Ehe
,
gesetzmäßig geschlossener
Vertrag zwischen zwei mannbaren
Personen verschiedenen
Geschlechts
zur dauernden, innigsten Lebensgemeinschaft und zur gemeinsamen
Erziehung der aus diesem Zusammenleben hervorgehenden
Kinder.
Der Ehe
ist eine hohe Bedeutung für das physische und moralische
Wohl der
Bevölkerung
[* 3] beizumessen, und die durchschnittliche
Heiratsziffer ist ein
Maßstab
[* 4] für das Wohlbefinden des
Volkes. Die Heiratsziffer ist das
Verhältnis der
jährlich in die Ehe
tretenden
Personen zur mittlern Einwohnerzahl des
Jahrs; sie wird aber nur als ein dem gegenwärtigen
Stande
der internationalen
Statistik entsprechender Notbehelf
betrachtet, denn einen korrektern
Maßstab gewinnt man, sobald man die
Zahl der Heiratenden mit der Zahl der heiratsfähigen Bewohner vergleicht.
Legt man die
Grenze der Heiratsfähigkeit für
Deutschland
[* 5] bei Männern in das 21., bei
Frauen in das 16. Lebensjahr,
so ergibt sich, daß im
Deutschen
Reich 1886 von je 1000 heiratsfähigen Männern 82,3, von je 1000 heiratsfähigen
Frauen nur
48,3 heirateten. (Berechnet man dagegen die
Ziffern auf die Gesamtbevölkerung, so heirateten von 1000 männlichen
Personen
16,2, von 1000 weiblichen 15,6.) Hiernach treten jährlich von der
heiratsfähigen
Bevölkerung fast doppelt so viele
Männer als
Frauen in die Ehe
ein, und man kann nicht sagen, daß für unsre
monogamischen Einrichtungen sich aus dem numerischen
Verhältnis der
Geschlechter ein zwingender
Grund ableiten läßt.
Nimmt man (ganz willkürlich) an, daß das heiratsfähige
Alter im physiologischen
Sinn bei den Männern
durchschnittlich mit dem 50., bei den
Frauen mit dem 45. Lebensjahr endigt, so entfallen im
Deutschen
Reich immer noch auf 3 männliche
mehr als 4 weibliche
Personen. Die Zahl der jährlich geschlossenen
Ehen ist bei den verschiedenen
Nationen ungleich
groß und unterliegt starken Schwankungen. Dies hängt weniger von klimatischen als von sozialen und wirtschaftlichen Verhältnissen
sowie auch von Volkssitte und
Gesetzgebung ab. Im
Durchschnitt der 19 Jahre von 1865 bis 1883 kamen auf je 1000 Einwohner Ehe
schließungen
in
Preußen | 8.61 |
---|---|
Bayern | 8.42 |
Sachsen | 9.23 |
Österreich | 8.52 |
Ungarn | 10.30 |
Schweiz | 7.11 |
England | 8.08 |
Frankreich | 7.79 |
Italien | 7.71 |
Belgien | 7.15 |
Schweden | 6.52 |
Irland | 4.77 |
Je
früher in einem Land nach Volkssitte,
Klima,
[* 6] Lebensweise und sozialer
Gesetzgebung
Ehen geschlossen werden, um so größer
ist die Zahl der bestehenden
Ehen, denn den in der
Jugend versäumten Ehebund
holen nur wenige im spätern
Alter
nach. Von je 100 heiratenden
