(rätoroman. Engiadina,Engadina), Bergthal im schweizer. Kanton Graubünden,
[* 2] eins der höchstgelegenen bewohnten
ThälerEuropas und von mehr als 80 km
Länge, bildet die obere Thalstufe
des
Inn und zerfällt in zwei völlig verschiedene Hälften, das
Ober- und das Unter-Engadin, die durch die Puntauta (hohe
Brücke)
[* 3] getrennt sind. Das erstere, an Großartigkeit der Gebirgswelt und an
Umfang der Gletschermassen mit den besuchtesten
Alpengegenden wetteifernd, hat bei einer
Seehöhe von 160-1800 m ein ziemlich kaltes
Klima,
[* 4] so daß der
Winter fast zwei Drittel
des
Jahrs einnimmt;
Schnee
[* 5] mitten im Hochsommer fallen zu sehen, ist ebensowenig eine Seltenheit wie im
Winter eine
Temperatur
von -35° C. Aber an schönen Sommertagen ist die
Landschaft von anziehendem
Charakter. Den grünen Wiesengrund
des
Thals fassen beiderseits
Berge ein, hinter denen erst die Schneegipfel hervorschauen. Die Abhänge der südlichen
Berge
tragen vom
Fuß an Nadelwälder; über diesen folgt die
Stufe der obern Alpweiden, und man kann hier stundenweit die Grenzlinie
beider am Abhang wagerecht und scharf gezeichnet sehen. Das Ober-Engadin steht durch die
Pässe des
Bernina
und des
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Maloja mit Italien
[* 7] in Verbindung. Das Unter-Engadin ist weit stärker (von 1610-1019 m) geneigt, wird enger und wilder; der Fluß
rauscht über Felstrümmer und wühlt sich zwischen engen Wänden durch. Die wildeste seiner Schluchten ist die von Finstermünz,
wo er das Schweizer Gebiet verläßt. Das untere Engadin ist großartiger, romantischer, tannenschwärzer,
das obere freundlicher, behäbiger. Im Ober-E. liegen die Ortschaften in der breiten Thalfläche und zeugen durch ihr schmuckes
Aussehen von der Sauberkeit, dem Ordnungssinn und der Wohlhabenheit der Bewohner; die Dörfer des Unter-Engadin hängen an den
Bergböschungen hoch über dem Inn und sehen minder freundlich aus.
In den waldigen Seitenthälern hausen noch Bären, Lämmergeier etc. Für den Botaniker ist das Engadin eine unerschöpfliche
Schatzkammer, namentlich ist die Kryptogamenflora reich. Auch an nutzbaren Mineralien
[* 8] (Galmei, Bleiglanz, silberhaltige Bleierze,
Kupferkiese etc.) ist das Engadin nicht arm; aber noch größere Schätze sind die berühmten Mineralquellen von St. Moritz im Ober-
und Schuls-Tarasp im Unter-E. Ebenso eigentümlich wie das Land sind auch die Bewohner.
Die Engadiner, ein rätoromanisches Völklein, gegen 11,600 Köpfe stark, wandern, wie überhaupt die Graubündner, nach fremden
Städten, hauptsächlich als Zuckerbäcker, Cafétiers oder Handelsleute. Wer dann in der Fremde sein Glück gefunden, kehrt
aus tief gewurzelter Anhänglichkeit an die heimatlichen Gebirge in sein kaltes Hochthal zurück, um hier
den Rest seiner Tage zu verbringen. Das Engadin zählt im ganzen 21 Pfarrdörfer: im obern Engadin liegen Bevers, Silvaplana, St. Moritz,
Samaden, Zuz (Scuoz), Scanfs und Pontresina;
im untern Zernetz, Süß, Lavin, Tarasp, Schuls und Martinsbruck. - Ober-Engadin hatte
seine eignen Grafen.
