Aber seit seiner Romreise von 1857, seit dem italienischen
Krieg von 1859 und noch mehr seit dem vatikanischen
Konzil von 1870 trat ein Umschwung in Döllingers Überzeugungen ein, welcher zuerst 1861 in zwei zu
München gehaltenen
Vorträgen
sich offenbarte, darin die Möglichkeit einer völligen Aufhebung der weltlichen
Gewalt des
Papstes dargelegt war.
Schon jetzt stark angefeindet, unterwarf er sich und zog in der
Schrift
»Kirche und
Kirchen,
Papsttum und
Kirchenstaat«
(München
1861) noch einmal gegen den
Protestantismus zu
Felde, nachdem schon weit gründlichere wissenschaftliche Leistungen in seinen
Schriften: »Hippolytus und Kallistus« (Regensb. 1853),
»Christentum und
Kirche in der Zeit der Grundlegung« (das. 1860, 2. Aufl.
1868) erschienen waren. Einen neuen
Schritt vorwärts that er 1863, als er mit
Haneberg und
Alzog eine Versammlung katholischer
Gelehrten nach
München berief, daselbst eine
Rede über »Vergangenheit und Gegenwart der katholischen
Theologie« (Regensb. 1863)
hielt und bald darauf sein Werk »Die Papstfabeln des
Mittelalters«
(Münch. 1863) erscheinen ließ. Eine
scharfe
Kritik des
Syllabus und auch der bereits in der
Luft liegenden Unfehlbarkeitslehre enthielt das von ihm und seinen
KollegenFriedrich und
Huber
ausgearbeitete
Buch
»Janus«
[* 12] (Leipz. 1869). Während des
Konzils erhob er von
München aus in
zwei
Gutachten vergeblich seine warnende
Stimme gegen die
Verkündigung der päpstlichen
Unfehlbarkeit und gab das
Signal zur
Entstehung des
Altkatholizismus (s. d.). Dieser nahm nun freilich schon auf seinem ersten
Kongreß zu
München durch sein Vorgehen zu selbständiger Gemeindebildung eine Wendung, in deren
FolgeDöllinger, welcher
bloß den Standpunkt der
Notwehr innerhalb der alten
Verfassung einzuhalten gedachte, sich nicht mehr persönlich
an der Weiterentwickelung der
Sache beteiligte.
Wie wenig aber damit ein
Rückschritt in der
Richtung nach
Rom
[* 13] verbunden und beabsichtigt war, zeigten gleich 1872 seine
»Vorträge
über die Wiedervereinigung der christlichen
Kirche«, ein wahrhaft versöhnender
Abschluß der hochbedeutenden
und in vieler Beziehung tragischen Wirksamkeit Döllingers, dem um diese Zeit die
Universitäten zu
Wien,
Marburg,
[* 14]
Oxford
[* 15] und
Edinburg
[* 16] den juristischen und philosophischen Doktorhut verliehen, während die zu
München ihn zum
Rektor wählte. Als
Frucht
seiner gelehrten Muße erschien noch: »Sammlung von
Urkunden zur Geschichte des
Konzils vonTrient«,
[* 17] Bd.
1: »Ungedruckte
Berichte und
Tagebücher«
(Nördling. 1876, 2
Tle.). Seither haben verschiedene
Vorträge, welche Döllinger in seiner
Stellung als Vorsitzender der königlichen
Akademie hielt,
Zeugnis wie von seiner fortgesetzten Arbeitslust, so auch davon abgelegt,
daß er keinen
Schritt rückwärts zu thun willens ist.
JohannJoseph Ignaz von, Sohn des vorigen, kath. Theolog und Historiker, geb. zu
Bamberg, studierte in Würzburg und in seiner Vaterstadt, ward 1822 zum Priester geweiht und Kaplan in Marktscheinfeld, 1823 Lehrer
am Lyceum zu Aschaffenburg, 1826 ord. Professor der Kirchengeschichte und des Kirchenrechts an der UniversitätMünchen. Er
wurde 1847 zum Propst des Stifts St. Cajetan, 1868 zum lebenslänglichen Mitglied des Reichsrats sowie 1835 zum
außerordentlichen, 1843 zum ordentlichen Mitglied der MünchenerAkademie der Wissenschaften, deren Präsident er seit 1873 war,
ernannt und starb - In der ersten Hälfte seines Lebens ein energischer Vorkämpfer der Machtansprüche der röm.