Personen standen im
Alter von
Männer bis 25 Jahre | 25-30 Jahre | über 30 Jahre | Frauen bis 20 Jahre | 20-30 Jahre | über 30 Jahre | |
---|---|---|---|---|---|---|
Preußen | 67.74 | 32.26 | 10.30 | 69.74 | 19.96 | |
Bayern | 18.94 | 36.74 | 44.32 | 6.44 | 64.81 | 28.77 |
Sachsen | 34.70 | 38.23 | 27.07 | 10.73 | 70.88 | 78.39 |
Österreich | 62.56 | 37.44 | 18.07 | 57.92 | 24.61 | |
Ungarn | 77.44 | 22.56 | 36.04 | 50.26 | 13.70 | |
Schweiz | 57.84 | 42.16 | 8.79 | 63.74 | 27.47 | |
England | 51.34 | 25.38 | 23.28 | 14.41 | 68.77 | 16.82 |
Frankreich | 27.05 | 37.57 | 35.38 | 21.16 | 59.59 | 19.25 |
Italien | 25.98 | 36.99 | 37.03 | 16.92 | 65.79 | 17.29 |
Belgien | 57.22 | 42.78 | 6.40 | 63.43 | 30.17 | |
Schweden | 23.31 | 35.69 | 41.00 | 5.55 | 65.02 | 29.43 |
Die
Tabelle zeigt, daß im
Süden, obwohl dort die körperliche
Reife früher eintritt und die notwendigen Lebensbedürfnisse
leichter zu befriedigen sind, die
Ehen doch nicht früher geschlossen werden. Dagegen werden in
England 51 Proz. aller
Ehen
seitens der
Männer vor dem 25. Lebensjahr geschlossen (in Rußland angeblich 68 Proz.),
was vielleicht dem Nationalreichtum und dem Fehlen der allgemeinen
Wehrpflicht zuzuschreiben ist; es ist aber auch möglich,
daß das frühe
Heiraten zur
Förderung des Nationalreichtums beigetragen hat. In
Bayern
[* 7] soll die ehe
malige
Gesetzgebung, welche
das
Heiraten ungemein erschwerte, noch jetzt nachwirken, so daß dort zum Teil später gehe
iratet wird
als bei den durch späte körperliche
Entwickelung ausgezeichneten
Schweden.
[* 8]
Die
Sitte des späten Heiratens erhöht, wie es scheint, die Zahl der unehe
lichen
Geburten, und da die
Lebensfähigkeit der
unehe
lichen
Kinder geringer ist als die der ehe
lichen, so erhöht spätes
Heiraten auch die allgemeine
Sterblichkeit. Das Heiratsalter
der
Frauen entspricht nicht immer demjenigen der
Männer. Dies zeigt sich besonders deutlich in
England,
wo vielleicht die spätere physische
Entwickelung des
Weibes das frühe
Heiraten verbietet. Auf je 100
Frauen im gebärfähigen
Alter (vom vollendeten 17. bis vollendeten 50. Lebensjahr) kamen
Geburten vor:
1872-75 durchschnittlich | 1886 | |
---|---|---|
im Deutschen Reich | 30.3 | 27.4 |
in Preußen | 30.4 | 28.1 |
Bayern | 32.0 | 27.4 |
Sachsen | 29.2 | 27.5 |
Württemberg | 35.0 | 27.4 |
Baden | 32.1 | 25.7 |
Hessen | 29.2 | 24.0 |
Mecklenburg-Schwerin | 23.3 | 21.0 |
Berlin | 28.0 | 21.1 |
Posen | 33.1 | 32.2 |
der Rheinprovinz | 35.4 | 31.6 |
Die ehe
liche
Fruchtbarkeit hat hiernach in allen genannten
Staaten und Landesteilen abgenommen, am stärksten in Süddeutschland
und
Berlin.