Graf Dedalrich verkaufte 1139 sein Land an das BistumChur,
[* 9] von dem sich 1494 die Oberengadiner
frei kauften. Im Unter-E. führten die vielfach sich durchkreuzenden Herrschafts- und Lehnrechte der Besitzer zu langen Fehden.
Im VeltlinerKrieg wurde das Engadin von den Österreichern verheert und 1622 an dieselben abgetreten, jedoch schon
im folgenden Jahr an Bünden zurückgegeben. Die letzte österreichische Besitzung war Tarasp, das 1815 an Graubünden
kam.
(Kt. Graubünden).
Das Engadin ist der schweizerische Teil des Innthales, jener merkwürdigen Furche, welche die Alpen vom N.-Rand
bis zum S.-Rand in einer 300 km langen Diagonale durchschneidet und zwar mit einer Steigung von kaum ½%, so dass man auf
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fast horizontaler Strasse vom baierischen Alpenvorland auf den Maloja gelangen kann. Hier wird das Thal nicht durch eine Bergwand
abgeschlossen. Es hat kein Hintergehänge, sondern setzt sich in das entgegengesetzt verlaufende Bergell fort. Der Maloja erscheint
nur vom Bergell aus als Bergwand, vom Engadin aus dagegen nur als oberster Teil des Thalbodens, der dann
plötzlich gegen das steil abfallende Bergell abbricht. Vom Maloja bis in die Schlucht Finstermünz und zur schweizerisch-tirolischen
Grenze hat das Engadin eine Länge von etwa 90 km, wovon die Hälfte auf das geradlinige Stück bis Zernez kommt.
Dann folgt ein etwa 12 km langer, nach SO. geöffneter Bogen um den Gebirgsstock des Piz Nuna herum, von
Zernez bis Giarsun, in dessen ungefährer Mitte Süs liegt; endlich ein ganz flacher, nach NW. geöffneter Bogen bis zur Einmündung
des Schergenbachs aus dem Samnaunthal. Die Hauptrichtung des Thals geht von SW.-NO. Ist dies auch nicht genau parallel mit
der Hauptrichtung der Alpen, so muss man das Engadin im ganzen doch als ein Längsthal bezeichnen. Nur
die kurze Strecke von Zernez bis Süs erscheint als Querthal.
Die einschliessenden Bergketten sind links die Albula- und Silvrettagruppe, rechts die Bernina- und Ofenpassgruppe, die man auch
als N.- und S.-Engadiner Alpen zusammenfasst. Die Kammlinien beider Ketten weichen nur wenig von der geraden
Linie ab und begleiten die Thalfurche in Abständen von meist nur etwa 5-10 km, so dass die Hohlform des Thales auch oben
in der Höhe der Kämme auffallend schmal ist, viel schmäler als z. B. beim Rhein- und Rhonethal und bei
andern Längsthälern von ähnlichem Grössenrang.
Dann aber springt sie auf eine südlichere Kette über, um über Corno di Campo, Monte Foscagno, PizMurtaröl,
Ofenpass (Sür Som), Piz Seesvenna und Piz Lad zu verlaufen, wobei sie namentlich im Gebiet
des Münsterthals eigentümliche Seitensprünge
und Krümmungen macht. Wir finden darum auf der rechten Seite des Engadins einige grössere Seitenthäler. Davon sind das
Pontresina- und das Scarlthal richtige Querthäler, während das Livignothal im grössten Teil seines Verlaufs
ein Längsthal ist und nur im untern Teil zu einem tief eingerissenen, schluchtartigen Querthal wird.
Diese drei grössern Seitenthäler sind die einzigen ständig bewohnten der Südseite. Alle andern, insbesondere auch alle
auf der linken Seite des Engadin, sind nur ganz kurz und steil ansteigend. Davon ist nur das Samnaun in
einigen kleinen Dörfern bewohnt und zwar in seinem obern Teil, wo es in ein Längsthal mit flacherem Thalboden übergeht.
Auch das Val Sulsanna hat zwar noch ein Dörfchen, aber nur an seinem Ausgang zum Hauptthal und nur in geringer
Höhe über der Sohle des letztern.