Kirche gegenüber dem Staat, durch seine Geschichtsbehandlung das Vorbild der modernen ultramontanen Geschichtschreibung,
rang sich Döllinger allmählich zu einem milden, freien und unbefangenen Katholicismus hindurch. Im ultramontanen Sinne beteiligte
sich Döllinger an den Streitigkeiten über die gemischten Ehen (1838), an den Erörterungen über die Kniebeugung der prot.
Soldaten (1843) und seit 1845 als Vertreter der Universität an den Verhandlungen der bayr. Kammer. In der
Zeit der Lola Montez, 1847, wurde er als Universitätsprofessor in den Ruhestand versetzt, wodurch er seinen Sitz in der Kammer
verlor; König Maximilian II. setzte ihn 1849 wieder in sein Amt ein. Als Mitglied des Frankfurter Parlaments (1848-49)
gehörte Döllinger zu den bedeutendsten Führern der kath. Fraktion, welche sich bemühte, unter Berücksichtigung der völlig veränderten
Verhältnisse der Kirche eine möglichst weitgehende Unabhängigkeit vom Staat und unbeschränkte Selbständigkeit in der Ordnung
ihrer innern Angelegenheiten zu verschaffen. Döllinger entwarf hier den Wortlaut der darauf bezüglichen Bestimmung,
welche vom Frankfurter Parlament nur teilweise in die Grundrechte, dagegen von Preußen
[* 19] unverändert als
Art. 15 der Verfassung aufgenommen und erst durch Gesetz vom wieder aufgehoben wurde.
Unter D.s Schriften aus feiner ersten Periode sind zu nennen: «Die Lehre
[* 20] von der Eucharistie in den ersten drei Jahrhunderten»
(Mainz
[* 21] 1826),
die Vollendung von Hortigs «Handbuch der Kirchengeschichte» (Landsh. 1828),
und die Neubearbeitung
desselben u. d. T. «Geschichte der christl.
Kirche» (Bd. 1 in 2 Abteil.,
ebd.
1833-35),
«Lehrbuch der Kirchengeschichte» (Bd. 1 und Bd.
2, Abteil. 1, Regensb. 1836-38; 2. Aufl.
1843),
«Die Reformation, ihre innere Entwicklung und ihre Wirkungen im Umfange des luth. Bekenntnisses»
(3 Bde., ebd. 1846-48; 2. Aufl., Bd.
1, 1851),
«Luther, eine Skizze» (Freiburg
1851; neuer Abdr. 1890). - Der Umschwung in seinen kirchenpolit. Überzeugungen
vollzog sich namentlich seit seiner Romreise 1857 und erhielt seinen Abschluß durch das Vatikanische Konzil. Schon 1861 hielt
er zu München im Odeon zwei Vorträge, in denen er die Möglichkeit einer Aufhebung der weltlichen Macht
des Papstes und deren Folgen für die kath. Kirche besprach; der päpstl. Nuntius verließ infolgedessen ostentativ den Saal.
Den heftigen Angriffen, welche Döllinger deshalb erfuhr, stellte er die Schrift«Kirche und Kirchen, Papsttum und Kirchenstaat» (Münch.
1861) entgegen, worin er eingehend bewies, daß die weltliche Herrschaft des Papstes für das Gedeihen
der kath. Kirche nicht notwendig sei.
Noch heftigere Anfeindungen erfuhr Döllinger, als er 1863 gemeinschaftlich mit Haneberg eine kath.
