Deutsche
[* 2] Mythologie
, die Wissenschaft von den religiösen
Vorstellungen und Gebräuchen der heidn.
Deutschen, ferner von den in
Sitte und Sage, im
Märchen und
Volksliede fortlebenden Versinnlichungen der Erscheinungen in der
Natur und der Eindrücke, die die Vorgänge des Lebens in der Seele der
Menschen zurücklassen.
Die letztern sind unsern Vorfahren und uns mit vielen Völkern der Erde gemeinsam (vgl. Tylor, Die Anfänge der Kultur, Lpz. 1873). Aus ihnen heraus hat sich schon in uralter Zeit ein Seelenglaube und Seelenkult, später ein Dämonenglaube und Dämonenkult und endlich der Götterglaube und Götterkult entwickelt. Man spricht infolgedessen von drei verschiedenen Mythenperioden, von denen die ältern jedoch in den jüngern noch fortleben. Zur Zeit der ältesten Berichte über unsere Vorfahren finden wir den Götterglauben in voller Entfaltung; dieser wurde besonders durch das Christentum gebrochen, während Seelen- und Dämonenglaube in Aberglauben, Sitte, Sage und Märchen nach wie vor fortlebte und teilweise christl. Gewand annahm. In welche Zeit die Anfänge des Götterglaubens zu setzen sind, ist schwer zu entscheiden.
Die ersten scheinen einer Zeit anzugehören, in der alle indogerman. Stämme noch vereint waren. Sicher ist, daß die Germanen vor ihrer Trennung in einzelne Stämme gemeinsam dieselben Hauptgötter verehrten, allein die Entwicklung der Gottheiten ist bei den einzelnen Stämmen eine verschiedene gewesen; sie war abhängig von der geistigen Beanlagung des Stammes, von der Natur, die ihn umgab, von seinem Verkehr mit andern Völkern, von dem Zeitpunkte, der dem Heidentum ein Ende machte.
Nicht viel mehr als einige Namen können wir an einen urgerman. Götterhimmel setzen: diese ergeben sich auf der einen Seite aus den spärlichen Überresten der südgerman. Völker, aus den Berichten der Römer, [* 3] dem Wortschatze der Inschriften, den mittelalterlichen Kirchen- und Profanhistorikern, auf der andern Seite aus den außerordentlich reichen nordischen Quellen, den Skaldliedern, den prosaischen Erzählungen aus der spätern heidn. Zeit (den Sögur) und den Eddaliedern (s. Edda).
Die
Begründung der Wissenschaft einer ist eins der großen Verdienste
Jakob Grimms. Während er aber
die junge nordische Mythologie
als urgermanisch hinstellte und den deutschen
Volksglauben aus dieser entstanden sein ließ,
leistete er der kombinierenden Methode, die unsere Mythologie
so in Mißkredit gebracht hat, Vorschub. Dies wurde auch nicht
anders, als
Schwartz 1849 im Gegensatz zu
Jakob
Grimm den Nachweis führte, daß der noch lebende Volksglaube
nicht aus altgerman.
Götterglauben hervorgegangen sei, sondern eine ältere Schicht als dieser darstelle. Erst durch die von A.
Kuhn und M.
Müller
geschaffene vergleichende Mythologie
der indogerman.
Volker und durch W.
Mannhardts spätere
Arbeiten erhielt die
festern
Grund und
Boden, auf dem in neuester Zeit namentlich Elard H.
Meyer und L. Laistner weiter bauten. Ausschließlich
das Gebiet des altgerman. Götterglaubens behandelte vorzüglich K. Müllenhoff, der Kritik der
Quellen als Grundregel aller
mytholog. Forschung aufstellte und dadurch der Schöpfer der analytischen Methode der Mythologie
wurde.