Manche dieser Seitenthäler ragen in die Gletscherwelt hinauf, besonders im Ober Engadin, wo vor allem die Berninagruppe eine
grossartige Gletscherentwicklung aufweist und mächtige Eiszungen gegen das Hauptthal vorschiebt. Die übrigen Engadiner Gruppen
sind ihrer geringern Höhe entsprechend weit weniger vergletschert, am meisten noch die Silvrettagruppe
vom Piz Linard bis zum Fluchthorn. Doch fallen die meisten und grössten Gletscher hier nicht zum Engadin ab, da sie auf der
N.- und W.-Seite des Gebirges liegen. Die Albulagruppe hat grössere Gletscher nur beim Piz Vadret, beim Piz Kesch und besonders
in der Errgruppe; diese entwässern sich zum grössern Teil zum Engadin. Noch viel spärlicher ist die
Vergletscherung in der Ofenpassgruppe, wo nur kleine Plateau- und Terrassengletscher vorkommen.
Die geologischen Verhältnisse
des Engadin und seiner einschliessenden Bergketten sind sehr mannigfaltige u. verwickelte. Zwar gehört das Thal den Zentralalpen
an, ist also vorherrschend in altkrystalline Schiefer und alteruptive Massengesteine eingeschnitten.
Doch sind dieselben vielfach von paläozoischen und mesozoischen Sedimenten unterbrochen oder in solche eingehüllt. Es lassen
sich drei grössere Sedimentgebiete unterscheiden. Das grösste liegt rechts vom Unter Engadin und breitet sich durch das
gesamte Gebiet der MünsterthalerAlpen bis in die Ortlergruppe aus. Es setzt sich aus verschiedenartigen
Schiefern, Kalken und Dolomiten der Trias zusammen. Die schönen, stolzen Gipfelformen des
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PizPlavna, Piz Pisoc, Piz San Jon, Piz Lischanna, PizAjüz, PizS-chalambert, Piz Lad etc. sind daraus aufgebaut, eine Gipfelreihe
von einer Mannigfaltigkeit der Formen und Farben, wie sie nur selten in solcher Höhe und in so langer Front vorkommt. Doch
reicht dieses Triasgebiet nicht überall an die Innlinie. Im NW. grenzt es längs einer ziemlich geraden,
aber orographisch nicht markierten Linie von Cinuskel über den Stragliavitapass etwa bis Tarasp an die Gneis- und Schiefermasse
des Piz Nuna, die vom Inn w. und n. umflossen wird und nach SW. und NO. sich allmählig verschmälert, so dass gegen die
genannten Enden hin noch der Sockel der Bergwände aus krystallinen Felsarten, die obern Stockwerke aber aus Triasgesteinen
bestehen. Von Tarasp weiter abwärts und von Cinuskel weiter aufwärts etwa bis Ponte treten dann die Triasformationen bis an
die Innlinie heran. - Ein zweites Sedimentgebiet liegt links vom untersten Engadin, etwa von Giarsun unter
Guarda bis über Finstermünz hinaus und von der Thalsohle hinauf zum Piz Minschun, Piz Tasna, PizSpadla, Stammerspitz, Muttler,
Piz Mondin und bis ins Samnaun.
Hier dominieren die in ihrem Alter immer noch nicht sicher bestimmten und in ihrem petrographischen Charakter sehr wechselnden
Bündnerschiefer mit grossen Einlagerungen von Gips und Serpentin und mit reichen Mineralquellen, letztere
besonders bei Fetan, Schuls, Tarasp und im Val Sinestra. Die mächtigsten Serpentinmassen finden sich oben am Piz Minschun und
hinter demselben, dann unten bei Ardez, sowie in zwei durch Gneis getrennten Streifen auch auf der rechten Thalseite. Dazwischen
finden sich auch einzelne kleinere Massen von Granit, Diorit, Kalk und andern Gesteinen. Das dritte und
kleinste Sedimentgebiet zieht sich als schmaler Streifen aus dem mittleren Bünden über Bergün und den Albulapass bis nach
Ponte und Capella und setzt sich über den Piz Casana und quer durch das Livignothal fort bis nach den Quellen
der Adda und in die Nähe der Bäder von Bormio. Er besteht hauptsächlich aus Jurakalken.
