Titel
Englische
[* 2] Litteratur
(1884-89). Wenn auch die letzten fünf Jahre keineswegs eine besonders glänzende
Periode in der
Geschichte des englischen
Schriftentums umfassen, so war doch die
Teilnahme des
Publikums am litterarischen
Leben immerhin groß. Städtische und Vereinsbibliotheken erheben sich allerwärts; die weitaus meisten gebildeten
Familien
besitzen eine mehr oder minder große Bücherei. Die zahlreichen litterarischen
Gesellschaften halten enge
Verbindung des Privatlebens
mit der Litteratur
aufrecht, die
Wochen- und Monatsschriften erfreuen sich einer außerordentlich weitgreifenden
Verbreitung, und in diesen Beziehungen ist ein entschiedener Fortschritt bemerkbar.
Charakteristisch ist auch das Erscheinen und der große Erfolg wohlfeiler Sammlungen alter und neuer Meisterwerke: so der von Professor Henry Morley herausgegebenen »National library«, Cassels »Red library«, Scotts »Camelot classics« und »Canterbury ports«, Warnes »Chandons classics« und »Landsdowne poets«. Auch eine Reihe sorgfältig ausgewählter biographischer Sammelwerke, die unter Mitwirkung anerkannter Schriftsteller seit Jahren erscheinen und mit Erfolg fortgeführt werden (»English men of letters«, »Great writers«, »Great musicians«, »Foreign writers«, »Eminent women«, »Statesmen«, »Twelve English statesmen«, »Englishmen of action«, »Exploreres and exploration« 2c.) sind hier zu erwähnen. ¶
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Dichtung.
(Über die mit * bezeichneten Schriftsteller sind die betreffenden Biographien in vorliegendem Band [* 4] zu vergleichen.)
Der Tod Robert Brownings, das hohe Alter Lord Tennysons erinnern daran, daß sich noch kein junger Nachwuchs zu ihrer Geltung erhoben hat. Von jenem erschien am Anfang unsers Zeitraums »Tiresias, and other poems«, dem trotz einiger sehr schöner Stücke, wie des kraftvollen »Despair«, kaum ein Achtungserfolg beschieden war, später ein Seitenstück und Widerspiel zu seinem jugendlichen »Locksley hall«. »Sixty years after« (durch Johann Feis trefflich verdeutscht und mit Freiligraths Übersetzung des frühern Gedichts zusammen abgedruckt),
endlich 1887 eine »Jubilee ode«, wozu ihn seine Stellung als Hofpoet ebensowohl wie seine warme Verehrung der Königin veranlassen mochte, Lewis Morris, durch Früheres bereits vorteilhaft bekannt, hat neuerdings seinen Verehrern »Songs of Britain« dargeboten. Er darf nicht mit William Morris verwechselt werden, einem erklärten u. selbst agitatorischen Sozialisten (nebenbei Leiter einer auf die Darstellung des Künstlerisch-Schönen gerichteten Möbelfabrik),
der eine Übersetzung der »Odyssee« (1887) veröffentlichte. Der Republikaner Algernon Swtnburne, der nunmehr seine früher
sehr weit getriebene »Fleischlichkeit« abgelegt hat, bot dem Publikum eine wohlgesäuberte Auswahl seiner Dichtungen (»Selections
from the poetical works«). Von ihm sind auch noch der »Midsummer holiday«
und eine dritte Serie von »Poems and ballads« zu verzeichnen. An
Schwung und Klang der Verse übertrifft er alle seine englischen
Zeitgenossen, doch fehlt es auch ihm an gelegentlicher Dunkelheit
des Ausdrucks nicht.
Edwin Arnold, dessen »Light of Asia« von Arthur Pfungst (1887) ins Deutsche [* 5] übertragen wurde, hat den »Indian idylls« einen Band »Lotus and Juwels« (1887) folgen lassen und neuerdings, an den Tod seiner vielgeliebten Gattin anknüpfend, den Band »In my Lady's praise« (1889) veröffentlicht, der neben einigem Gekünstelten manches Wahre und Warme von großer Schönheit enthält. Lord Lytton, Sohn des unter seinem frühern Namen Lytton Bulwer auch in Deutschland [* 6] hochgeschätzten Romanschriftstellers, ist seit langen Jahren ebensowohl als Dichter (unter dem Namen Owen Meredith) wie als Politiker bekannt, hat es aber in der erstern Eigenschaft nicht auf die Höhe gebracht, zu welcher die Politik ihn erhoben.
