Titel
Dyskrasie
(griech.), »fehlerhafte Mischung«
der Körpersäfte, insbesondere des
Bluts und der
Lymphe; im gewöhnlichen
Leben unter dem
Ausdruck
Schärfe im
Blut bekannt. Mit
Vorliebe bezeichnet man als Dyskrasie
diejenigen Zustände, bei welchen gewisse fremdartige
Stoffe im
Blut wirklich vorkommen oder
doch in demselben vorausgesetzt werden, die im normalen
Blut gar nicht oder doch nur in sehr geringer
Menge enthalten sind. Von alten
Zeiten her hat in der wissenschaftlichen
Medizin wie bei den
Laien die
Neigung bestanden, gewisse
Krankheiten, welche man nicht auf greifbare
Ursachen zurückzuführen vermochte, dadurch zu erklären, daß man eine Entmischung
der Körpersäfte als
Ursache derselben annahm.
Allein nur in verhältnismäßig seltenen
Fällen gelang es, die vorausgesetzte Dyskrasie
auch faktisch nachzuweisen. In der
Mehrzahl
der
Fälle blieb die Dyskrasie
durchaus hypothetisch, die Voraussetzung ihrer
Existenz war nichts als ein Notbehelf der medizinischen
Theorie. Je weiter die
Wissenschaft vorgeschritten und je tiefer
man in die
Erkenntnis von den
Ursachen der
Krankheiten eingedrungen ist, um so mehr hat sich das Gebiet der dyskrasischen
Krankheiten vermindert.
Abgesehen aber von der hypothetischen
Natur der meisten dyskrasischen Zustände, kommt hierbei noch ein lange festgehaltener
Irrtum ins
Spiel, welcher in der
Ansicht liegt, daß das
Blut gewissermaßen eine selbständige
Existenz im
Körper führe, und daß die Ernährungsstörungen der den
Organismus konstituierenden
Gewebe
[* 2] immer von einer ursprünglich
vorhandenen fehlerhaften Mischung des
Bluts abhängig seien. Dieser Grundirrtum ist besonders von
Virchow (in seiner
»Cellularpathologie«)
beseitigt worden, indem derselbe zeigte, daß in der
Mehrzahl der
Fälle, wo überhaupt eine Dyskrasie
nachweisbar ist
oder doch mit
Wahrscheinlichkeit vorausgesetzt werden darf, diese Dyskrasie
nicht die
Ursache der Organerkrankungen ist, sondern daß
umgekehrt eine ursprünglich örtliche Erkrankung eines
Organs erst sekundär zu einer abnormen
Zusammensetzung des
Bluts geführt
hat.
Mit andern
Worten: es stellte sich heraus, daß die meisten Dyskrasien
keine primären, sondern daß es
sekundäre Zustände sind, daß sie nicht als die
Ursachen, sondern umgekehrt als die
Folgen gewisser Erkrankungen der
Organe
und
Gewebe des
Körpers zu betrachten sind. Faßt man den
Begriff der Dyskrasie
so auf, daß man darunter jede
Abweichung von der normalen
Zusammensetzung des
Bluts versteht, so lassen sich folgende
Formen der Dyskrasie
unterscheiden:
1) Zustände, wo die normalen Bestandteile des Bluts in einem abnormen Mengenverhältnis vorhanden sind (Anämie, Bleichsucht, Leukämie, Hydrämie etc.);
2) Zustände, wo fremdartige Stoffe, welche normalerweise gar nicht oder doch nur in ganz geringen Mengen im Blut vorkommen, in gelöster Form und in relativ beträchtlicher Menge dem Blut ¶
mehr
beigemischt sind, so die Harnbestandteile (Urämie), der Zucker [* 4] (Zuckerharnruhr), Gallenbestandteile (Gelbsucht) etc.;
3) Beimengung fremdartiger geformter Bestandteile zum Blut, z. B. von Pigmentkörnern bei Melanämie, von Bakterien bei Milzbrand,
Pocken, Rückfalltyphus und andern ansteckenden Krankheiten. Meistens wird der Begriff der Dyskrasie
jedoch nicht in diesem nach moderner
Anschauung einzig berechtigten Sinn aufgefaßt, sondern es wird darunter nach altem humoralpathologischen
Brauch erstens die angeborne oder erworbene, in ihren Ursachen unbekannte Neigung gewisser Individuen zu gewissen Krankheiten
(Tuberkulose, Skrofulose) und zweitens das durch das Bestehen von Krebs,
[* 5] Tuberkulose, Syphilis bedingte allgemeine schlechte Ernährungsverhältnis
des gesamten Organismus verstanden.