Mythologie, die Lehre von dem einst heidnischen Glauben der alten Deutschen (Sachsen, Thüringer, Franken, Alemannen
etc.). Die Nachrichten der Römer (Cäsar und Tacitus) geben nur ein ungefähres, äußerliches Bild; ältere, unmittelbare heimische
Quellen fehlen fast ganz. Als die nordische Mythologie (durch die Edden) bekannt wurde und die Wissenschaft sich der deutschen
Vergangenheit eingehender zuwandte, zeigte J. Grimm, daß, was in deutschen Volkskreisen an Sagen, Märchen, Gebräuchen etc.
fortlebt, Überreste des alten Heidentums seien und dieselben in den Elementen, wenn auch vielfach im Lauf
der Zeiten, besonders durch den Einfluß des Christentums, umgewandelt, mit der nordischen Mythologie übereinstimmen. Grimm
schuf so die Wissenschaft der deutschen Mythologie, welche seitdem durch weitere Sammlung der alten Volkstradition sich immer
mehr ausgebaut und unter dem Einfluß der vergleichenden Mythologie vertieft hat.
Cäsar schildert die Religion der Deutschen offenbar unter dem äußern Reflex ihrer Feste und Gebräuche,
wenn er sie nur Sonne, Mond und das Feuer verehren läßt. Tacitus gibt schon ein eingehenderes Bild, wenn er von Göttern und
Göttinnen sowie halbgottähnlichen Wesen berichtet, die in heiligen Hainen verehrt wurden, desgleichen von Opfern (auch Menschenopfern),
Priestern, eigentümlichen Weissagungsarten u. dgl.
Er glaubte bei den Deutschen als Hauptgott Merkur, sodann Mars und Isis, ebenso nach seiner Deutung eine »Erdmutter«
(Hertha oder
Nerthus) sowie den Herkules wiederzufinden, ja zwei Götter erinnerten ihn an Kastor und Pollux.
Bei der Einführung des Christentums wird dann auch öfters Wodan (Gwodan, der oben erwähnte Merkur), ferner
Donar (wohl der obige Herkules) genannt, wie auch die aus heidnischer Zeit herstammende Bezeichnung der Wochentage dieselben
als alte Götter kennzeichnet (Mittwoch, Mercurii dies, franz. Mercredi, engl. Wednesday, in Westfalen Godenstag, d. h. Wodans-
oder Gwodanstag; Donnerstag, d. h. Tag des Donar) und noch zwei hinzufügt, nämlich Ziu, s. v. w. Mars (Martis
dies, franz. Mardi, deutsch Ziestac oder Diestag, dann Dienstag), und Freia oder Fria, s. v. w. Venus (Veneris dies, franz. Vendredi,
deutsch Freitag). So berühren sich die Hauptgötter der deutschen und nordgermanischen Völker: Wodan = Odin, Ziu = Tyr, Donar
= Thor, Freia oder Fria = Frigg.
Die 1841 zu Merseburg aufgefundenen heidnischen Sprüche bieten noch den nordischen Balder unter dem Namen
Phol (Phol ende Wôdan vuorun zi holza etc.). Charakteristisch ist noch das Heiligtum der Sachsen bei Stadtberge, die Irmensäule
(s. d.), welche Karl d. Gr. zerstörte. Von Wodan und Freia haben wir noch eine Sage, die mit dem Namen der Langobarden
zusammenhängt. Vandalen und Winiler sind in Streit. Die erstern wenden sich an Wodan, der erklärt, er werde dem den Sieg verleihen,
welchen er beim Sonnenaufgang zuerst sehe.
Die Winiler dagegen wenden sich an Freia; diese riet, ihre Frauen sollten sich mit ihnen in die Schlachtreihe gen Osten stellen
und ihre Haare wie einen Bart ordnen. Da habe Wodan, heißt es weiter, bei ihrem Anblick gefragt, wer jene
Langbärte seien, und Freia, indem sie es ihm erklärt, daran die Bemerkung geknüpft, wem er den Namen gegeben, müsse er auch
den Sieg verleihen. Und so sei er den Winilern zuteil geworden, welche denn seit jener Zeit Langobarden
hießen. - Schon aus dieser Sage sieht man, daß die Hauptgötter einen nationalen Charakter hatten als himmlische Mächte,
welche das Schicksal der Völker wie jedes Einzelnen lenkten.
