Deutschkat
holiken,
die Mitglieder der Religionsgesellschaft, welche sich 1844 von der römisch-katholischen Kirche in Deutschland [* 2] getrennt und neue Glaubensbekenntnisse aufgestellt hat. Die nähere Veranlassung zu dieser Trennung gab die damals vom Bischof Arnoldi angeordnete Ausstellung des heiligen Rockes in Trier, [* 3] die selbst unter den aufgeklärten Katholiken großen Anstoß erregte, das Signal aber ein Sendschreiben des katholischen Priesters Ronge (s. d.) an den Bischof Arnoldi von Trier, worin jene Ausstellung ein den Aberglauben und Fanatismus beförderndes Götzenfest genannt ward.
Schon vorher war in Schneidemühl [* 4] in der preußischen Provinz Posen [* 5] eine förmliche Lossagung von der römisch-katholischen Kirche erfolgt, indem der dortige Kaplan Czerski (s. d.) mit einem Teil seiner Gemeinde aus jener ausgetreten war, was dann 19. Okt. zur Gründung einer christlich-apostolisch-katholischen Gemeinde führte. In ihrem bald darauf veröffentlichten Glaubensbekenntnis wurden zwar die spezifisch römischen Lehren [* 6] als unbiblisch verworfen, dagegen die Heilige Schrift für »die einzig sichere Quelle [* 7] des christlichen Glaubens« erklärt und nicht bloß die nicäische Dogmatik, sondern auch die römisch-katholische Lehre [* 8] von den sieben Sakramenten, insonderheit auch die vom Meßopfer, von der Transsubstantiation und vom Gebet für das Seelenheil der Verstorbenen beibehalten.
Mehr noch als
Czerski war
Ronge der
Held des
Tags; von vielen
Orten her huldigte man ihm mit Dankadressen und Ehrengeschenken;
seine
Reisen gestalteten sich zu Triumphzügen, und als ihn das
Breslauer
Domkapitel mit dem
Kirchenbann belegte,
ward damit
der
Bewegung nur Vorschub geleistet. In
Schlesien,
[* 9] wo die Übergriffe der
Hierarchie schon längst
Opposition
erregt hatten, brach sich der
Abfall vom römischen
Katholizismus zuerst in weitern
Kreisen
Bahn. Eine Versammlung von etwa 60 Katholiken
zu
Breslau
[* 10] 15. Dez. hatte den Erfolg, daß dieselben, geführt von Regenbrecht,
Professor des kanonischen
Rechts, unter Hinweisung
auf die Erfolglosigkeit aller bisherigen Reformbestrebungen innerhalb der
Kirche aus der letztern ausschieden.
So entstand eine
Gemeinde, welche sich 9. Febr. d. J. über gewisse »Grundzüge
der
Glaubenslehre, des
Gottesdienstes und der
Verfassung« vereinigte und den
Namen einer deutschkat
holischen
Gemeinde annahm.
Ihr Glaubensbekenntnis unterschied sich von dem Schneidemühler durch eine radikalere Färbung. Es forderte als wesentlich nur den Glauben »an Gott den Vater, der durch sein allmächtiges Wort die Welt geschaffen und sie in Weisheit, Gerechtigkeit und Liebe regiert, an Jesum Christum, unsern Heiland, der uns durch seine Lehre, sein Leben und seinen Tod von der Knechtschaft der Sünde erlöst, und an das Walten des Heiligen Geistes auf Erden, eine heilige, allgemeine christliche Kirche, Vergebung der Sünden und ein ewiges Leben«. Es nahm nur zwei Sakramente an, Taufe und Abendmahl, das letztere als Erinnerungsmahl in beiden Gestalten zu empfangen.
Christus ward als der alleinige Mittler zwischen Gott und den Menschen hingestellt, daher Anrufung der Heiligen, Verehrung der Bilder und Reliquien, Ablaß und Wallfahrt verworfen. Die Breslauer Gemeinde zählte schon zu Anfang des März 1200 Mitglieder und wählte Ronge zu ihrem Seelsorger. Gleichzeitig fand die Bewegung noch in andern bedeutenden Städten Deutschlands [* 11] Anklang, so in Berlin, [* 12] wo ein Glaubensbekenntnis aufgestellt wurde (3. März), welches mit dem Schneidemühler stimmte, in Leipzig [* 13] (12. Febr.), Dresden [* 14] (15. Febr.) und Annaberg [* 15] (20. Febr.), wo man im Gegenteil auf die Seite der rationalistischen Fraktion der neuen Kirchenbildung trat. Im Westen Deutschlands war Elberfeld [* 16] die erste Stadt, wo eine der Reform huldigende Gemeinde ins Leben trat, und zwar geschah letzteres unter dem Namen einer christlich-katholisch-apostolischen (15. Febr.). Weitere Gemeinden bildeten sich in Offenbach, [* 17] Worms [* 18] und Wiesbaden. [* 19] Aber nur zu Hildesheim [* 20] und Marienburg [* 21] in Westpreußen [* 22] stimmte man noch Czerski bei, und an Berlin schlossen sich noch Potsdam, [* 23] Nauen und Friesack an. Das Breslauer Bekenntnis dagegen nahm man an in Chemnitz, [* 24] Braunschweig, [* 25] Glogau, [* 26] Liegnitz, [* 27] Freistadt, Oppeln, [* 28] Schlawentzitz, Görlitz, [* 29] Magdeburg, [* 30] Dahlen und Oschatz, [* 31] ferner im Anschluß an Breslau zu Landeshut, im Anschluß an Magdeburg zu Genthin, Salzwedel [* 32] und Nauenburg, im Anschluß an Chemnitz zu Penig und Zschopau. Zwischen Breslau und Schneidemühl vermittelnd, bildete sich im Kreis [* 33] Hamm [* 34] in Westfalen [* 35] eine christlich-apostolisch-katholische Gemeinde.
