellt werden kann, und daß die Schwierigkeiten
derselben sehr wohl erklärt und begriffen werden können. Daß die Bildungen der lebenden Wesen nicht
ohne ihre Entwickelu
ngsgeschichte verstanden werden können, zeigen besonders auffallend die abweichenden Formen, wie Seitenschwimmer unter den
Fischen, deren Auge
[* 5] wir aus der normalen Lage nach der Oberseite wandern sehen, oder die Napfschnecken (Patella-Arten), deren
unter den Genossen ganz fremdartige Schale sich als spätere Errungenschaft dadurch verrät, daß der
Embryo ein spiraliges Gehäuse hat wie alle andern Schnecken.
[* 6]
Die abweichende Bildung innerer Organe wird oft nur durch die Entwickelu
ngsgeschichte klar verständlich, so z. B.
die seitliche Lage der Sehlappen beim Vogelgehirn, denn vor dem Ausschlüpfen aus dem Ei
[* 7] liegen sie, wie
bei allen andern Wirbeltieren, an der dorsalen Fläche. Dies gilt nicht nur für die höhern Formen, sondern ebenso für die
niedern, und gerade bei einer jetzt lebenden Foraminifere (Orbitolites tenuissima) konnte Carpenter nachweisen, daß sie in
ihrem Wachstum die Stadien älterer und einfacher gebauter Foraminiferen in allen Einzelheiten genau rekapituliert,
also denselben Vorgang, den Würtenberger an den fossilen Ammonitengehäusen nachwies, darbietet.
Diese Verfolgung wird besonders wichtig für das Verständnis der rudimentären Organe, die, wie schon Darwin bemerkte, am Embryo meist von relativ oder sogar absolut größerm Umfang als beim erwachsenen Wesen sind, da der Embryo dasjenige Stadium des Stammbaums zurückruft, in welchem sie noch funktionell thätig waren. Durch ihre vollendete Rückbildung kann das erwachsene Tier manchmal kleiner werden, als seine Larve war, z. B. beim sogen. Fisch- oder Trugfrosch (Pseudis paradoxa) von Surinam, der zur Sage, ein Fisch verwandle sich in einen kleinen Frosch, [* 8] Veranlassung gab.
Zugleich wird es erst durch genauere Verfolgung der Entwickelu
ngsgeschichte verständlich, weshalb
solche den Ahnen eines Tieres schon vor vielen Jahrtausenden verloren gegangene Organe (z. B. die Kiemenspalten bei Säugetieren)
immer wieder erscheinen, weil sich nämlich andre, noch jetzt im Gebrauch befindliche Organe aus ihrem Material oder in inniger
Beziehung zu demselben bilden. Dadurch liegt auch, wie Kleinenberg in seiner Arbeit über Lopadorhynchus
gezeigt hat, die wahrscheinliche Ursache der ganzen Erscheinung.
Man hatte schon gegen Darwin die Einwendung gemacht, neue Organe könnten nicht durch die Zuchtwahl hervorgebracht werden, da ihre Anfänge nutzlos wären. Nun entstehen aber neue Organe fast immer durch die Umbildung und den Funktionswechsel andrer schon vorhandener, z. B. die Lunge [* 9] der Luftwirbeltiere aus der Schwimmblase der Fische, [* 10] die Füße, Fühler und Kiefer der Artikulaten aus Seitenanhängen, die früher eine andre Thätigkeit hatten. Damit nun in der Entwickelung des Individuums die neuen Organe gebildet werden können, müssen aber die frühern, aus denen sie entstanden sind, wenigstens in den Anfängen angelegt werden, damit der fortwirkende Reiz, die entsprechende Gliedkette nicht fehle, da sich jede Vollendung durch nicht zu überspringende Stufen vollzieht.