Von Donar und Ziu wissen wir weniger; vielleicht fällt mit dem letztern der in einer niedersächsischen Abrenuntiatio vorkommende
Gott Saxnôt (»Schwertgenosse«),
wohl ein Kriegsgott, zusammen. Ein friesischer Gott auf Helgoland war Fosite. Zweifelhaft ist
die Göttin Cisa oder Nehalennia. In volkstümlicher, noch fortlebender Sage tritt Wodan als wilder Jäger in besondere Beziehung
zum Sturm (s. Wütendes Heer), Freia oder Frigg gleichfalls; dann aber erscheint letztere besonders als Sonnenfrau
unter den Namen Frau Holle und Berchta; verehrt wurden beide namentlich an den Festen der Sonnenwenden, Wodan auch zur Erntezeit.
Außer jenen Hauptgöttern glaubten die alten Deutschen auch noch an mehr oder minder zauberkundige Wesen, welche Wald und Feld,
das Wasser wie die Tiefen der Erde bewohnten und in das Leben der Menschen eingriffen. So erzählen uns die
Sagen noch viel von Riesen und Zwergen, Schwanjungfrauen und Weißen Frauen, Elfen, Kobolden, Nixen, dem Bilwiz und Schrat sowie von
dem die Menschen im Schlaf drückenden Alp oder der Mahrt (s. diese Artikel). Von dem elementaren Aberglauben gibt schon der »Indiculus
superstitionum etc.« vom Jahr 743 ein Bild. Die Verehrung des Wassers, namentlich der Quellen, spielte eine
große Rolle. Das Volk betete daselbst, zündete Lichter an und setzte Opfergaben hin, um sich die Geister freundlich
mehr
zu stimmen. Von der Verehrung des Feuers haben wir Kunde schon, wie oben angedeutet, durch Cäsar. In den Johannis- und ähnlichen
Feuern lebt auch noch ein guter Teil dieses Kultus fort. Ebenso waren Berge und Hügel wegen der Gottheiten heilig, die darauf
hausten, besonders die Blocksberge (im Harz, in Mecklenburg, Preußen), das Riesengebirge, der Meißner, der
Totenstein etc. Außer den besondern Gottheiten geweihten Hainen standen auch Wälder und Bäume, namentlich Eichen und Eschen,
auch Buchen, Haseln, Holunder, Wacholder, in hohem Ansehen.
Heilige Tiere waren das Roß und das Rind; mit Scheu betrachtete man den Bären, Wolf und Fuchs. Götter und Göttinnen
verwandelten sich gern in Vögel; heilig waren besonders der Adler, der Rabe, der Storch. Schwan und Specht treten auch in Sagen
auf; der Kuckuck hatte die Gabe der Weissagung. Eine besondere Kosmogonie hat die d. M. nicht. Nach dem Tode trennt sich die Seele
vom Körper und wird nach einem andern Aufenthaltsort übergefahren; das Andenken Verstorbener wurde
durch Feste gefeiert.
Seelen, die nicht vollkommen der Seligkeit und Ruhe teilhaftig geworden, schweben zwischen Himmel und Erde, kehren auch zuweilen
zu der Stätte ihrer Heimat zurück; sie schrecken den Menschen als Gespenster, erscheinen in mannigfaltigster Gestalt, als
Feuermänner, Irrwische etc. Der Gespensterglaube hat sich, vielfach ausgebildet,
bis auf die Gegenwart erhalten. Von religiöser Bedeutung waren auch die Deutschland sehr im Schwange gehende Zauberei (Hexen),
die Beschwörungen, die Gottesurteile etc.
