Diplomātik
(grch.), diejenige histor. Hilfswissenschaft, welche die Dokumente oder die im Geschäftswege entstandenen Schriftstücke früherer Zeiten verstehen, beurteilen und gebrauchen lehrt. Ihren Namen erhielt sie von der wichtigsten und schwierigsten Klasse dieser Dokumente, den Diplomen (s. d.) oder Urkunden, an denen sie auch zur Wissenschaft sich heranbildete und allmählich die gegenwärtige Ausdehnung [* 2] und Bedeutung ihres Begriffs erreichte. Man hatte zwar schon seit dem Anfange des 16. Jahrh. geschichtlichen Werken Urkunden beigegeben; größere Bedeutung erlangten dieselben jedoch erst bei Gelegenheit der vielfachen, während des 17. Jahrh. in Deutschland [* 3] erörterten staats- und fürstenrechtlichen Streitfragen (bella diplomatica). Der belg. Jesuit Dan. Papebroek machte den ersten Versuch einer wissenschaftlichen Behandlung der Urkunden und faßte die Ergebnisse seiner Forschung in einer Abhandlung zusammen, die dem zweiten Bande der «Acta Sanctorum, Aprilis» (Antw. 1675) beigegeben ist. Der Umstand, daß hier die Echtheit der ältesten, namentlich vieler merowing. Urkunden der Abtei St. Denis angezweifelt worden war, veranlaßte den gelehrten Benediktiner Mabillon, mit seinem berühmten Werke «De re diplomatica» (Par. 1681; mit Supplementen, 2 Bde., ebd. 1704; Neap. 1789) zu antworten, das der neuen Wissenschaft den Namen verlieh und deren eigentliche Grundlage wurde, ohne jedoch eine vollständige Behandlung derselben zu geben oder auch nur zu beabsichtigen.
Nach Mabillon, der seine Erfolge vor allem dem reichen Material zu verdanken hatte, das ihm zur
Verfügung stand, erfuhren
auf lange Zeit hin nur die einzelnen
Teile der Diplomatik
entweder ganz neue
Begründung oder weitere Ausführung
und
Bereicherung. So erweiterte der Engländer Madox die Formelkunde, brach Heineccius der Siegelkunde neue
Bahn und behandelte
Bessel, der
Abt des
Klosters Göttweih, die Specialdiplomatik
der deutschen Könige und
Kaiser von Konrad Ⅰ. bis
Friedrich Ⅱ.
und begründete namentlich die diplomat.
Geographie Deutschlands. [* 4] Bessels berühmtes «Chronicon Gotwicense» (2 Bde., 1732) wurde durch Heumans «Commentarii de re diplomatica imperatorum et regum Germ.» (2 Bde., Nürnb. 1745‒53) gewissermaßen ergänzt. In Frankreich fügte Montfaucon die griech. Schriftkunde und Charpentier die Kenntnis der Tironischen Noten hinzu, denen die von Baring und Walther mit großem Fleiße gesammelten Buchstabenproben und Abkürzungen der lat. Schrift sich ergänzend anschlossen.
In
Deutschland ward die Diplomatik
auch unter die Gegenstände des Universitätsunterrichts aufgenommen und zu diesem
Behufe von Eckhard (1742) und Joachim (1748) in Kompendien gebracht und damit gleichzeitig Paläographie,
Chronologie und
Siegelkunde nebst rechts- und staatsgeschichtlichen Erörterungen verbunden. Mit ebenfalls sehr reichen
Hilfsmitteln und im wesentlichen wieder von Mabillons Standpunkte aus, behandelten Toustain und Tassin, gleichfalls
Benediktiner,
aufs neue die Diplomatik
sehr ausführlich in dem noch immer wichtigen «Nouveau
traité de diplomatique» (6 Bde., Par.
1750‒65; deutsch von
Adelung und
Rudolf u. d. T. «Lehrgebäude der Diplomatik»
, 9 Bde.,
Erf.
1759‒69),
während drei andere
Benediktiner, Dantine, Durand und Clemencet, in «L’art de vérifier
les dates» (1750; 3. Aufl., 3 Bde.,
1783‒92) für die histor. und diplomat.
Chronologie eine treffliche Grundlage schufen. Eine systematische Fassung der Diplomatik
versuchte
zuerst Gatterer seit 1765, dann mit etwas mehr Erfolg Gruber (1783) und Zinkernagel (1800). Eine größere
Umgestaltung würde jedenfalls Schönemann herbeigeführt haben, wenn nicht dessen «Versuch
eines vollständigen
Systems der Diplomatik»
(2 Bde., Hamb.
1800‒1) wegen des frühen
Todes des Verfassers unvollendet geblieben wäre.
Zunächst wurde nun der Diplomatik
einerseits ein neuer
Boden geschaffen, andererseits ihre Nutzanwendung gemacht in der
Verwaltung
und Ordnung der
Archive, beides mehr und mehr nach richtigen wissenschaftlichen Grundsätzen. Unter die
Früchte dieser
Arbeit sind namentlich die ausgezeichneten Urkundensammlungen und Regesten zu rechnen, die in immer wachsender
Zahl die sicherste Grundlage für geschichtliche
Studien darbieten. Durch die an die
Aufgabe von
Urkunden sich anschließenden
allgemeinen Grundsätze, welche
Sickel aufgestellt hat, ist dieser nach Mabillon zum zweiten Begründer
der Diplomatik
geworden.
Ihm zur Seite arbeitete mit gleichem Verdienste
Ficker. Daneben wurden auch einzelne Zweige der Diplomatik
, wie die Schriftkunde durch
Kopp u. a., die
Sphragistik und Heraldik durch Melly,
Bernd, den Fürsten zu
Hohenlohe-Waldenburg u. a. gefördert, während
mehrere Zeitschriften, wie die «Zeitschrift für Archivkunde,
Diplomatik
und Geschichte» von
Höfer,
Erhard und von Medem (1833‒35) und die «Zeitschrift für die
Archive
Deutschlands» von Friedemann
(1846‒53) den fortlebenden
Sinn für das Ganze der Wissenschaft bekundeten.
Gegenwärtig bildet das Handbuch von
Breßlau (s. unten) das wichtigste Hilfsmittel zur Einführung in die Diplomatik
, außerdem
enthalten besonders die «Archivalische Zeitschrift» (Bd.
1‒13, hg. von
Löher, Stuttg. und
Münch. 1876‒88 und
Neue Folge, Bd. 1‒2, hg. durch das bayr.
Allgemeine Reichsarchiv in
München,
[* 5] 1890‒91) und die «Mitteilungen des
Instituts für österr. Geschichtsforschung» von Mühlbacher
(Bd. 1‒13, Innsbr. 1879‒92)
wichtige Beiträge zur Diplomatik.
Ihr dienen auch die von v.
Sybel und
Sickel herausgegebenen «Kaiserurkunden in
Abbildungen» (Berl. 1880‒91). (S.
Archiv.) –
Vgl. Ficker, Beiträge zur Urkundenlehre (2 Bde., Innsbr. 1877);
Leist,
Urkundenlehre.
Katechismus der Diplomatik
u. s. w. (Lpz. 1882);
ders., Die Urkunde, ihre Behandlung und Bearbeitung (Stuttg. 1884);
Posse, Die Lehre [* 6] von den Privaturkunden (Lpz. 1887);
Breßlau, Handbuch der Urkundenlehre (Bd. 1, ebd. 1889).