[* 9]
¶
mehr
Beachtenswert ist die sehr niedrige ehe
liche Fruchtbarkeit in Frankreich. Auf je 100 verheiratete Frauen im gebärfähigen Alter
kamen 1887 nur 16 Geburten überhaupt und nur etwa 14,7 ehe
liche Geburten, so daß die Fruchtbarkeit der Ehen in Frankreich nur
etwa halb so groß ist wie im Deutschen Reich. Vergleicht man die Zahl der jährlich geschlossenen Ehen mit
derjenigen der ehelichen Kinder, so entfielen auf je eine Ehe Kinder: in Berlin 3,2, Bayern rechts des Rheins 4,9, Sachsen
[* 11] und Thüringen
4,2, Ost- und Westpreußen
[* 12] 4,8, Posen
[* 13] und Rheinprovinz
[* 14] 5,2. kBei solcher Rechnung ist die eheliche Fruchtbarkeit am beträchtlichsten
in Spanien,
[* 15] Irland, Rußland, Rumänien,
[* 16] am geringsten in Frankreich, Dänemark,
[* 17] Norwegen. In Frankreich hatten
von je 100 Familien:
kein Kind | 20 im Land, 32.8 in Paris |
---|---|
ein Kind | 24.4 " 27.0 " |
zwei Kinder | 21.8 " 19.8 " |
drei Kinder | 14.5 " 10.6 " |
mehr Kinder | 19.3 " 9.8 " |
Auf ⅔ aller französischen und 4/5 aller Pariser Familien entfiel hiernach durchschnittlich nur ein Kind, und auf 100 Familien kamen in Frankreich überhaupt nur 259 Kinder.
Unter den segensreichen Folgen der Ehe wird auch aufgeführt, daß sie die Lebensdauer verlängere. Thatsächlich sterben von 1000 verheirateten Männern durchweg weniger als von 1000 ledigen derselben Altersklasse. Bei den verheirateten Frauen ist dasselbe Verhältnis in den höhern Altersklassen vorhanden; im Alter von 20-30 Jahren ist das Sterblichkeitsprozent der verheirateten Frauen infolge der mit den Wochenbetten verknüpften Lebensgefahren etwas größer als bei den unverheirateten. In Preußen [* 18] starben 1886 von je 1000 Lebenden:
Männer ledige | verheiratete | Frauen ledige | verheiratete | |
---|---|---|---|---|
im Alter von 20-30 Jahren | 8.1 | 5.9 | 5.8 | 8.1 |
" " " 30-40 Jahren | 16.7 | 9.5 | 9.5 | 9.9 |
" " " 40-60 Jahren | 30.2 | 19.3 | 18.5 | 13.7 |
" " " 60-80 Jahren | 73.1 | 55.5 | 62.1 | 48.2 |
Der Einwand, das; vorwiegend gesunde Personen heiraten, weniger lebenskräftige ledig bleiben, trifft gegenüber den thatsächlichen Verhältnissen nicht zu. Sehr viele gesunde, kräftige Männer in erwerbsfähiger Lage bleiben unverheiratet, weil sie das mit größern Mühen und Entbehrungen verknüpfte Leben der Familienväter scheuen, und um nach ihrer Meinung das Leben besser genießen zu können. Über die größere oder geringere Erkrankungsfähigkeit der Eheleute gegenüber ledigen Personen liegen zuverlässige Ermittelungen nicht vor.
Die Statistik der Irrenanstalten ergibt, daß das Irresein bei Ledigen häufiger ist als bei Verheirateten derselben Altersstufen; mdes gelangen auch wohl Ledige leichter in die Anstalt als Verheiratete, und viele bleiben ledig, weil sie den Keim der psychischen Störung schon in sich tragen. Dessenungeachtet sind die Differenzen so bedeutend, daß die Schutzkraft der Ehe nicht abgeleugnet werden kann. Dieselbe beruht wohl zum Teil auf der Regelung des Geschlechtslebens und darauf, daß das Leben im allgemeinen durch die Ehe in ruhigere, gleichmäßigere Bahnen gelenkt wird und Sorgen und Kummer weniger nachteilig wirken können. Im engsten Zusammenhang hiermit steht, daß Selbstmord bei Eheleuten relativ seltener als bei nicht und namentlich bei nicht mehr Verheirateten vorkommt. Die größte Höhe erreicht die Selbstmordziffer bei den Geschiedenen.