Deutsches
Recht. Unser geltendes Recht ist aus verschiedener Wurzel entsprungen. Das öffentliche Recht (Reichs- und Staatsrecht einschließlich des Rechts der Gemeinden, das Kirchenrecht, das Strafrecht, die Ordnungen des Civil- und des Strafprozesses) weist nur zu einem sehr geringen Teil auf röm. Recht zurück. Wenn man von dem Gegensatz vom Deutschen und Römischen Recht (s. d). spricht, hat man dabei das bürgerliche Recht im Sinne. In diesem ist aber der Grundstock röm. Recht, wie es für Deutschland in der Zeit vom Ausgange des Mittelalters bis zur Mitte des 16. Jahrh. gewohnheitsrechtlich recipiert ist.
Dieser Grundstock ist auch, was den materiellen Gehalt der einzelnen Rechtsbestimmungen angeht, bei den Kodifikationen (s. d.) des Preuß. Allg. Landrechts, des Österr. Bürgerl. Gesetzbuchs, des Code civil, des Sächs. Bürgerl. Gesetzbuchs und in dem Deutschen Entwurf gewahrt geblieben. Die Hoffnung, daß wir jemals unter Beiseitesetzung der röm. Grundlage ein nationales deutsches bürgerliches Recht auf ganz neuer Grundlage schaffen, muß man aufgeben.
Was man fordern kann und was zum größten Teil schon erreicht ist, ist dies, daß unser bürgerliches Recht solche Rechtssätze und solche Rechtsinstitute abstreift, welche auf römischen, von unsern heutigen abweichenden Anschauungen einer andern Kultur und einer andern Nationalität beruhen; und daß umgekehrt die Rechtsinstitute, welche auf moderner Kultur und auf moderner Wirtschaft beruhen, zweckentsprechend ausgebaut werden. Solche auf deutschem Boden entstandenen und bewahrten besondern Rechtsinstitute und Rechtssätze, welche das röm. Recht abändern, ergänzen und modifizieren, faßt man unter dem Namen des Deutsches Recht zusammen.
Auch sehr eifrige Germanisten erkennen an, daß es sich dabei nicht um ein geschlossenes System von Rechtssätzen handelt. Es mag für den Gelehrten möglich sein, rückwärts aufzuzeigen, daß die verschiedenen Stammesrechte, welche im Mittelalter galten (frank., sächs., bayr., schwäb. Recht), und die Mannigfaltigkeit von Landrecht, Stadtrecht, Lehnrecht und Hofrecht, ebenso wie die deutsche Sprache mit ihren verschiedenen Mundarten, aus einem deutschen Geiste geboren, den wirtschaftlichen und socialen Verhältnissen, wie sie damals überall herrschten, zweckmäßig angepaßt waren, und daß sich so ein System des Deutsches Recht nachweisen läßt, wie es dem Princip nach den verschiedenen Stammes-, Standes-, Güterklassen- und lokalen Rechten zu Grunde lag. Aber das hat nur geschichtliches Interesse.
Was wir aus dieser Zeit gerettet haben und heute noch gebrauchen, ist nicht mehr ein zusammenhängendes System, so wertvoll auch diese Schöpfungen als Bestandteile des heutigen Deutsches Recht sind und so stolz wir auf deren Aufbau sein dürfen. Wir haben die die Menschheit entwürdigende röm. Sklaverei abgeworfen mit ihren Pekulien und den Bestimmungen über Freilassungen und den dadurch geschaffenen verschiedenen Ständen, wovon die röm. Rechtsbücher zum Überdruß wimmeln.
Wir haben die Fortdauer der röm. väterlichen Gewalt, welche bis zum Tode des Vaters auch die großjährigen und verheirateten Söhne und Enkel in wirtschaftlicher Unselbständigkeit hielt, beseitigt und die Rechte der deutschen Mutter über ihre Kinder erweitert. Wir haben gänzlich mit dem ehelichen Güterrecht der Römer gebrochen und verschiedene, der deutschen und modernen Auffassung der Ehe entsprechendere Güterrechtssysteme geschaffen. Damit hängt eine Neugestaltung des Erbrechts der Ehegatten zusammen.