So weit hatte sich die
Bewegung verbreitet, als die erste
Kirchenversammlung der Deutschkat
holiken zu
Leipzig gehalten wurde, wo im allgemeinen
der
Typus
Ronges durchdrang. In fünf
Sitzungen (23.-26. März) vereinigte man sich über folgende »allgemeine
Grundsätze und
Bestimmungen der deutschkat
holischen
Kirche«: Die Grundlage des christlichen
Glaubens soll einzig und allein
die der
Auslegung der
Vernunft anheimgegebene
Heilige Schrift sein. Als allgemeiner
Inhalt der deutschkat
holischen
Glaubenslehren
wird aufgestellt der
Glaube an Gott den
¶
mehr
Vater als Schöpfer und Regenten der Welt;
der Glaube an Jesum Christum als den Heiland;
der Glaube an den Heiligen Geist, eine heilige allgemeine christliche Kirche, Vergebung der Sünden und ein ewiges Leben.
Verworfen werden der Primat des Papstes und die Hierarchie;
ferner die Ohrenbeichte, das Cölibat, die Anrufung der Heiligen, die Verehrung von Reliquien und Bildern, der Ablaß, gebotenes Fasten, Wallfahrten etc. Anerkannt als Sakramente werden nur Taufe und Abendmahl.
Erste Pflicht des Christen ist, den Glauben durch Werke christlicher Liebe zu bethätigen. Der Gottesdienst besteht wesentlich aus Belehrung und Erbauung; seine äußere Form soll sich nach dem Bedürfnis der Zeit und des Ortes richten. Der Gebrauch der lateinischen Sprache [* 37] wird abgeschafft. Die Gemeindeverfassung steht auf demokratischer Basis; die Gemeinde gebraucht ihr altes Recht, sich ihre Geistlichen und ihren Vorstand frei zu wählen. Den Geistlichen steht die Verwaltung der geistlichen Verrichtungen, den Ältesten mit dem aus ihrer Mitte auf ein Jahr von ihnen selbst gewählten Vorstand die Verwaltung aller übrigen Gemeindeangelegenheiten zu. Die Beschlüsse der allgemeinen Kirchenversammlungen erlangen nur dann allgemeine Gültigkeit, wenn sie von der Mehrzahl sämtlicher einzelner Gemeinden angenommen worden sind.
Nach diesen Leipziger Beschlüssen bildeten sich jetzt in allen Provinzen Preußens
[* 38] deutschkat
holische Gemeinden, die zahlreichsten
in Schlesien. Um die Mitte Juni berechnete man hier die Zahl der Deutschkat
holiken schon auf 40-50,000. Auch im Königreich
Sachsen
[* 39] entstanden außer den oben genannten noch in Plauen,
[* 40] Bautzen,
[* 41] Strehla und Glauchau
[* 42] Gemeinden, und Ähnliches geschah in
den meisten andern Bundesstaaten. Selbst in Bayern
[* 43] wurde ein Versuch dazu in Neustadt
[* 44] a. d. Haardt gemacht,
aber von seiten der Regierung unterdrückt. Zu gleich strengen Maßregeln griff die österreichische Regierung, um die ihr
mißfällige Bewegung von ihren Grenzen
[* 45] entfernt zu halten; hier und später auch in Bayern wurde der Name Deutschkat
holiken amtlich verboten
und mit dem von Dissidenten vertauscht.
Auch das Verhältnis, in welches sich die Staatsgewalten in den übrigen Gebieten zu der deutschkatholischen
Bewegung stellten, war meist ein ungünstiges. Im Königreich Sachsen erging unterm 26. März eine Verordnung, wonach die Deutschkatholiken
hinsichtlich
der bei ihnen vorkommenden seelsorgerlichen Handlungen mit Ausschluß der Beichte und des Abendmahls bis auf weiteres an den
betreffenden protestantischen Orts- oder Bezirksgeistlichen gewiesen wurden. Nach einem königlichen Reskript
in Preußen
[* 46] vom ward ihnen der Mitgebrauch evangelischer Kirchen verweigert, wie ihre Prediger auch nicht für Geistliche
geachtet werden und deren Amtshandlungen keine bürgerliche Gültigkeit besitzen sollten. Aber gerade um der entschiedenen
Abneigung willen, welche die Regierungsgewalten der deutschkatholischen Bewegung gegenüber bewiesen,
fand diese immer weitere Verbreitung. Ende August 1845 bestanden im ganzen 173 Gemeinden; davon kamen auf Preußen allein 118,
von den übrigen auf Sachsen 22, Mecklenburg
[* 47] 7, Braunschweig 1, beide Hessen
[* 48] 15, Nassau 2, Baden
[* 49] 3, Württemberg
[* 50] 2, Frankfurt
[* 51] a. M.