Außer J. ^[Jacob] Grimm, (Götting. 1835, 4. Aufl. 1875-78, 3 Bde.),
sind zu vergleichen: W. Müller, Geschichte und System der altdeutschen Religion (das. 1844);
Wolf, Deutsche
Götterlehre (das. 1852);
Derselbe, Beiträge zur deutschen Mythologie (das. 1852-57, 2 Tle.);
Derselbe, Zeitschrift für d. M.
und Sittenkunde (4 Bde., das. 1853-57;
Bd. 3 u. 4 hrsg.
von Mannhardt);
Simrock, Handbuch der deutschen Mythologie (6. Aufl., Bonn 1887);
die Arbeiten von Schwartz: »Der heutige Volksglaube
und das alte Heidentum« (2. Aufl., Berl. 1862),
»Der Ursprung der Mythologie« (das. 1860),
»Die poetischen Naturanschauungen
etc.« (das. 1864-79, 2 Bde.),
»Indogermanischer Volksglaube« (das. 1884)
und »Prähistorische Studien« (das. 1885),
sowie die von Mannhardt: »Germanische Mythen« (das. 1859),
»Die Götter der deutschen
und nordischen Völker« (das. 1860) und »Wald- und Feldkulte« (das. 1875-1877, 2 Bde.);
ferner Rochholtz;
Naturmythen (Leipz. 1862);
Bratuscheck, Germanische Göttersage (2. Aufl., das. 1878);
Wägner, Nordisch-germanische
Götter und Helden (2. Aufl., das. 1878);
Pfannenschmid, Germanische Erntefeste (Hannov. 1878).
Bedeutendes verdankt außerdem
die d. M. den mythenvergleichenden Schriften A. Kuhns (z. B. »Herabkunft des Feuers und des Göttertrankes«, Berl.
1859) sowie verschiedenen Abhandlungen in A. Webers »Indischen Studien«, Haupts »Zeitschrift für deutsches Altertum« und Kuhns
»Zeitschrift für vergleichende Sprachforschung«.
Mythologie, die Wissenschaft von den religiösen Vorstellungen und Gebräuchen der heidn.
Deutschen, ferner von den in Sitte und Sage, im Märchen und Volksliede fortlebenden Versinnlichungen der Erscheinungen in der
Natur und der Eindrücke, die die Vorgänge des Lebens in der Seele der Menschen zurücklassen.
Die letztern sind unsern Vorfahren und uns mit vielen Völkern der Erde gemeinsam (vgl. Tylor, Die Anfänge
der Kultur, Lpz. 1873). Aus ihnen heraus hat sich schon in uralter Zeit ein Seelenglaube und Seelenkult,
später ein Dämonenglaube und Dämonenkult und endlich der Götterglaube und Götterkult entwickelt. Man spricht infolgedessen
von drei verschiedenen Mythenperioden, von denen die ältern jedoch in den jüngern noch fortleben. Zur
Zeit der ältesten Berichte über unsere Vorfahren finden wir den Götterglauben in voller Entfaltung; dieser wurde besonders
durch das Christentum gebrochen, während Seelen- und Dämonenglaube in Aberglauben, Sitte, Sage
und Märchen nach wie vor fortlebte
und teilweise christl. Gewand annahm. In welche Zeit die Anfänge des Götterglaubens zu
setzen sind, ist schwer zu entscheiden.
Die ersten scheinen einer Zeit anzugehören, in der alle indogerman. Stämme noch vereint waren. Sicher ist, daß die Germanen
vor ihrer Trennung in einzelne Stämme gemeinsam dieselben Hauptgötter verehrten, allein die Entwicklung der Gottheiten ist
bei den einzelnen Stämmen eine verschiedene gewesen; sie war abhängig von der geistigen Beanlagung des
Stammes, von der Natur, die ihn umgab, von seinem Verkehr mit andern Völkern, von dem Zeitpunkte, der dem Heidentum ein Ende
machte.
Nicht viel mehr als einige Namen können wir an einen urgerman. Götterhimmel setzen: diese ergeben sich auf der einen Seite
aus den spärlichen Überresten der südgerman. Völker, aus den Berichten der Römer, dem Wortschatze der
Inschriften, den mittelalterlichen Kirchen- und Profanhistorikern, auf der andern Seite aus den außerordentlich reichen nordischen
Quellen, den Skaldliedern, den prosaischen Erzählungen aus der spätern heidn. Zeit (den Sögur) und den Eddaliedern
(s. Edda).