Sein Epos »Glenaveril«, in Form und teilweise satirischer Richtung ein Nachbild von Byrons »Don Juan«, den es freilich an schneidender
Kraft
[* 7] und hoher Schönheit nicht erreicht, zeigt in gewissen Verschlingungen und Hinblicken auf soziale
Zustände unsrer Tage immerhin einige Selbständigkeit und Frische. Zu einer andern Dichtung: »After paradise, or legends of
exile« haben ihm Episoden aus der Geschichte unsrer Zeit als Vorwurf gedient. George Meredith, der in der Romanlitteratur
jedenfalls
einen hoben, nach Ansicht seiner Verehrer sogar den höchsten Rang einnimmt, übrigens zu seinem eben genannten
Namensvetter in keinerlei Beziehung steht, hat seinen »Poems and lyrics of the
joy of earth« nun auch einen Band »Ballads and poems of tragic lite« folgen lassen und in neuester
Zeit einen weitern beigefügt: »A reading of earth«.
Leider gefällt er sich auch hier in Dunkelheit des Ausdrucks. Von Robert Browning, dem kürzlich verstorbenen Meister dieses
schweren Übels neuenglischer
Dichtung (als dessen Urheber doch wohl Shelley anzusehen ist),
erschienen »Ferishta's fancies«, persische Geschichten (1885),
und »Parleyings
with certain people of importance in their day" (1887). Eine »Popular edition« seiner Werke (in 16 Bänden) begann 1888 zu erscheinen. Ein Ehrenplatz gebührt einer Dichterin deutscher Abkunft, Mathilde Blind, die in »The heather on fire« (1887) die Geschichte der Austreibung hochschottischer Hüttenbewohner mit revolutionärem Feuer erzählt, in dem größern philosophischen Gedicht »The ascent of men« (1889) aber sich zu einer höhern Stufe aufschwingt. Hieran schließe sich ein andres großes Thema: »The judgement of Prometheus« von Ernest Myers, der schon früher Lyrisches geliefert hat, übrigens zur Geisterseherei hinneigt. Von leichterm Gewebe [* 8] sind des auf vielen Feldern thätigen R. L. Stevenson »Underwood« (1887),
dessen Titel er dem alten Bell Jonson abgeborgt, und des Fräuleins Mary J. * Robinson »Songs, ballads and a garden play« (1888). Die große Reihe poetischer Gaben, die nur auf das dringende Verlangen von Freunden der Dichter veröffentlicht werden, dürfen wir billig übergehen.
Drama.
Es ist keine neue Bemerkung, daß in der Heimat Shakespeares das Drama als Buch, ebenso wie das Epos, von
dem weithin greifenden Roman in den Hintergrund gedrängt worden ist. Die Theater
[* 9] blühen mehr und mehr; aber die aufgeführten
Stücke werden selten gelesen, erscheinen meistens gar nicht im Buchhandel, während auf der andern Seite die selten erscheinenden
Buchdramen gar nicht auf die Bühne gelangen oder dort einen höchst spärlichen Erfolg haben, ihn meistens
auch kaum verdienen. Es sei als Verfasser solcher Lesedramen zunächst ein neuer Schriftsteller genannt, der sich noch unter
dem Pseudonym Michael Field verbirgt. Er hat der altenglischen
Geschichte und dem Kampf der Religionen einen bedeutenden, schwer
zu behandelnden Stoff entnommen:"Canute the Great«, und in der Lösung seiner Aufgabe Geist, Kraft und künstlerische
Gestaltung erwiesen, auch die wohlberechtigte Anerkennung gefunden. Auch seine andern Dramen: »Callirhoe«, »Fair Rosamund«, ein
Vorwurf (die Geliebte König Heinrichs II.),
der so oft den Balladendichter und seit Addison auch den Dramatiker angezogen hat, »Brutus ultor«, »The father's tragedy«, »Rufus«, »Loyalty and love«, alle seit 1884 erschienen, verdienen Erwähnung. Der greise Tennyson erschien abermals mit einem Drama: »Becket« (Thomas a Becket),
hat damit aber fast noch weniger
Erfolg erzielt als mit seinen frühern Stücken aus der englischen
Geschichte, und auch der vorübergehende Theatererfolg
von »The cup« ist wohl meist auf Rechnung des Schauspieldirektors
Irving zu setzen, der eine glänzende Bühnenausstattung lieferte; ebenso hatte »The
promise of May« nur einen Achtungserfolg. Bedeutender sind dagegen die Stücke Swinburnes. Nachdem er seinen großen Dramencyclus
über Maria Stuart, der ihn 20 Jahre lang beschäftigt hatte, beendet, trat er als Rival des Lord Byron auf
mit »Marino Faliero«.