1, Bremen
[* 52] 1, Lübeck
[* 53] 1.
Weit mehr Eintrag als hemmende Regierungsmaßregeln und die Angriffe, welche von der römischen Partei auf die sich bildende Kirche gemacht wurden, that dieser die in ihrem eignen Schoß immer mehr hervortretende Differenz. Abgesehen davon, daß die Gemeinden, welche die Richtung Czerskis teilten, 22.-24. Juli 1846 zu Schneidemühl ein biblisches Glaubensbekenntnis aufstellten, entspannen sich im Schoß einzelner Gemeinden Feindschaften, namentlich in Breslau, wo sich Ronge mit Theiner, welcher gleich anfangs den radikalen Glaubensansichten und lärmenden Triumphreisen des Agitators abgeneigt gewesen war, verfeindete. So geriet der rasche Aufschwung, den die neue Kirche genommen hatte, schon 1847 ins Stocken, und auf dem zweiten Hauptkonzil, welches 70 Abgeordnete von 142 selbständigen Gemeinden in Berlin abhielten, kam es zur Absonderung der Strenggläubigen von der neuen Kirche.
Die politische Bewegung von 1848 schien für den Deutschkatholizismus eine neue Blütezeit herbeizuführen: die deutschen Grundrechte verkündeten unbeschränkte Religions- und Glaubensfreiheit, Österreich [* 54] und Bayern öffneten jetzt ihre Grenzen der neuen Bewegung. An andern Orten nahm Ronge seine Thätigkeit wieder auf, aber sein jetzt ganz offen hervortretendes politisches Treiben erregte immer entschiedenern Anstoß; von Leipzig und Darmstadt [* 55] aus erfolgten förmliche Lossagungen von seiner Person, und die christkatholische Gemeinde in Posen veröffentlichte 1849 einen Protest gegen Dowiat, welcher die neue Kirchengemeinschaft zu einem politischen Klub herabwürdigte und in demselben die Realisierung der sogen. sozialdemokratischen Republik anstrebte.
Gleichwohl wendete sich die Reaktion auch gegen die neuen Gemeinden. In Österreich wurden sie schon 1849 wieder verboten, in Bayern ihnen 1850 nur eine beschränkte Duldung gewährt. Auch wo von seiten der Staatsregierungen nicht hemmend eingegriffen wurde, lösten sich an manchen Orten die Gemeinden auf; an andern erfolgten Rücktritte zur katholischen Kirche, an noch andern, z. B. in Dresden, traten die angesehensten Mitglieder der neuen Kirche zur protestantischen über. In Breslau trat mit dem Professor Regenbrecht eine gewichtige Autorität ab. Ronge wandte sich nach Frankreich und England.
Die meisten der fortbestehenden deutschkatholischen Gemeinden gaben ihre Sympathien mit den seit 1848 zahlreicher gewordenen »freien Gemeinden« immer unverhohlener kund, und auf einer Versammlung zu Darmstadt an der 20-30 Abgeordnete aus dem südwestlichen Deutschland teilnahmen, wurde der Wunsch nach voller Vereinigung ausgesprochen. Dieselbe wirklich durchzuführen, war die Aufgabe des zweiten Leipziger Konzils; welches zusammentrat, seine Sitzungen aber wegen polizeilicher Maßnahmen nach Köthen [* 56] verlegen mußte.
Hier wurde nach längern Debatten ein Bund verabredet, welcher den Namen »Religionsgesellschaft freier Gemeinden« führen sollte.
In der neuern Zeit hat sich die öffentliche Meinung in Bezug auf den Deutschkatholizismus immer entschiedener
dahin ausgesprochen, daß er die Hoffnungen, die sich an sein Entstehen knüpften (vgl. Gervinus, Die Mission der Deutschkatholiken
, Heidelb.
1846), nicht erfüllt hat. Dagegen hat der sogen. Altkatholizismus (s. d.) seit 1870 Gelegenheit gehabt, von den Fehlern,
welche die Deutschkatholiken
insbesondere durch Hereinziehung der gesamten dogmatischen Debatte begingen, zu lernen.
Über dieser neuern, reifern Bewegung ist die frühere zurückgetreten. Die meisten deutschkatholischen Gemeinden haben sich
wieder aufgelöst, die zu Schneidemühl 1857. In Preußen betrug die Anzahl der Deutschkatholiken
1861: 6395, 1867: 10,920; im Königreich
Sachsen 1849: 1772, 1871: 3015.
Vgl. Edwin Bauer, Geschichte der Gründung und Fortbildung der deutschkatholischen Kirche (Meißen [* 57] 1845);
mehr
Deutschkatholizismus (Tübing. 1850);
Derselbe, Geschichte des Deutschkatholizismus (Leipz. 1860).