Gelehrtenversammlung nach München berief und als deren Vorsitzender eine Rede hielt über die «Vergangenheit und Gegenwart
der kath. Theologie», welche nachdrücklich eine gründlichere wissenschaftliche Bildung des kath. Klerus
forderte. Bald darauf erschienen seine, manche traditionelle Erdichtung aufdeckenden «Papstfabeln
des Mittelalters» (Münch. 1863; 2. Aufl., hg. von J. ^[Johannes] Friedrich, Stuttg. 1890). Als das Vatikanische Konzil berufen
wurde, um die päpstl. Unfehlbarkeit zu beschließen, war Döllinger der bedeutendste und eifrigste derjenigen
deutschen Theologen, welche die Verkündigung des neuen Dogmas zu hindern suchten. Schon vorher wies das von ihm mit Huber
unter dem PseudonymJanus ausgearbeitete Buch «Der Papst und das Konzil» (Lpz. 1869; neu bearb. von J. ^[Johannes] Friedrich, Münch.
1892) auf die Unhaltbarkeit des in Aussicht genommenen Dogmas hin; während des Konzils veröffentlichte
Döllinger in der Augsburger«Allgemeinen Zeitung» die «RömischenBriefe vom Konzil» (als Buch unter dem Pseudonym«Quirinus», Lpz. 1870),
welche mit voller Entschiedenheit die Anschauungen der Opposition vertraten, und ließ «Erwägungen für die Bischöfe des
Konziliums über die Frage der Unfehlbarkeit» in deutscher und franz. Ausgabe an die Mitglieder des Konzils
verteilen. Ende August präsidierte er zu Nürnberg
[* 22] einer Versammlung von kath. Gelehrten, deren Erklärung gegen den Konzilsbeschluß
den Anstoß zur altkath. Bewegung gab. Vom Erzbischof von München-Freising zur Unterwerfung aufgefordert, wies Döllinger dies Ansinnen
durch eine offene Erklärung vom zurück.
Infolgedessen traf ihn am 17. April die Exkommunikation; doch ehrte die MünchenerUniversität den Exkommunizierten
durch die fast einstimmige Wahl zum Rector magnificus, und die UniversitätenMarburg, Oxford und Edinburgh ernannten ihn zum
juristischen, Wien zum philos. Ehrendoktor. Döllinger nahm auch an den ersten Verhandlungen zur Gründung einer altkath. Genossenschaft
teil. Als aber der Wille der Mehrheit über seine Absicht hinaus, eine gegen das neue Dogma protestierende
Sonderstellung innerhalb der Kirche einzunehmen, auf Bildung selbständiger Gemeinden drängte, zog er sich von der Bewegung
zurück. (Vgl. D.s Briefe und Erklärungen über die vatikanischen Dekrete aus den Jahren
¶
mehr
1869-87, Münch. 1890.) - Die Frucht seiner irenischen Studien und Bestrebungen waren die Aufsehen erregenden «Vorträge über
die Wiedervereinigung der christl. Kirchen», 1872 zu München gehalten, zuerst in der «Allgemeinen Zeitung» veröffentlicht
(engl. «Lectures on the reunion of the Churches»,
Lond. 1872; deutsch als Buch, Nördl. 1888); im Interesse einer Union der Altkatholiken mit der anglikan.
und orient. Kirche berief und leitete Döllinger 1874 und 1875 Konferenzen in Bonn, die zwar zu einer gegenseitigen Annäherung, aber
zu keinem positiven Erfolg führten.
Von seinen Schriften sind als streng wissenschaftlich noch zu nennen: «Hippolytus und Kallistus, oder die röm. Kirche in der
ersten Hälfte des 3. Jahrh.» (Regensb.
1853),
«Beiträge zur politischen, kirchlichen und Kulturgeschichte
der letzten 6 Jahrh.» (3 Bde.,
Regensb. 1862-82),
«Die Selbstbiographie des Kardinals Bellarmin» (mit Reusch, Bonn 1887),
«Akademische Vorträge» (Bd. 1 u.
2, Nördl. 1888; Bd. 3, hg. von Lossen, Münch. 1891),
«Geschichte der Moralstreitigkeiten in der röm.-kath.
Kirche seit dem 16. Jahrh., mit Beiträgen zur Geschichte und Charakteristik
des Jesuitenordens» (gemeinsam mit Reusch, 2 Bde., Nördl.
1889),
«Beiträge zur Sektengeschichte des Mittelalters» (2 Bde.,
Münch. 1890). Nach seinem Tode erschienen: «KleinereSchriften», hg. von Reusch (Stuttg. 1890),