In seinem Kerne allen german. Völkern gemeinsam ist der Glaube an ein Fortleben der menschlichen Seele nach dem Tode in der Natur und an ein Trennen derselben vom Körper während des Schlafs. In diesem Zustande kann die Seele alle möglichen Gestalten annehmen. Dieser alte Glaube lebt noch in mancherlei Formen unseres Volks- und Aberglaubens fort. Hierher gehören der Glaube an Geister und Gespenster, an das Seelenheer, das im Winde [* 4] daherfährt oder hoch in Lüften kämpft, die nordischen Mythen von den Walkyren (s. d.), Einherjern (s. d.), von den Gienganger oder Apturgöngur (Wiedergänger), von den Irrwischen oder Feuermännern, den schwed. Eldgastar oder Lyktegubben, den Wiesenhüpfern u. a. Ferner gehören hierher die Sagen von der Mart (s. d.), die den Menschen ängstigt, von der Trud oder Drud, vom Alp (s. d.), vom alamann. Schrettele oder Schrat, dem elsäss. Doggeli, den nordischen Fylgjur (d. h. Folgegeistern), den Werwölfen (s. d.), den Hexen (s. d.), dem Bilwis (s. d.). Während sich bei diesen Gestalten ein innerer Zusammenhang zwischen der Seele des Menschen und der mythischen ¶
mehr
Erscheinung verfolgen läßt, giebt es in unserer Mythologie
andere Wesen, die wohl in Anlehnung an jene, aber ohne Zusammenhang
mit der Seele entstanden sind; es sind das die Dämonen, die als Tiere oder Menschen gedachten Erscheinungen in der Natur und
den Elementen. Sie hausen in Luft und Wasser, in Wind und Wolken, in Berg und Thal,
[* 6] in Haus und Hof.
[* 7] In tierischer
Gestalt erscheinen sie namentlich oft als Hund oder Wolf (Roggenhund, Roggenwolf) oder als Vogel. Nehmen sie menschliche Gestalt
an, so finden wir sie bald dem Menschen an Größe gleich, bald kleiner, bald größer; dem Menschen gegenüber zeigen sie
sich bald freundlich, bald feindlich gesinnt. In Hinblick hierauf unterscheiden wir zwei Hauptklassen Dämonen: Elfen (s. d.)
und Riesen (s. d.). Zu jener gehören die Elfen, Wichte, Zwerge (s. d.),
Kobolde (s. d.), der niederdeutsche
, engl. und nordische
Pook oder Puck (s. d.), die Nixe (s. d.) u. a. Riesen wohnen namentlich in Gegenden, wo gewaltige Berge,
Meere, heftige Stürme und Gewitter auf die Phantasie der Menschen Eindruck machen.
Beide Klassen der Dämonen leben noch heute in allen german. Ländern fort. Zu den Dämonen, die besonders in der Luft hausen, gehören unter andern Rübezahl (s. d.), Hackelberg (s. d.), der Wilde Jäger (s. d.) mit seinen mannigfachen Namen, die Holz- und Moosfräulein (s. d.), Fangen u. a. Es sind übernatürliche Wesen, die in ihren Grundzügen gleich, in ihrer Ausschmückung aber in den Phantasien der einzelnen Stämme verschieden gestaltet sind. Im Wasser hausen die Nixen, in den Bergen [* 8] die Zwerge, in dem Hause der Kobold, der Wicht, das Wichtelmännchen u. a.
Eine gemein-german. Götterlehre läßt sich nicht erweisen, vielmehr bestanden in der ältesten histor. Zeit eine Anzahl Völkerbünde, von denen der eine den Kult dieses, der andere jenes Gottes als Mittelpunkt gemeinsamer Verehrung hatte. In der Regel verehrte der Amphiktyonenbund den Stammgott nicht unter dem eigentlichen Namen, sondern unter einem Beinamen, der dem urgerman. Himmelsgotte beigelegt war. Als solche Kultusverbände bezeichnen Plinius und Tacitus gemeinsam die Ingväonen, Istävonen und Herminonen.