Wir haben den röm. Rechtssatz aufgegeben, daß die Klagbarkeit der Verträge abhängt von bestimmten Formen, der uralten Heiligkeit des von einem Deutschen gegebenen Wortes die Anerkennung auch für das bürgerliche Recht gesichert, damit aber unserm Handelsverkehr innerhalb Deutschlands und mit den fremden Völkern eine gesicherte Grundlage gegeben. Umgekehrt haben wir in Übereinstimmung mit den andern modernen Kulturvölkern Formen geschaffen, welche dem kaufmännischen Geldverkehr in weit zweckmäßigerer Weise angepaßt sind, als sie das röm. Recht auf diesem Gebiete aufweist: den Wechsel, den kaufmännischen Verpflichtungsschein, die Anweisung, das Orderpapier und das Inhaberpapier.
Die Römer sind an ihrer Latifundienwirtschaft zu Grunde gegangen. Für einen landwirtschaftlichen Realkredit ist die röm. Hypothek unbrauchbar. Die deutschen Grund- und Hypothekenbücher sind eine der großartigsten modernen Einrichtungen, welche, in Zusammenhang mit einem rationell angelegten und fortgeführten Kataster, dem Kleinbauern wie dem Großgrundbesitzer und dem städtischen Hausbesitzer einen den Gläubiger sichernden Realkredit garantiert.
Auf dem Gebiete des Mobiliarsachenrechts vollzieht sich der Schutz des redlichen Erwerbers in einer der modernen Auffassung entsprechenden, den Erwerb beweglicher Sachen sichernden Weise. Die röm. Hypothek an beweglichen Sachen ist als den Verkehr benachteiligend aufgegeben. Der Ausbau des Handelsgesellschaftsrechts mit den Formen der offenen Handelsgesellschaft, der stillen und der Kommanditgesellschaft, der Aktiengesellschaft und der Gesellschaft mit beschränkter Haft hat die röm. Gesellschaftsform ganz verlassen.
Der Trieb der modernen Association hat die Genossenschaften des Deutsches Recht geschaffen, von deren Gestaltung bei den Römern nichts zu finden ist. Ganz unbekannt war den Römern der Schutz des geistigen und gewerblichen Eigentums mit seinen segensreichen socialen und wirtschaftlichen Wirkungen u. s. w. Mit dem heute geltenden Deutsches Recht hat, wenn schon sich dasselbe im Anschluß an das röm. Recht und auf der durch dasselbe gegebenen Grundlage aufgebaut hat, das deutsche Volk seinen Beruf zur zeitgemäßen Fortbildung eines seinem Kulturzustande und seinen wirtschaftlichen Bedürfnissen entsprechenden, dem Rechtszustande der übrigen Kulturvölker ebenbürtigen bürgerlichen Rechts wohl erwiesen.
Übrigens kann man von einem heute geltenden Deutsches Recht in dem Sinne, daß der einzelne Rechtssatz formell gemeines Recht sei, nur so weit sprechen, als derselbe durch die deutsche Reichsgesetzgebung sanktioniert und folglich für das ganze Deutsche Reich verbindlich ist. Darüber hinaus ist es die materielle Übereinstimmung der im einzelnen freilich voneinander vielfach abweichenden partikularen Rechtssätze der einzelnen deutschen Rechtsgebiete in ihren Principien und Grundzügen, welche noch zur Zeit das Deutsches Recht ausmacht.
Geschichtlich ist Deutsches Recht im weitern Sinne das Recht des gesamten german. Volksstammes, darunter auch das Recht der skandinav. oder nordischen Völker, das Recht der Angelsachsen, die normann.-fränk. und langobard. Rechte von Frankreich und Italien. Im engern und gewöhnlichen Sinne bedeutet Deutsches Recht das in Deutschland selbst hervorgebrachte, also auf deutschen Rechtsquellen beruhende Recht.
mehr
Eine öffentliche, wiewohl nicht erschöpfende Fixierung der ältesten deutschen Rechtsgewohnheiten erfolgte erst, nachdem die wichtigsten Stämme das Königtum angenommen und teils german. Reiche auf den Trümmern der röm. Weltherrschaft errichtet, teils die Hegemonie der Franken anerkannt hatten. Es entstanden so vom 5. bis zum 9. Jahrh. unserer Zeitrechnung die in unbeholfenem Latein niedergeschriebenen Leges barbarorum oder Volksrechte (s. d.). Als eigentliche Gesetze, d. h. als für das ganze Reich berechnete Erlasse einer ihrer Macht und Zwecke bewußten Staatsgewalt, sind erst die Kapitularien (s. d.) der fränk. Könige, besonders Karls d. Gr., anzusehen. Sie beschäftigen sich überwiegend mit dem öffentlichen Rechte, der Verwaltung und der Kirche. Nur einzelne derselben enthalten Abänderungen der sonst fortgeltenden Volksrechte, ersetzen z. B. Kompensationen in vielen Fällen durch öffentliche Strafen.