Die Begründung der Wissenschaft einer ist eins der großen Verdienste Jakob Grimms. Während er aber
die junge nordische Mythologie als urgermanisch hinstellte und den deutschen Volksglauben aus dieser entstanden sein ließ,
leistete er der kombinierenden Methode, die unsere Mythologie so in Mißkredit gebracht hat, Vorschub. Dies wurde auch nicht
anders, als Schwartz 1849 im Gegensatz zu Jakob Grimm den Nachweis führte, daß der noch lebende Volksglaube
nicht aus altgerman.
Götterglauben hervorgegangen sei, sondern eine ältere Schicht als dieser darstelle. Erst durch die von A. Kuhn und M. Müller
geschaffene vergleichende Mythologie der indogerman. Volker und durch W. Mannhardts spätere Arbeiten erhielt die
festern Grund und Boden, auf dem in neuester Zeit namentlich Elard H. Meyer undL. Laistner weiter bauten. Ausschließlich
das Gebiet des altgerman. Götterglaubens behandelte vorzüglich K. Müllenhoff, der Kritik der Quellen als Grundregel aller
mytholog. Forschung aufstellte und dadurch der Schöpfer der analytischen Methode der Mythologie wurde.
In seinem Kerne allen german. Völkern gemeinsam ist der Glaube an ein Fortleben der menschlichen Seele nach dem Tode in der
Natur und an ein Trennen derselben vom Körper während des Schlafs. In diesem Zustande kann die Seele alle möglichen Gestalten
annehmen. Dieser alte Glaube lebt noch in mancherlei Formen unseres Volks- und Aberglaubens fort. Hierher
gehören der Glaube an Geister und Gespenster, an das Seelenheer, das im Winde daherfährt oder hoch in Lüften kämpft, die
nordischen Mythen von den Walkyren (s. d.), Einherjern (s. d.),
von den Gienganger oder Apturgöngur (Wiedergänger), von den Irrwischen oder Feuermännern, den schwed. Eldgastar oder Lyktegubben,
den Wiesenhüpfern u. a. Ferner gehören hierher die Sagen von der Mart (s. d.),
die den Menschen ängstigt, von der Trud oder Drud, vom Alp (s. d.), vom alamann. Schrettele oder Schrat, dem elsäss.
Doggeli, den nordischen Fylgjur (d. h. Folgegeistern), den Werwölfen (s. d.),
den Hexen (s. d.), dem Bilwis (s. d.). Während sich bei diesen Gestalten ein
innerer Zusammenhang zwischen der Seele des Menschen und der mythischen
mehr
Erscheinung verfolgen läßt, giebt es in unserer Mythologie andere Wesen, die wohl in Anlehnung an jene, aber ohne Zusammenhang
mit der Seele entstanden sind; es sind das die Dämonen, die als Tiere oder Menschen gedachten Erscheinungen in der Natur und
den Elementen. Sie hausen in Luft und Wasser, in Wind und Wolken, in Berg und Thal, in Haus und Hof. In tierischer
Gestalt erscheinen sie namentlich oft als Hund oder Wolf (Roggenhund, Roggenwolf) oder als Vogel. Nehmen sie menschliche Gestalt
an, so finden wir sie bald dem Menschen an Größe gleich, bald kleiner, bald größer; dem Menschen gegenüber zeigen sie
sich bald freundlich, bald feindlich gesinnt. In Hinblick hierauf unterscheiden wir zwei Hauptklassen Dämonen: Elfen (s. d.)
und Riesen (s. d.). Zu jener gehören die Elfen, Wichte, Zwerge (s. d.),
Kobolde (s. d.), der niederdeutsche, engl. und nordische
Pook oder Puck (s. d.), die Nixe (s. d.) u. a. Riesen wohnen namentlich in Gegenden, wo gewaltige Berge,
Meere, heftige Stürme und Gewitter auf die Phantasie der Menschen Eindruck machen.
