Dschagannath
(Dschagarnat, nach engl. Schreibart
Juggurnaut), bei den
Hindu von der Wischnusekte
Name der Seehafenstadt
Puri in der britisch-ostindischen
Präsidentschaft
Bengalen,
Provinz
Orissa, nach Dschagannath
, der populärsten indischen
Gottheit, deren
Thaten sich in der
Nähe derselben vollzogen. Der
Ort hat ein sehr gesundes
Klima,
[* 2] zählt (1881) 22,095
Einw. und gehört zu den heiligsten
Plätzen der
Hindu. Das weitberühmte Heiligtum desselben bildet ein von einer 6 m hohen
Steinmauer eingefaßtes
Viereck,
[* 3] dessen Seiten 198, resp. 191 m lang sind.
Innerhalb derselben erheben sich an 120 den verschiedensten Hindugottheiten geweihte
Tempel;
[* 4] die größte
Pagode
und der Haupttempel ist dem
Gotte Dschagannath
geweiht, einer Form
Wischnus als
Krischna ohne
Hände und
Füße, welchen Mangel die
Legende
höchst befriedigend zu erklären weiß. Vor dem Haupteingang steht eine 16kantige, am
Sockel reichverzierte Basaltsäule
mit der
[* 1]
Figur des Affengottes Hanuman; der Eingang selbst ist zu beiden Seiten mit
kolossalen
Greifen und andern Gestalten geschmückt
und heißt das »Löwenthor«
(Singh-Dwar).
Auf einer
Treppe
[* 5] von 15
Stufen steigt man zum
Tempel Dschagannaths
empor. Er besteht, wie alle solche Bauwerke in
Orissa, aus
den vier quadratischen
Hallen (für
Gaben, für die Tänzerinnen, für den Empfang der
Pilger und für das Heiligtum)
und ist von einer zweiten quadratischen
Mauer von 127 m Seitenlänge umgeben. Zwei der
Hallen tragen ein spitz zulaufendes,
vierseitiges
Dach;
[* 6] eine andre, mit 16
Säulen,
[* 7] hat ein flaches
Dach; die Haupthalle dagegen ist mit einem bis zur
Höhe von 60 m
sich erhebenden kuppelförmigen
Dach, fast in Gestalt einer
Bischofsmütze, gedeckt.
Dieselbe hat 7,5 m im
Geviert und enthält das Gnadenbild Dschagannaths
mit seinem
Bruder Balarama
(Siwa) und seiner
Schwester
Sabhadra als Begleitern: drei etwa 2 m hohe, roh aus
Holz
[* 8] geschnitzte Götzenbilder mit fratzenhaft verzerrten Gesichtern,
das erste von dunkelblauer, das zweite von weißer, das dritte von gelber
Farbe. Neben den täglichen
(unblutigen)
Opfern werden hier 24 hohe Festtage gefeiert; das große Ereignis des
Jahrs ist aber das sogen. Wagenfest im Juni
oder Juli, wo das
Bild des
Gottes auf einem 14 m hohen
Wagen mit 16
Rädern von je 2 m
Durchmesser im tiefen
Sand von
Tausenden
von
Menschen nach einem etwa 1 km entfernten Landhaus fortgezogen wird, eine Kraftanstrengung, die mehrere
Tage erfordert.
Zwei andre Wagen tragen die Bilder seiner Geschwister. Die Wagen werden dann wieder zurückgeschoben, und jedesmal begleitet ein wüstes Durcheinander von Musik, wildes Rufen der auf den Wagen stehenden Priester und das Geschrei der Menge die Handlung. Reis, in der Küche beim Heiligtum gekocht, wird verteilt und als Reinigungsmittel gegen die Sünden gierig genommen. In dieser Gemeinsamkeit der Nahrung hat die Volkstümlichkeit des Gottes und der mit seiner Verehrung verbundenen lokalen Feste ihren Grund.
Während sonst
Speise durch die bloße Berührung eines
Mannes von einer andern
Kaste ungenießbar wird,
kommt hier die
Gleichheit des
Menschen vor Gott zum
Ausdruck, indem Dschagannath
seinen
Segen jedem gewehrt, der zu ihm kommt. Nach den
Erhebungen eines angesehenen
Hindu beträgt die tägliche Zahl der Besucher durchschnittlich 50,000 und steigt an Hauptfesttagen
auf 300,000; beim Wagenfest wird in der Tempelküche für 90,000 Andächtige die Reismahlzeit gekocht.
Die jährlichen Einkünfte des
Tempels sind zu 620,000 Mk.
Rente aus den zum
Tempel gehörenden
Klöstern und Ländereien und
740,000
Mk. an jährlichen
Geschenken der
Pilger, mithin
in Summa zu 1,36 Mill. Mk. veranschlagt.
Übrigens ist das
Ziehen des Dschaganna
thwagens nicht auf
Puri allein beschränkt, sondern weit verbreitet,
wie ja auch der Dschaganna
thkultus kein lokaler, sondern ein allgemein indischer ist. Die gangbare
Annahme, daß regelmäßig
einige Andächtige sich in der
Ekstase absichtlich unter die
Räder werfen, ist dahin zu berichtigen, daß früher einzelne
solcher
Fälle vorkamen, daß solche Art des
Selbstmordes aber gegenwärtig ganz außer
Gebrauch gekommen
ist. Unglücksfälle kommen allerdings, besonders in
Puri, bei dem fürchterlichen Gedränge von Teilnehmern am Wagenziehen
alljährlich genug vor; die englische
Regierung von
Bengalen hat deshalb 1873 ihre Beamten angewiesen, die mechanischen Vorrichtungen
für das
Ziehen der
Wagen zu überwachen und so die damit verbundene Lebensgefahr zu vermindern.
Vgl. Hunter, Orissa, Bd. 1 (Lond. 1872);
E. Schlagintweit, Indien (Leipz. 1881).