Die Verfassung des Fränkischen Reichs beruhte auf der Einteilung in Grafschaften oder Gaue, deren Vorstand der Graf war. Die Gaue zerfielen wieder in Hundertschaften, denen die Schultheißen vorstanden. Ihre Aufgabe war wesentlich die Gerichtsverwaltung, über mehrere Grafschaften geboten Herzöge und Markgrafen; die Rechte des Königs vertraten im ganzen Reiche besondere Königsboten oder Sendboten. Herzöge und Grafen waren im wesentlichen noch Beamte des Königs, die Freien standen in einem direkten Unterthanenverband zum König.
Den Übergang von diesen gesunden Grundlagen der karoling. Monarchie zu dem Lehnsstaat und zu der Zersplitterung und Schwäche des spätern Deutschen Reichs vermittelte das Anwachsen großen Grundbesitzes in den Händen Einzelner. Der kleine Grundbesitz verlor dem gegenüber seine Unabhängigkeit und konnte den Heeres- und Gerichtsdienst nicht mehr tragen, sodaß sich viele Freie in den Schutz und die Abhängigkeit von einem großen Grundbesitzer begaben und dessen Vasallen wurden.
Der König gewährte Herzögen und Grafen Benefizien, die Herzöge und Grafen übergaben wieder ihren Vasallen und Schutzbefohlenen Güter zu Benefizien. So entstand das Lehnsverhältnis, welches den Unterthanenverband, die direkte Unterordnung der Freien unter den König auflöste, die königl. Rechte empfindlich schädigte und aus Beamten des Reichs Inhaber eigener Herrschaftsrechte machte. Die Ausbildung der Landeshoheit der Territorien im Deutschen Reiche war die Folge dieser Entwicklung. Der Gedanke des Reichs und unabhängiger Bürger desselben schien noch einmal in den aufblühenden Städten und ihrer freien Verfassung eine feste Gestalt zu erhalten, die Hansa vertrat auf der See das Deutsche Reich, aber auch die Städte verfielen später einer engherzigen Territorialpolitik.
So gewähren denn die Rechtsquellen des Mittelalters den Anblick des buntesten Partikularismus. Neben den in Landrechte sich umwandelnden Volksrechten giebt es mannigfaltige Stadt-, Lehn-, Hof-und Dienstrechte, deren anfangs zerstreute oder nur aus der Überlieferung mittels sog. «Weistümer» bezeugte Bestandteile weiterhin gesammelt und teilweise von den Lehns- oder Schutzherren ausdrücklich bestätigt werden. Wenn dennoch in jener Vielheit von Sonderrechten eine bemerkenswerte Übereinstimmung herrscht, so erklärt sich dies aus der Gleichheit der Volksart und der Zustände, rücksichtlich der Stadtrechte im besondern aus dem Verfahren, daß jüngere Städte entweder gleich bei der Gründung mit der Verfassung einer ältern Stadt versehen wurden, oder sich die dortigen Rechte selbständig zum Muster nahmen und in zweifelhaften Fällen, oder wenn sich das Bedürfnis einer Fortbildung herausstellte, bei der Mutterstadt als ihrem «Oberhofe» die nötige Belehrung suchten.
Auf diese Weise erlangten z. B. die Stadtrechte von Köln, Freiburg, Lübeck, Hamburg in Deutschland und darüber hinaus, in der Schweiz und in den Ostseeprovinzen, das von Magdeburg in Sachsen und Schlesien eine weithin reichende Gültigkeit. Die Ähnlichkeit der Stammes- oder Landrechte erklärt es auch, weshalb die vor 1235 erschienene Schrift eines anhalt. Landgerichtsschöffen, Eike von Repgow, welche eine Art dogmatischer Übersicht des sächs. Rechts zu geben versuchte, von den Zeitgenossen als Formulierung der allen gemeinsamen Rechtsbegriffe willkommen geheißen wurde.