Wieviel hier noch zu entdecken sein wird, läßt sich leicht aus der Thatsache erkennen, daß man bei sehr vielen
Tieren noch
nicht einmal den Anfang gemacht hat, die Entwickelu
ngsgeschichte zu studieren, um dadurch Anhaltepunkte
für die Stammesgeschichte zu erhalten. So z. B. fehlt uns, trotz der großen Fortschritte
der Neuzeit, ein klarer Einblick in die Stammesgeschichte der Säugetiere, so viele fossile Überreste wir auch von ihnen
kennen. Aber das ist nicht zu verwundern, da wir nicht einmal von einem einzigen unsrer Haustiere die
vollständige, unschwer festzustellende Entwickelungsgeschichte
kennen.
Diejenige des Pferdes z. B. hat vollständig aus den fossilen Überresten rekonstruiert werden können, und die neuern Arbeiten am lebenden Tier, z. B. die Untersuchungen Klevers am Pferdegebiß, haben dieselbe wertvoll ergänzt, aber dieses günstige Ergebnis war nur dadurch möglich, daß die Pferde [* 11] in allen ihren Vorstufen große Herden in den gemäßigten Zonen gebildet haben, so daß verhältnismäßig zahlreiche Reste von ihnen gefunden wurden, wie dies bei andern seltenen Tieren nicht der Fall ist.
Hier wird die Untersuchung am lebenden Tier also noch viel zu ergänzen haben, weil sie ja einerseits gewissere Ergebnisse als die Paläontologie gibt, wenn ihre Deutung nur nicht oft allzu schwierig wäre. Denn nicht immer liegt der Fall so einfach wie bei den Vögeln, unter denen der Archaeopteryx in allen wesentlichen Punkten den Zustand der Skelettbildung eines noch nicht ausgebrüteten Vogels unsrer Zeit zeigt. Die Übereinstimmung der heutigen embryonalen Formen mit ausgewachsenen fossilen hatte schon der ältere Agassiz mit seinen Mitarbeitern erkannt, denn er verkündete die Erkenntnis, »daß die Entwickelungsphasen aller lebenden Tiere der Reihenfolge ihrer ausgestorbenen Vertreter in den vergangenen geologischen Perioden entsprechen«, aber es ist leider nicht erlaubt, ihn zum Entdecker der darin gegebenen wissenschaftlichen Erkenntnis zu erheben, denn gerade er sowie sein Mitarbeiter Karl Vogt haben nie aufgehört, diesen merkwürdigen Parallelismus verkehrt zu deuten.
Die größte Schwierigkeit für die Benutzung des abgekürzten Berichtes der Stammesgeschichte, welche die persönliche Entwickelungsgeschichte
bietet,
wird durch den Umstand hervorgebracht, daß sie nicht immer eine unveränderte Wiedererscheinung (Palingenese)
genannt werden kann, weil vielfach nachträgliche Veränderungen eingetreten sind, die den regelrechten Entwickelungsgang
fälschten. Diese von Häckel zuerst klar dargelegte Fälschungslehre hat die unglaublichsten Angriffe erfahren, weil die Natur
eine Fälscherin genannt wurde, oder vielmehr, weil die Angreifer nicht einsehen konnten oder wollten, worauf sich der Ausdruck
Fälschungsgeschichte (Cenogenesis) bezog, nämlich auf die nachträgliche Abänderung des ursprünglichen,
treuen Entwickelungsganges, der oft bei ganz nahestehenden Formen erhalten ist. In vielen Fällen können wir die Ursachen dieser
nachträglichen Veränderungen sehr wohl erkennen, z. B. bei dem westindischen Laubfrosch (Hylodes martinicensis), der das
Kaulquappenstadinm überspringen muß, weil es auf seinen vulkanischen Heimatsinseln nicht immer Wassertümpel
gibt, in denen er seine Kaulquappenzeit durchmachen könnte. Wäre nun bloß diese Froschart übriggeblieben, so würden wir
nicht wissen, daß die Frösche
[* 12] durch ein molchartiges Stadium hindurchgehen müssen, in denen sie mit Kiemenspalten versehen
sind und mit Kiemen atmen, wie es fast alle andern Frösche thun. Wir haben also alle Ursache, diese unter
Umständen für uns im höchsten Grade irreführende Verdunkelung als eine Fälschung der getreuen Überlieferung, wie
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sie bei so vielen andern Froscharten vorliegt, zu bezeichnen.