Vielleicht ist dieses Trauerspiel noch weniger als das seines großen Vorgängers für die Bühne geeignet, aber wie jenes enthält es sehr glänzende Stellen. Mit seinem neuesten Drama: »Locrine«, greift er, wie Shakespeare im »Cymbeline«, auf die schattenhafte altbritische Geschichte zurück. In derselben Richtung seien erwähnt: »The sentence«, ein Trauerspiel aus der Zeit des Caligula, von Augusta Webster, die auch als lyrische Dichterin einen guten Namen hat, und des vielthätigen Alfred Austin »Prince Lucifer«. Die Browning-Gesellschaft, nicht ein Theaterunternehmer, hat ihres Meisters ¶
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»Stafford«, »Colombe's birthday«, »In a gallery« und »The blot on the Scutcheon« auf die Bühne gebracht, wie die Shelley-Gesellschaft das vorher nie aufgeführte, auch zur Aufführung vor einem gemischten Publikum nicht eben geeignete, grausig-großartige Stück ihres Lieblingsdichters: »The cenci«. Robert Buchanan und William Willis erzielten mit Dramatisierung von Romanen des vorigen Jahrhunderts Erfolge. Weniger als Fielding und Oliver Goldsmith haben zwei Bearbeitungen von Nathaniel Hawthornes »Scarlet letter« (die eine von Eduard Aveling) das Publikum angezogen.
Ziemlich häufig sind die Bearbeitungen von neuerschienenen Romanen lebender englischer
Schriftsteller, und diese haben den
Übertragungen aus dem Französischen einen Teil des von ihnen früher behaupteten Platzes abgewonnen.
Dahin gehören unter andern die Dramatisierungen von Büchern, die Haggard, Stevenson, Fergus Hume vom Stapel laufen ließen.
Den bedeutendsten Erfolg hatte Frau Frances Burnett mit der Dramatisierung ihrer trefflichen Erzählung »Little Lord Fauntleroy«.
Es sei hier auch erwähnt, daß mehrere Dramen von Ibsen auf die Bühne gebracht wurden, sicherlich Aufsehen
erregten, aber keineswegs einstimmigen Beifall fanden.
Unter der leichtern Ware, die vom Ausland eingeführt wurde, ist Mosers »Bibliothekar« zu erwähnen, der nach einigen Änderungen als »The private secretary« schließlich zu einem Lieblingsstück des Publikums wurde. Für das Bedürfnis nach Spektakelstücken mit viel Mord, Liebe, Fälschung, Humor und großen szenischen Effekten wird unter anderm von Sims [* 11] (»The harbour lights«, »Romany Rye« 2c.) gesorgt, neben welchem auch Pinero und der kürzlich verstorbene Albern zu nennen wären.
Auf dem Gebiet des Singspiels reichen sich, wie früher, Gilbert und Sullivan in anmutigen und schalkhaften Stücken die Hände.
Dahin gehören in den letzten Jahren: »Princess Ida«, »Ruddigore«, »The
yeoman of the guard«, vor allen aber der auch in Deutschland mit Beifall aufgenommene »Mikado«. Der Schauspieler Irving und seine
Gefährtin Ellen Terry beherrschen noch immer die Bühne. Trotz des berechtigten Vorwurfs, durch die Pracht der Bühne das litterarische
Interesse in den Hintergrund gedrängt zu haben, bleibt es immerhin sicher, daß Irving die Shakespeareschen
Dramen wesentlich im täglichen Leben der Nation festhält, wie dies in den 20 Jahren vor ihm niemand gethan.Und so sei ihm auch
ein Verdienst darin zugeschrieben, daß er Goethes »Faust« (in der Bearbeitung von W. G. Willis) dem englischen
Publikum
vorgeführt hat. Diese Bearbeitung erweist sich in der That doch treuer, als man erwarten mochte; sicher haben durch die
Hunderte von Aufführungen Tausende einen großen Eindruck von Goethe erhalten, der ihnen vorher kaum ein Name war.
Roman.