Dieses unter dem Namen Sachsenspiegel (s. d.) weitverbreitete Buch diente bereits im 13. Jahrh. als Unterlage für ausgedehntere umschreibende Bearbeitungen, unter denen der Schwabenspiegel (s. d.) vorzugsweise zu nennen ist. Die Art des gerichtlichen Verfahrens veranschaulichten besondere Rechtsgangbücher, z. B. der «Richtsteig» des Landrechts und Lehnrechts. Mit den Stadtrechten bringen den Sachsenspiegel in Verbindung das «Sächs. Weichbild» und das «Rechtsbuch nach Distinktionen», während sich das «Kleine Kaiserrecht», das «Landrechts- und Stadtrechtsbuch» von Ruprecht von Freysing an den Schwabenspiegel anschließen. Daneben ist der Deutschenspiegel (s. d.) zu erwähnen. ^[]
Innerhalb der höhern Lebensformen, wie sie sich in den Städten und den besser verwalteten Territorien seit dem 14. Jahrh. entwickelten, begann ein festerer Staatsbegriff wieder aufzuleben, ohne daß die Rechtsentwicklung dem wirtschaftlichen und polit. Aufschwung zu folgen gewußt hätte. So fand sich Raum für die Aufnahme des röm. Rechts in Deutschland, welches mit seinem umfassenden System den Bedürfnissen des modernen Verkehrs für alle Fälle des praktischen Lebens eine stets bereite Hilfe darbot. So konnte sich die von den Kaisern ausgeübte Reichsgesetzgebung auf das öffentliche Recht beschränken. Hier entstanden die Goldene Bulle 1356, die Kammergerichtsordnungen 1495 und 1555, die Notariatsordnung 1512, die peinliche Halsgerichtsordnung 1532, die Reichspolizeiordnungen 1530, 1548, 1577, der jüngste Reichsabschied 1654. Die weitere Fortbildung des bürgerlichen Rechts übernahm dann die Gesetzgebung der einzelnen Staaten und Städte.
Zu erwähnen sind die Nürnberger Reformation von 1479, verbessert 1522 und 1564, die Frankfurter Reformation von 1509, verbessert 1578 und 1611, ferner die Tiroler Landesordnungen von 1532 und 1573, das Württembergische Landrecht von 1555, revidiert 1567 und 1610, die Konstitutionen Kurfürst Augusts von Sachsen von 1572, die Codices Maximilianei Bavarici von 1751‒56. In Preußen wurden 1794 und 1795 unter dem Einflusse reformatorischer Theorien ein allgemeines (Privat-, Staats-, Kirchen-, Strafrecht enthaltendes) Landrecht und eine Allgemeine Gerichtsordnung erlassen. Österreich folgte mit einem Bürgerlichen Gesetzbuch von 1811, das vielfach, namentlich in der Schweiz, Nachahmung fand. Die
mehr
Rheinlande wußten den Code Napoléon, welchen die vorübergehende Herrschaft der Franzosen im Anfange des 19. Jahrh. daselbst eingebürgert hatte, als wertvollen Nachlaß fortzubehaupten, und während in Hessen (1842) und Bayern (1861 fg.) nur Vorarbeiten zu stande kamen, bekam Sachsen 1863 ein Bürgerliches Gesetzbuch. Über die Gesetzgebung des neuen Deutschen Reichs s. Deutschland und Deutsches Reich (Staatsrechtliches, S. 146 fg.), über das von diesem vorbereitete Bürgerliche Gesetzbuch s. Bürgerliches Gesetzbuch für das Deutsche Reich.
Litteratur. Die Darstellungen der deutschen Rechts- und Staatsgeschichte von Eichhorn (5. Aufl., 4 Bde., Gött. 1843‒44), Hillebrand (Lpz. 1856), Walter (2. Aufl., 2 Bde., Bonn 1857), Philipps (4. Aufl., Münch. 1859), von Daniels (4 Bde., Tüb. 1859‒63), Zöpfl (4. Aufl., 3 Bde., Braunschw. 1871‒72), von Schulte (6. Aufl., Stuttg. 1893), Brunner (2 Bde., Lpz. 1887‒92), Siegel (2. Aufl., Berl. 1889), Schröder (Lpz. 1889);
ferner Waitz, Deutsche Verfassungsgeschichte (8 Bde., Bd. 1 u. 2 in 3., Bd. 3 u. 4 in 2. Aufl., Kiel 1844‒85);
Stobbe, Geschichte der deutschen Rechtsquellen (2 Bde., Braunschw. 1860‒64);
Sohm, Die altdeutsche Reichs- und Gerichtsverfassung (Bd. 1, die fränk. Reichs- und Gerichtsverfassung, Weim. 1871);
die Lehrbücher des deutschen Privatrechts von Bluntschli (3. Aufl., Münch. 1864), Beseler (4. Aufl., Berl. 1885), von Gerber (16. Aufl., Jena 1891);
die Handbücher von Stobbe (5 Bde., 2. Aufl., Berl. 1882‒85) und von Roth (Bd. 1‒3, Tüb. 1880‒86 [unvollendet]);
Heusler, Institutionen des deutschen Privatrechts (2 Bde., Lpz. 1885‒86).