Man spricht naturgemäß von Fälschungen nur bei groben Abweichungen und Auslassungen der regelrechten Phasen, da in gewissem Sinne ja überall eine Fälschung eintreten muß, denn es kann sich doch immer nur um eine stark abgekürzte Wiedergabe handeln. Am wenigsten brauchen solche Veränderungen bei niedern Organismen einzutreten, die ihre Lebensweise seit jeher in ähnlicher Art und in demselben Mittel vollendet haben, namentlich bei Tieren, die während ihrer ganzen Stammes- und Personalentwickelung den Schoß des Meeres nicht verlassen haben.
Denn hier kann unter günstigen Umständen das Tier von seinen ersten Larvenzuständen an in derselben Weise wie seine ältesten Ahnen die ihm nötige Nahrung finden, und darum haben z. B. viele Seekrebse der verschiedensten Entwickelungsstufen einen in den Anfängen sehr übereinstimmenden Entwickelungsgang beibehalten, der sich dadurch als derjenige der ganzen Familie erweist. Dagegen ist bei Süßwasser- und Landtieren, welche ihre Lebensbedingungen öfters gewechselt haben, fast überall eine starke Veränderung des Entwickelungsganges eingetreten, die größte bei solchen Tieren, die mit einer ansehnlichen Nahrungsmenge in Eiern eingeschlossen oder im Mutterleib ihre ersten Entwickelungen vollenden. Der Zeitpunkt des freien Hervortretens verschiebt sich dabei namentlich bei höhern Tieren so weit, bis sämtliche vorzeitliche Veränderungen durchlebt sind, und das Junge tritt schon als den Eltern ähnliches Wesen ans Licht. [* 14]
Die unmittelbare Folge einer großen Anhäufung von Nahrungsdotter im Ei ist eine mechanische Verzögerung der Entwickelungsprozesse, das Endergebnis dagegen eine bedeutende Verkürzung der Entwickelungszeit. Dieses scheinbare Paradoxon erklärt sich leicht. Ein kleines Ei, wie das des Amphioxus, vollbringt seine erste Entwickelung rasch und läßt schon nach ca. 18 Stunden eine zu vollkommen unabhängigem Leben befähigte Larve hervorgehen, während das bebrütete Hühnerei in derselben Zeit nur sehr geringe Fortschritte gemacht zu haben scheint.
Allein während sich die junge Amphioxus-Larve die zu ihrer Weiterbildung nötige Nahrung mühsam selbst suchen und zubereiten muß, ist das junge Hühnchen damit reichlich versehen und dadurch befähigt, seinen doch eigentlich viel längern Weg zum vollendeten Tier viel schneller zu durchlaufen, indem viele Stufen, namentlich der Anfangszustände, zusammengezogen und auch wohl durch direktere Umbildung übersprungen werden; es kann, um ein anschauliches Bild zu brauchen, den Gipfel seines Stammbaumes von Ast zu Ast springend erreichen, während ihn das als Larve geborne Tier mühsam erklettern muß.
Nun bedingt schon die große Dottermasse, mit denen sich diese Tiere, welche im Ei ihre Entwickelung mehr oder weniger vollenden, einrichten müssen, Abänderungen der Formwandlungen, und weil Nahrungsstoff in Fülle vorhanden ist, kann dabei mancher Umweg vermieden werden. Es ist aber nicht gesagt, daß von Anfang an frei lebende Larven nicht auch großen nachträglichen Veränderungen ausgesetzt wären; wir brauchen uns nur an die mannigfachen Farben und Hautauswüchse der Insektenlarven zu erinnern, die durchaus ephemere selbständige Anpassungen der Larven an die Verhältnisse der Außenwelt darstellen, denen die Entwickelung im Ei völlig entzogen ist.