Auch die alteruptiven und altkrystallinen Gesteine des Engadin zerfallen in drei Gruppen:
1) die Granite, Diorite, Syenite in teils massiger, teils schiefriger Ausbildung; dann Gneise, Hornblendegneise und
verschiedene krystalline Schiefer der Berninagruppe vom Murettopass bis zum Berninapass und auch noch
darüber hinaus in der Piz Languardgruppe bis ins Val Chamuera;
2) die Granitmasse (vorwiegend Hornblendegranite, Julier-
und Albulagranit) vom Septimer bis zum Albulapass und Piz d'Err mit
einigen Trias-, Lias-, Serpentin-, Grünschiefer- und Gabbroeinlagerungen;
3) die ausgedehnte Gruppe von vorherrschenden Gneisen und Hornblendeschiefern vom Piz Kesch bis zum Fluchthorn,
die die Thalsohle des Engadin auf der Strecke von Capella bis Giarsun erreicht und im Piz Nunastock auch noch beträchtlich
auf die rechte Thalseite hinübergreift. Dazu gesellen sich partienweise auch Sericit- und Talkschiefer, Phyllite (Theobalds
Casanaschiefer) und verwandte Gesteine. Verfolgt man diese Gesteinsgruppen speziell längs der Thalfurche
des Engadin, so zerlegt sich dieses in fünf geologisch verschiedene Abschnitte.
Vom Maloja bis Ponte ist es in krystalline Felsarten (Granit, Syenit, Diorit, Gneis, Glimmerschiefer), von Ponte bis Capella
in Trias- und Liaskalke, von Capella bis Zernez als ungefähre Formationsgrenze zwischen Gneisgebirge links und Dolomitgebirge
rechts, von Zernez bis Giarsun in Gneis und krystalline Schiefer und von Giarsun bis Finstermünz in Kalkformationen
(links Lias, rechts Trias) eingegraben. Jeder dieser Abschnitte zeigt seinen besondern landschaftlichen Charakter.
Doch ist dieser nicht allein durch die Gesteinsverhältnisse bestimmt. Es spielen dabei vielmehr auch die Höhenlage, die
Thalbreite, das Klima und die Vegetation eine wesentliche Rolle, und man unterscheidet darum unter Berücksichtigung
aller Verhältnisse nicht fünf, sondern nur zwei Hauptstufen des Thales: das Ober Engadin und das Unter Engadin. Die Grenze
zwischen beiden nimmt man in der Regel bei der BrückePunt Auta, etwa 5 km unterhalb Scanfs, an.
Das Ober Engadin ist ein flaches Muldenthal mit weitem, ebenem Thalboden und meist nicht allzusteil ansteigenden
Seitengehängen. Durch einen Querriegel zwischen St. Moritz und Celerina zerfällt es selber wieder in zwei Stufen. Die oberste
Stufe schmückt eine lange Kette prächtiger Seen, die die stolzen Formen und blinkenden Gletscher der umstehenden Gebirge
wiederspiegeln und an deren Ufer stattliche Dörfer mit den einfachen Häusern der Eingebornen und den
glänzenden Palästen der Fremdenetablissemente sich ausbreiten. Auch die zweite Thalstufe von Celerina bis unter Scanfs muss
einst ihren See gehabt haben, der aber durch die Ablagerungen der Seitenbäche längst zugeschüttet worden ist. Jetzt nehmen
weite Wiesenflächen, zum Teil auch Sumpf- und Moorböden seine Stelle ein. Aehnlich wie auf der obern
Stufe
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