Beide Klassen der Dämonen leben noch heute in allen german. Ländern fort. Zu den Dämonen, die besonders in der Luft hausen,
gehören unter andern Rübezahl (s. d.), Hackelberg (s. d.),
der Wilde Jäger (s. d.) mit seinen mannigfachen Namen, die Holz- und Moosfräulein (s. d.), Fangen u. a.
Es sind übernatürliche Wesen, die in ihren Grundzügen gleich, in ihrer Ausschmückung aber in den Phantasien der einzelnen
Stämme verschieden gestaltet sind. Im Wasser hausen die Nixen, in den Bergen die Zwerge, in dem Hause der Kobold, der Wicht,
das Wichtelmännchen u. a.
Eine gemein-german. Götterlehre läßt sich nicht erweisen, vielmehr bestanden
in der ältesten histor. Zeit eine Anzahl Völkerbünde, von denen der eine den Kult dieses, der andere jenes Gottes als Mittelpunkt
gemeinsamer Verehrung hatte. In der Regel verehrte der Amphiktyonenbund den Stammgott nicht unter dem eigentlichen Namen,
sondern unter einem Beinamen, der dem urgerman. Himmelsgotte beigelegt war. Als solche Kultusverbände
bezeichnen Plinius und Tacitus gemeinsam die Ingväonen, Istävonen und Herminonen.
Der Hauptgott war noch bei den meisten Stämmen der altgerman. Tiwaz, der unter dem jüngern Namen Zio, Tiu, Tyr (s. d.) als Kriegsgott
noch in jüngerer Zeit fortlebte. Als Erman-Tiu verehrten ihn die Erminonen, die als großer Swebenbund
zwischen der mittlern Elbe und Oder ihre Sitze hatten. Das gemeinsame Heiligtum befand sich in einem heiligen Haine der Semnonen,
wo die Bundesgenossen alljährlich zusammenkamen und ihrem allwaltenden Gotte, dem «regnator omnium deus», Menschenopfer brachten
und seine Hilfe erflehten (Tacitus, «Germania», Kap. 39). Als diese Stämme später ihre alten Sitze verließen
und nach Südwesten zogen, nahmen sie die Heiligtümer des Gottes mit sich.
Noch lange galten die Schwaben als Ziuverehrer (Cyuwari) und der alte Name für die Burg des schwäb. Augsburg, Ciwesburc, zeugt
für das neue Bundesheiligtum. Ein anderer Swebenstamm, die Bayern, verehrten ihn unter dem Namen Er im
heutigen Ostbayern und Böhmen und nannten nach ihm den dritten Tag der Woche Erestac. Überhaupt war die Tiuverehrung in den
ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung noch ziemlich allgemein. Die röm. Schriftsteller übersetzen
den Gott mit ihrem Mars, griechische mit Ares.
Tacitus erwähnt ihn bei
den rhein. Völkern, Jordanes bei den Goten, Procop bei den Skandinaviern als
höchsten Gott; noch im 3. Jahrh. setzten ihm, dem Mars Thingsus, fries. Soldaten im röm. Heere in Britannien Altäre. Als der
Krieg die eigentliche Lebensbedingung der alten Germanen wurde, erscheint der Himmelsgott vornehmlich als Kriegsgott. Schon
frühzeitig hat sich von ihm der Donnergott, Donar (s. d.)
oder Thunar, altnordisch Thor, abgezweigt. Wir finden ihn im 6. Jahrh. verehrt bei den Alamannen, zur Zeit Karls d. Gr. bei den
Sachsen, vor allem aber hatte er bei den nordischen Stämmen, namentlich den Norwegern, den alten Tiu verdrängt und steht hier
im Mittelpunkte des Kultus.
Für seine allgemeine Verehrung zeugt der 5. Wochentag, den alle german.
Stämme als Donnerstag kennen, eine Übertragung des röm. «dies
Jovis». Tacitus giebt ihn als Hercules wieder. Neben diesem finden wir schon frühzeitig den Windgott, den Wodan, altnordisch
Odin (s. d.), als Abzweigung des alten Himmelsgottes. In seiner Eigenschaft als
Windgott ist er zugleich Totengott und deshalb finden wir bei den röm. Schriftstellern
für ihn den Namen Mercurius. Sein Kult war namentlich bei den Istväonen, die am untern Rhein saßen, zu Hause.