Im allgemeinen geht die Entwickelung der höhern Tiere dahin, die Jungen immer mehr den äußern Einflüssen auf ihren ersten Schritten zu entziehen, und daher sehen wir ein Auftreten immer größerer Eier, [* 15] während sich deren Zahl entsprechend vermindert, in demselben Grade nämlich, wie die Wahrscheinlichkeit des Aufkommens wächst. So sehen wir bei Reptilien und Vögeln größere Eier als bei den Amphibien und Fischen auftreten, und die Ausnahme der großen Haifischeier erklärt sich vielleicht mit den fleischfressenden Gewohnheiten, die schon ein kräftiges Junges voraussetzen, um andre Tiere überwältigen zu können.
Auch bei den Mollusken [* 16] erzeugt die höchstentwickelte Gruppe (Cephalopoden) mit wenigen Ausnahmen die größten Eier. Bei den Säugetieren legen nur noch die ältesten Vertreter (Schnabeltiere) Eier, weil hier die Placentaernährung des jungen Tieres die Dotterernährung ersetzt. Auch der Einfluß des Mittels ist dabei von Bedeutung, denn die Süßwasserfische haben im allgemeinen größere Eier als Seefische (nach Sollas), weil allzu kleine Larven den Strömungen der Bäche und Flüsse [* 17] nicht genügend Widerstand leisten könnten.
Diese Entwickelung im Ei wird nun nicht bloß zum Grunde mancher durch Raumenge bedingten Formwandlungen auf den ersten Stufen, sondern auch von Anachronismen und Umkehrungen der Reihenfolge mancher Formwandlungen und Organbildungen. So hat Balfour bemerkt, daß sich bei Elasmobranchierkeimen die Schlundröhre vorübergehend völlig schließt und dann wieder öffnet, und diesen sicherlich nicht ererbten, sondern erzwungenen Zustand haben Marshall und Bles unlängst auch in der der Frösche festgestellt. Zu den Anachronismen gehört die Vollendung der Kammerscheidewand im Herzen höherer Wirbeltiere vor der Vorhofsscheidewand, das Vorauseilen der Bildung des Kopfes und seiner Sinnesorgane bei den Wirbeltierembryonen.
Mitunter treten solche Anachronismen nur bei einzelnen Arten auf. So eilt z. B. die Entwickelung des kontinuierlichen Aortenbogens, der vom Herzen zur Aorta führt, beim gemeinen Wasserfrosch (Rana esculenta) der Entwickelung der Kiemen voraus, und wenn unsre Studien auf dieses bequemste Objekt der Physiologie beschränkt wären, könnten wir zu dem irrtümlichen Schluß gelangen, dies sei eine unverfälschte Urkunde, so unwahrscheinlich ihre Botschaft wäre. Aber wenn wir nun genauer hinsehen, so finden wir, daß der Bogen, [* 18] solange die Kiemen arbeiten, unterbrochen wird und erst wiederhergestellt erscheint, wenn die Kiemen verschwinden, und wenn wir dann den Grasfrosch (Rana temporaria) untersuchen, so ergibt sich, daß sich dort der Bogen erst bildet, wenn die Kiemen zurückgehen, ähnlich wie es bei den Eidechsen [* 19] stattfindet, und wie es auch erwartet werden mußte.
Mitunter zeigen zwei in ihren Endzuständen sehr ungleiche Tiere in den Larvenzuständen große Übereinstimmungen,
und so sind manche Verwandtschaften entdeckt worden, die für den Ausbau des Systems von der größten Wichtigkeit sind, z. B.
die Ähnlichkeit
[* 20] zwischen Amphioxus und den Tunikaten in der Ausbildung der Rückensaite und diejenige zwischen Amphioxus und Balanoglossus
in der Verdoppelung der Kiemenspalten. Die hierin gegebenen Andeutungen sind zwar nur mit großer Vorsicht
zu benutzen, wenn man nicht durch bloße Analogien getäuscht werden will, und überhaupt gehört ein weiter Blick wie namentlich
auch genaue Kenntnis der fossilen Arten dazu, um das Studium der Entwickelungsgeschichte
fruchtbar zu machen, da diese beiden Gebiete sich gegenseitig
erhellen. Eine besondere Wechselbeziehung stellt sich heraus zwischen der Entwickelungshöhe und Größe
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