Überaus reichlich stießt auch jetzt noch der Dorn des englischen
Erzählungstalents in der Prosadichtung,
doch müssen wir uns begnügen, nur das Hervorragende zu erwähnen. Vorausgeschickt sei, daß der kontinentale Sturm widerstrebender
Winde
[* 12] des Realismus, Naturalismus, Idealismus die englische Litteratur
nur wenig berührt hat. Unbeachtet blieb er indessen nicht. Seine Wellen
[* 13] haben auch Englands Ufer erreicht, aber sie haben keine wesentliche Störung hervorgebracht. Ein gesunder
Realismus ist hier längst aus dem Leben in die Litteratur
übergetreten, da beide so eng sich in England berühren. Eben daß,
ohne jedes Schul-Schibboleth, jener Wirklichkeitssinn
bereits vorhanden, hat England vor dem Gefallen an dem Schmutz, dem Anstößigen, der Verfaulung bewahrt, welche sich an Zolas Namen anknüpfen. Die rege Teilnahme der Frauen als Schöpferinnen und Leserinnen hat zu diesem Grundzug beigetragen, während doch die große Vielseitigkeit des thatkräftigen Lebens des Engländers eine schale Prüderie nicht zur Herrschaft kommen ließ. Bezeichnend ist, daß die Photographie der obern Klassen und der höhern Mittelklasse, deren sich Anthony Trollope nach Thackerays Vorgang so eifrig befliß, noch eifriger als sein humorvoller Meister, etwas in den Schatten [* 14] getreten ist, während Walter * Besant die humoristischen Bestrebungen des Charles Dickens weiter vertritt, und daß zugleich eine helle Freude am Abenteuerlichen nicht nur, sondern eine starke Hinneigung zum Mystisch-Schauerlichen an den Tag getreten ist, in welcher Hugh Conway auf niedrigerm Gebiet sich bemerkbar gemacht, Stevenson und Haggard auf viel höherm Niveau sich ausgezeichnet haben.
Daneben steht noch der philosophische Roman mit Pater (»Marius the Epicurean«) und die Romane der mehr oder weniger radikalen Freidenker, welche dem althergebrachten religiösen Anstrich des Romanlebens gewaltig zusetzen, der historische Roman und der Seeroman. Zur Seite läuft die alte Liebes- und Familiengeschichte, fröhlich oder traurig, einher und ist nicht in allen ihren Erzeugnissen unbedeutend. Es gibt treffliche Sittengemälde aus dem In- und Ausland, die tägliche Berührung mit dem Orient und den Kolonien liefert reichlich Stoffe und verhindert die Versauerung und Verdumpfung des Philistertums, zu dem es dem Engländer sonst an Anlage nicht fehlt.
In erster Reihe haben sich die alten Lieblinge bewährt: Thomas Hardy mit »Wessex tales« und »The Woodlanders«;
William Black mit »Sabina Zembra«, »The strange adventures of a house boat«, einem Gegenstück zu seinem längst erschienenen »Strange adventures of a phaeton«, und in jüngster Zeit mit »In far Lochaber«;
James Payn mit »A prince of the blood«, »By Proxy«, »The talk of the town«;
Frau Frances H. Burnett mit dem sehr gelungenen »Little Lord Fauntleroy«, »The pretty sister of José« und »The fortunes of Philippa Fairfax«;
George Meredith mit »Diana of the cross ways«, an dem seine Verehrer die Feinheit der psychologischen Darstellung rühmen, der aber doch nicht die gebildete Mehrheit zu gewinnen verstanden hat.
Um so mehr ist dies Francis Marion * Crawford gelungen, der sich rasch einen Platz unter den Klassikern des Romans erstritten hat. Ebenso ist Walter * Besant ans einer sehr geachteten Stellung in der zweiten Reihe zu unbestrittenem Rang in der ersten vorgeschritten. In »Herr Paulus, his greatness and fall« behandelt er in origineller Weise den Spiritismus, in »The world went very well then« ein Stück altfränkischen Lebens, in »Katharina Regina« die Leiden [* 15] u. Freuden der Erzieherin.
Seinen größten Erfolg hatte er aber mit »All sorts and conditions of men« schon deshalb, weil der Roman zur Gründung des People's Palace in London [* 16] geführt hat. Von jüngern traten auch Stevenson und Rider Haggard in die erste Reihe. R. L. Stevenson brachte in den Bukaniergeschichten: »The treasure island« ein Meisterwerk in der Art von Defoes »Robinson Crusoe«, wie auch »The black arrow«, gefiel sich aber dann in dem mysteriösen, alle Voraussetzungen des wirklichen Lebens verleugnenden »Dr. Jekyll and Mr. Hyde« und »New Arabian nights« im ¶