Hier erwähnt ihn schon Tacitus als den höchsten Gott, dem man allein Menschenopfer darzubringen pflege. Mit der Herrschaft
des mächtigsten Istväonenvolks, der Franken, verbreitete sich seine Verehrung rheinaufwärts zu den
Alamannen, das Gestade der Nordsee entlang bei Langobarden und Sachsen und drang dann nach Skandinavien ein, wo er den schwed.
Freyrkultus verdrängte, bis er selbst der Mittelpunkt mytholog. Dichtung und göttlicher Verehrung wurde und alle andern
Götter in Abhängigkeitsverhältnis zu sich brachte. Er wurde zugleich der Träger röm.-klassischer Kultur
und brachte die von den Römern gelernten Runen und den Runenzauber mit sich.
Dieser Aufschwung des Wodankultus ist das wichtigste Ereignis in der Religionsgeschichte der Germanen. – An der untern Elbe,
an den Küsten der Nord- und Ostsee verehrten die Ingväonen den Himmelsgott als Ing und neben ihm seine
Gemahlin, die mütterliche Nerthus (s. d.). Als Ingunar Freyr (s.
d.)verehrten ihn dann die Schweden, deren gemeinsames Heiligtum die alte Königsstadt Altupsala war. Unter noch andern Namen
lebte der alte Himmelsgott in der nordischen Dichtung fort. In Deutschland finden wir ihn noch als Forseti (s. d.),
als Gründer und Schirmer rechtlicher Satzung bei den Friesen. Ob sich sein Beiname Baldr (s. d.) auch auf deutsches Gebiet erstreckt
hat, ist zweifelhaft; sicher haben ihn die Dänen unter diesem Namen gekannt.
Unter den weiblichen Gottheiten tritt vor allen die große mütterliche Göttin Fria, Frigg (s. d.)
hervor. Ihrem Namen nach ist sie die Geliebte schlechthin, die Gattin des Himmelsgottes Tiu, die aber später,
als Wodan die Herrschaft über alles an sich riß, dessen Gemahlin wurde. Sie ist die Göttin der mütterlichen Erde, der
Häuslichkeit und Ehe; dazu teilt sie die Herrschaft ihres Gatten und wird dadurch zur Himmels-, Wind-, Totengöttin.
Der Freitag ist ihr zu Ehren genannt. Als Fru Fricke oder Freeke lebt sie in Norddeutschland fort, als chthonische Göttin
unter dem Namen Perchta in Oberdeutschland, Holda oder Frau Holle, «die Verborgene», in Mitteldeutschland. Als Nerthus verehrten
sie sieben Völkerschaften an der untern
mehr
Elbe in gemeinsamem Kulte; auf einsamer Insel befand sich ihr Heiligtum («Germania», Kap. 40). Die rhein. Völker verehrten sie
als Hludana und Nehalennia (s.d.). Der letztere Name bezeichnet sie wohl als Totengöttin. Vielleicht deckt sich mit ihr auch
die Isis, die nach des Tacitus Bericht ein Teil der Sweben verehrte.
Über die Vorstellungen unserer Vorfahren vom Anfang und Ende der Welt und der Geschöpfe erfahren wir nichts; was die nordischen
Quellen darüber berichten, gehört in die Nordische Mythologie (s. d.).
Nur über den Ursprung des Menschengeschlechts erzählt Tacitus, daß die Germanen den zwiegeschlechtigen Tuisco (s. d.) und
dessen Sohn Mannus als Ahnherrn des Volks in Liedern besungen hätten. Nach dem Tode lebte der Mensch im
Geisterheere der Hel fort und erschien den Sehenden unter allen möglichen Spukgestalten, die in dem Seelenglauben erwähnt
worden sind.
Die Verehrung der übernatürlichen Mächte bestand bei den alten Germanen hauptsächlich im Opfer. Man brachte dieses entweder
den Seelen der Verstorbenen, indem man diesen Speisen vorsetzte, was noch in dem Leichenschmaus fortlebt
(Seelenkult), oder den Dämonen, indem man Spenden in das Wasser, das Feuer warf, oder auf dem Felde stehen ließ, im Walde
aufhing u. dgl., oder endlich der Gottheit. Letztere Opfer waren in der Regel Bundesopfer,
verbunden mit Festlichkeit und Gelage.
