Dickens
,
Charles, früher bekannt unter dem Pseudonym Boz, berühmter engl. Schriftsteller, nebst Thackeray der Gründer der Londoner Romanschule, wurde zu Landport bei Portsmouth, [* 3] wo sein Vater bei der Marine angestellt war, geboren, ward von seinem achten Jahr an in Chatham, später in London [* 4] erzogen und zeichnete sich schon früh durch eifriges Lesen der vaterländischen Novellisten und Dramatiker aus. Wenig bemittelt, trat er zu London in die Dienste [* 5] eines Advokaten, wo er Gelegenheit hatte, das englische Volksleben zu studieren, trieb zugleich im Britischen Museum litterarische Studien und entwickelte so großes Geschick als Reporter, daß er zur Mitarbeit am »Parlamentsspiegel« und später am »Morning Chronicle« gezogen wurde. In letzterer Zeitschrift veröffentlichte er die Skizzen des bunten Treibens der niedern Stände der Hauptstadt, die er gesammelt als »Sketches of London« (1836-37, 2 Bde.) mit Zeichnungen von Cruikshank herausgab.
Seinen Ruhm aber gründete er durch die »Pickwick papers« (1837-38), die in wöchentlichen Heften mit Federzeichnungen von Cruikshank und Phiz erschienen und von allen Schichten der Gesellschaft mit gleicher Freude begrüßt wurden. Das Buch enthält leicht zusammengehaltene Skizzen und lustige Abenteuer einiger Gentlemen des Pickwickklubs, welche auf einer Reise durch England die Sitten verschiedener Gesellschaftsklassen beobachten, und es offenbaren sich darin eine in komischen Erfindungen und Lagen so reiche Phantasie, so viel harmloser und liebenswürdiger Humor, sorgloser Jugendleichtsinn und Freude an der Thorheit nebst so viel Menschenkenntnis und Reife des Urteils, daß das Werk den Erfolg verdiente, wenn auch immerhin seine Figuren oft an die Karikatur streifen.
Dickens'
folgende
Romane kommen, obwohl an künstlicher
Ausbildung und ergreifender
Wirkung jenen ersten
Roman meist übertreffend,
demselben nicht gleich in
Naivität des
Humors, in Absichtslosigkeit und gutmütiger Lust, womit der Dichter
dort
Schwächen und
Thorheiten geißelt. Wir nennen davon: »Oliver
Twist«, eine
Erzählung aus den untern Volksschichten (1837);
»Nicholas Nickleby« (1839);
»Master Humphrey's clock« (1840),
eine Reihe von Erzählungen, in denen die Zeichnung von Leidenschaften, interessante Abenteuer, die Schilderung des oft hoffnungslosen Elends in den Fabrikstädten besonders ansprechen;
»Barnaby Rudge« (1841) und »Martin Chuzzlewit«, ein frisches und erfindungsreiches Werk (1843-44).
Ein neues Gebiet eröffnete
Dickens
mit seinen Weihnachtsgaben: »A
Christmas carol« (1843),
»Chimes« (1844),
»The cricket on the hearth« (1845),
»Battle ¶
mehr
of life« (1846) u. a., welchen reizenden Dichtungen wieder eine Reihe größerer Romane, darunter seine besten, nachfolgte. Zu letztern gehören: »Dombey and Son« (1847) und »David Copperfield« (1849-1850), das erstere ein Spiegel [* 7] bürgerlichen Lebens, dessen Bilder das Herz wie eine Tragödie erschüttern und durch hochkomische Szenen erheitern, letzteres durch treffliche Charakterzeichnung und einen wahrscheinlichern und besser ausgeführten Plan vor den andern Werken ausgezeichnet.
Auch »Bleakhouse« (1852) zählt zu den bessern. Seine »Hard times« (1853),
»Little Dorrit« (1855),
»Tale of two cities« (1859),
»Great expectations« (1861),
»Our mutual friend« (1864) und sein letzter unvollendeter Roman: »The mystery of Edwin Drood«,
wurden zunächst für seine Zeitschriften geschrieben. Dickens
hatte 1842 eine Reise nach Nordamerika,
[* 8] zwei Jahre
später eine nach Italien
[* 9] unternommen, wo er ein Jahr verweilte. Nach seiner Rückkehr übernahm er 1845 die Redaktion der
neubegründeten Zeitung »Daily News«, in der er zuerst seine »Pictures of Italy« veröffentlichte,
zog sich aber bald von dem Blatt
[* 10] zurück und begann 1850 die Herausgabe einer Wochenschrift: »Household Words«,
die Unterhaltung mit Belehrung verbinden sollte und, seit 1860 unter dem Titel: »All the year round« erscheinend, ungemeine
Verbreitung fand. Eine Ergänzung bildete das monatlich erscheinende »Household narrative of current events«, eine Übersicht
der Zeitgeschichte. Weniger Teilnahme als seine Romane fanden seine »American notes« (1842),
die Frucht
seiner erwähnten Reise, worin er sich wenig günstig über die Amerikaner und viele ihrer Institutionen äußerte. Sein Werk
»A child's history of England« (1852) ist eine für Kinder geschriebene Geschichte Englands. Auch seine »Memoirs of Clown Grimaldi«
seien erwähnt. In den von der »Literary guild«, einer Anstalt
für altersschwache Schriftsteller, in den großen Städten gegebenen Theatervorstellungen entwickelte Dickens
auch bedeutendes
dramatisches Talent; ebenso erntete er durch die Vorlesungen seiner Werke, die er in den Hauptstädten Englands, 1868 auch
auf einer zweiten Reise in Nordamerika hielt, außerordentlichen Beifall.
