Dispensation
(lat., eigentlich »Abwägung«),
die Aufhebung einer Rechtsnorm für einen einzelnen
Fall; daher Dispensati
onsrecht, die Befugnis, die Anwendung einer Rechtsnorm
für einen gegebenen
Fall auszuschließen. Es liegt in der
Natur der
Sache, daß an und für sich nur diejenige
Gewalt von
einer gesetzlichen Vorschrift »dispensieren« kann, welche dies
Gesetz erlassen hat, und daß die Aufhebung eines
Gesetzes für
einen bestimmten einzelnen
Fall nur durch ein anderweites
Gesetz unter Mitwirkung sämtlicher
Faktoren der gesetzgebenden
Gewalt
erfolgen kann.
Hiernach würde also an und für sich in einer konstitutionellen
Monarchie der
Regent nur unter Mitwirkung
der
Stände und unter
Gegenzeichnung eines verantwortlichen
Ministeriums Dispensation
erteilen können, während nach römischem
Rechte der
Kaiser als unumschränkter
Selbstherrscher in der Erteilung von Dispensationen
, welche man zu den Privilegien rechnete, unbeschränkt
war. Allein fast alle neuern
Publizisten, namentlich
Zöpfl,
Mohl,
Rönne und
Zachariä, sprechen sich dafür aus, daß
die Dispensati
onsbefugnis des
Landesherrn, wenigstens in Ansehung der Zivilrechtsnormen, an die Zustimmung der
Stände nicht
gebunden und nur insofern begrenzt sei, als dadurch keine wohlerworbenen
Rechte einer
Person und keine solchen gesetzlichen
Vorschriften verletzt werden dürfen, welche unbedingt verpflichtend sind und keinerlei Ausnahmen im Weg des
Dispenses zulassen.
Dagegen ist neuerdings von
Gerber der mit den Prinzipien des
Rechtsstaats allein vereinbarliche
Satz verteidigt
worden, daß nur in denjenigen
Fällen dispensiert werden könne, in denen das
Gesetz oder überhaupt das geltende
Recht dies
ausdrücklich zulasse: eine
Ansicht, welche, da außerdem durch eine wiederholte Erteilung von Dispensationen
durch die
vollziehende Gewalt
die ganze Thätigkeit der
Legislative illusorisch gemacht werden könnte, auch von der gerichtlichen
Praxis,
namentlich in
Preußen,
[* 3] adoptiert worden ist.
Die Verfassungsurkunden der einzelnen deutschen
Staaten erwähnen nämlich das Dispensati
onsrecht des
Landesherrn regelmäßig
nur kurz, ohne dasselbe näher zu präzisieren; insbesondere fehlt es in der preußischen Verfassungsurkunde gänzlich an
derartigen Bestimmungen. Die
Hauptfälle, in welchen die Dispensati
onsbefugnis ausgeübt zu werden pflegt,
sind die Erteilung der Volljährigkeit (Majorennisierung) sowie in manchen protestantischen
Ländern die
Ehescheidung.
Die Ausübung dieses letztern Dispensati
onsrechts, welches evangelischen
Landesherren als den Häuptern der Staatskirche zusteht,
wird regelmäßig unter Mitwirkung der Konsistorien oder Kultusministerien ausgeübt. Im katholischen
Kirchenrecht ist
das
oben entwickelte
Prinzip, daß die Dispensation
sbefugnis der gesetzgebenden
Gewalt korrespondieren müsse, in konsequenter
Weise durchgeführt. Dieselbe steht daher in kirchenrechtlichen Angelegenheiten zunächst dem
Papst zu; doch findet sie hier
in dem sogen. göttlichen
Recht ihre
Schranke, indem z. B. von dem Verbot der
Ehe zwischen Eltern und
Kindern auch der
Papst nicht dispensieren kann.
Der Form nach werden die päpstlichen
Dispense eingeteilt in Dispensationen
in forma gratiosa und
in forma commissoria, je nachdem
sie unmittelbar durch die römische
Kurie oder durch Vermittelung des
Ordinariats, d. h. durch den kompetenten
Bischof (ordinarius),
erteilt werden. Den
Bischöfen selbst steht das
Recht zur Dispensation
von kirchenrechtlichen
Satzungen bloß in Ansehung
ihres
partikulären Diözesanrechts zu; rücksichtlich des gemeinen
Kirchenrechts nur, wenn und soweit ihnen eine Dispensation
sbefugnis
vom
Papst
übertragen worden ist.
Letzteres geschieht durch die sogen. Facultates
(Vollmachten) und zwar regelmäßig nur auf fünf Jahre
(Quinquennal-Fakultäten).
Soweit von den gesetzlichen Erfordernissen einer Eheschließung Dispensation
zulässig, ist die
Erteilung derselben in
Deutschland
[* 4] nunmehr
Sache des
Staats (s.
Ehe). Zu bemerken ist noch, daß in
England das Dispensation
srecht
der
Krone durch die
Bill of rights für immer beseitigt worden ist, nachdem dasselbe unter
Jakob II. durch systematischen
Mißbrauch
fast zu einer gänzlichen Beseitigung der alten Landesrechte geführt hatte.
Auf dem Gebiet des Strafrechts ist von eigentlicher Dispenserteilung keine Rede; hier tritt das Begnadigungsrecht an die Stelle derselben (s. Begnadigung).
Vgl. Gneist, Englisches Verwaltungsrecht (2. Aufl., Berl. 1867);
Derselbe, Verwaltung, Justiz, Rechtsweg etc., S. 62 ff. (das. 1869);
Gerber, Über Privilegienhoheit und Dispensation
sgewalt im modernen
Staate
(Tübinger
»Zeitschrift für
Staatswissenschaft«
1871);
Derselbe, Gesammelte juristische Abhandlungen (Jena [* 5] 1872). -
In der
Medizin heißt Dispensation
(Dispensieren) das Verteilen und Ausgeben der Arzneien an die Kranken.