Wir kennen sie nur aus nordischen Berichten, doch lehren uns die in Deutschland noch fortlebenden Gebräuche, daß sie hier
auf ganz ähnliche Weise stattgefunden haben. Geopfert wurden entweder Menschen oder Tiere oder Pflanzen. Sie waren natürlich
bei den einzelnen Völkern im Hinblick auf die verschiedenen Lebensbedürfnisse verschieden. Zum Teil
waren es Unheil abwehrende, zum Teil Glück und Beistand erflehende Opfer. In Deutschland hat es deren vier im Jahre gegeben:
das erste im Januar, das zweite im April, das dritte Ende Juni, das vierte Ende September.
Das Opfer fand statt in der Nähe des Heiligtums der Gottheit. Dies war entweder ein heiliger Hain oder
eine Art Tempel. Die feierliche Handlung leiteten die Priester, die keine Kaste bildeten, sondern aus den Edeln des Gauverbandes
genommen wurden. Daneben gab es auch Priesterinnen, Weiber, die sich durch die Gabe der Weissagung auszeichneten; denn Weissagung
(s. d.) und Loswerfen war in der Regel mit dem Opfer verbunden. Die Gottheit selbst nahm an den Opfern
meist als Götzenbild teil, das nach dem Fest durch die Gaue geführt wurde, damit es das erbetene Glück überall hinbrächte.
Während jener Zeit ruhten alle Streitigkeiten; es war eine heilige Zeit.
Litteratur. Jakob Grimm, (4. Aufl., 3 Bde.,
Berl. 1875‒78);
W. Müller, Geschichte und System der altdeutschen Religion (Gött. 1844);
Simrock, Handbuch der (6. Aufl.,Bonn
1878);
Adolf Holtzmann, (Lpz. 1874);
Wolf, Beiträge zur (2 Bde., Gött.
1852‒54);
Mannhardt, Die Götterwelt der deutschen und nordischen Völker (Bd. 1, Berl. 1860);
ders.,
German. Mythen (ebd. 1858);
ders., Wald- und Feldkulte (2 Bde., ebd. 1875‒77);
ders., Mytholog. Forschungen (Straßb. 1884);
A. Kuhn, Mytholog. Studien (Bd. 1, Gütersloh 1886);
Schwartz, Der heutige Volksglaube und das alte Heidentum (2. Aufl., Berl.
1862);
ders., Die poet. Naturanschauungen der Griechen, Römer und Deutschen in ihrer Beziehung zur
Mythologie
(2 Bde., ebd. 1864‒79);
ders., Prähistorisch-anthropol.
Studien (ebd. 1884); ders., Indogerman. Volksglaube (ebd. 1885);
E. H. Meyer, Indogerman. Mythen (2 Bde., ebd. 1883‒85); Laistner, Nebelsagen (Stuttg.
1879); ders., Das Rätsel der Sphinx. Grundzüge einer Mythengeschichte (Berl. 1889);
K. Müllenhoff, Über Tuisco und seine
Nachkommen (in der «Allgemeinen Zeitschrift für Geschichte», Bd.
8): Weinhold, Über den Mythus vom Wanenkrieg (Berl. 1890);
Wuttke, Der deutsche Volksaberglaube der Gegenwart (2. Aufl., ebd.
1869);
Pfannenschmid, German.
Erntefeste im heidn. und christl. Kultus (Hannov. 1878);
Jahn, Die deutschen Opfergebräuche bei
Ackerbau und Viehzucht (Bresl. 1884);
Kauffmann, (2. Aufl., Stuttg. 1893);
E. Mogk, Mythologie (im «Grundriß
der german. Philologie», hg. von H. Paul, Bd. 1, Straßb. 1891);
E. H. Meyer, German. Mythologie (Berl. 1891);
Herrmanowski, Die Deutsche Götterlehre und ihre Verwertung in Kunst und Dichtung
(2 Bde., ebd. 1891).