Indessen erschöpfte er sich durch unermüdliche Anstrengungen derart, daß seine Gesundheit litt und er bereits am Schlag starb. Seine Werke erschienen mehrmals gesammelt, zuletzt als »Library edition« (1881, 30 Bde.) und als »Charles edition« (1881, 21 Bde.); seine öffentlichen Vorträge erschienen unter dem Titel: »Speeches, literary and social« (1871 u. öfter). Von Gesamtausgaben deutscher Übersetzungen sind zu erwähnen: die Webersche (von Roberts, Scott u. a., Leipz. 1842 bis 1870, 125 Bde., illustriert), die Hoffmannsche (von Kolb, Zoller u. a., Stuttg. 1855 ff., 25 Bde.), die Seybtsche (neue Ausg., Leipz. 1862, 24 Bde.);
eine Auswahl gab A. Scheibe (Halle [* 11] 1880 f.).
Zur Erläuterung seiner Schriften veröffentlichte Pierce ein
»Dickens'
dictionary« (Boston
[* 12] 1872). Dickens
schildert das Leben, die Charaktere der Weltstadt von den Gemächern der Aristokratie bis
zur Dachstube oder den Kellern, wo die Armut und das Verbrechen wohnen, mit Humor, Satire und Gefühl, meist in der Absicht, zu
bessern und Mißbräuche zu beseitigen; diese Tendenz ist das einzige Ideale an seinen Werken. Im übrigen
ist das Reich, das er als darstellender Schriftsteller beherrscht, eng begrenzt.
Das Londoner Leben der mittlern und untern Stände ist seine Sphäre; will er weiter hinauf und Bilder aus den höhern Ständen oder aus der Geschichte liefern, so mißlingt es ihm. Im Drolligen ist er zu Hause; sein Pathos reicht aus, wahr und ergreifend den Tod eines Kindes zu schildern, aber nicht, eine tiefe Leidenschaft zum Ausdruck zu bringen. Seine Liebesszenen sind bisweilen albern, seine Verbrecher Ungeheuer, deren Charakter zu motivieren kaum versucht wird. Seine Figuren baut er sich auf aus einigen Eigentümlichkeiten, Charakterzügen oder Phrasen, durch die sie von andern unterschieden sind.
Von Frauengestalten weiß er alte Damen und Dienstboten gut zu schildern; seine Liebhaberinnen sind unbedeutend. Dagegen gelingt
ihm die Zeichnung von Kindern meisterhaft. Dickens
war ein scharfer Beobachter mit viel Sinn für das Humoristische, aber mit
wenig Sinn für das Schöne und Anmutige; ja, das Häßliche hatte oft Anziehungskraft für ihn. Ein weiterer Fehler vieler
seiner Romane ist ihr Mangel an einheitlichem Plan, wahrscheinlich eine Folge davon, daß sie in Lieferungen erschienen, ohne
daß sie der Verfasser harmonisch zum Abschluß gebracht.
Daher das Gedränge am Ende, wenn über Hals und Kopf abzuschließen ist. Aber trotz aller Mängel werden
Dickens'
Werke stets Leser finden um ihres glücklichen Humors, ihrer Phantasie und der überall durchblickenden Menschenliebe, welche
die öffentliche Aufmerksamkeit auf die Armen und Verlassenen lenkte, um der Wahrheit der Beobachtungen und der eigenartigen,
kräftigen Darstellung willen, durch die sie sich auszeichnen, und nicht minder, weil auch die Frauenwelt
sie ohne Anstand in die Hand
[* 13] nehmen kann, trotzdem der Dichter den Leser so häufig in die Höhlen des Verbrechens führt.
Vgl.
J. ^[John] Forster, The life of Charles Dickens
(Lond. 1871-74, 3 Bde.,
u. öfter; deutsch von F. Althaus, Berl. 1872-75);
Julian Schmidt, Bilder aus dem geistigen Leben unsrer Zeit
(neue Folge, Leipz. 1872), und »The letters of Charles Dickens«
(hrsg. von seiner ältesten Tochter, Lond.
1879-80, 3 Bde.).