Der Hauptgott war noch bei den meisten Stämmen der altgerman. Tiwaz, der unter dem jüngern Namen Zio, Tiu, Tyr (s. d.) als Kriegsgott noch in jüngerer Zeit fortlebte. Als Erman-Tiu verehrten ihn die Erminonen, die als großer Swebenbund zwischen der mittlern Elbe und Oder ihre Sitze hatten. Das gemeinsame Heiligtum befand sich in einem heiligen Haine der Semnonen, wo die Bundesgenossen alljährlich zusammenkamen und ihrem allwaltenden Gotte, dem «regnator omnium deus», Menschenopfer brachten und seine Hilfe erflehten (Tacitus, «Germania», [* 9] Kap. 39). Als diese Stämme später ihre alten Sitze verließen und nach Südwesten zogen, nahmen sie die Heiligtümer des Gottes mit sich.
Noch lange galten die Schwaben als Ziuverehrer (Cyuwari) und der alte Name für die Burg des schwäb. Augsburg, [* 10] Ciwesburc, zeugt für das neue Bundesheiligtum. Ein anderer Swebenstamm, die Bayern, [* 11] verehrten ihn unter dem Namen Er im heutigen Ostbayern und Böhmen [* 12] und nannten nach ihm den dritten Tag der Woche Erestac. Überhaupt war die Tiuverehrung in den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung noch ziemlich allgemein. Die röm. Schriftsteller übersetzen den Gott mit ihrem Mars, [* 13] griechische mit Ares. [* 14]
Tacitus erwähnt ihn bei den rhein. Völkern, Jordanes bei den Goten, Procop bei den Skandinaviern als höchsten Gott; noch im 3. Jahrh. setzten ihm, dem Mars Thingsus, fries. Soldaten im röm. Heere in Britannien Altäre. Als der Krieg die eigentliche Lebensbedingung der alten Germanen wurde, erscheint der Himmelsgott vornehmlich als Kriegsgott. Schon frühzeitig hat sich von ihm der Donnergott, Donar (s. d.) oder Thunar, altnordisch Thor, abgezweigt. Wir finden ihn im 6. Jahrh. verehrt bei den Alamannen, zur Zeit Karls d. Gr. bei den Sachsen, [* 15] vor allem aber hatte er bei den nordischen Stämmen, namentlich den Norwegern, den alten Tiu verdrängt und steht hier im Mittelpunkte des Kultus.
Für seine allgemeine Verehrung zeugt der 5. Wochentag, den alle german. Stämme als Donnerstag kennen, eine Übertragung des röm. «dies Jovis». Tacitus giebt ihn als Hercules wieder. Neben diesem finden wir schon frühzeitig den Windgott, den Wodan, altnordisch Odin (s. d.), als Abzweigung des alten Himmelsgottes. In seiner Eigenschaft als Windgott ist er zugleich Totengott und deshalb finden wir bei den röm. Schriftstellern für ihn den Namen Mercurius. Sein Kult war namentlich bei den Istväonen, die am untern Rhein saßen, zu Hause.
Hier erwähnt ihn schon Tacitus als den höchsten Gott, dem man allein Menschenopfer darzubringen pflege. Mit der Herrschaft des mächtigsten Istväonenvolks, der Franken, verbreitete sich seine Verehrung rheinaufwärts zu den Alamannen, das Gestade der Nordsee entlang bei Langobarden und Sachsen und drang dann nach Skandinavien ein, wo er den schwed. Freyrkultus verdrängte, bis er selbst der Mittelpunkt mytholog. Dichtung und göttlicher Verehrung wurde und alle andern Götter in Abhängigkeitsverhältnis zu sich brachte. Er wurde zugleich der Träger [* 16] röm.-klassischer Kultur und brachte die von den Römern gelernten Runen [* 17] und den Runenzauber mit sich.
Dieser Aufschwung des Wodankultus ist das wichtigste Ereignis in der Religionsgeschichte der Germanen. – An der untern Elbe,
an den Küsten der Nord- und Ostsee verehrten die Ingväonen den Himmelsgott als Ing und neben ihm seine
Gemahlin, die mütterliche Nerthus (s. d.). Als Ingunar Freyr (s.
d.)verehrten ihn dann die Schweden,
[* 18] deren gemeinsames Heiligtum die alte Königsstadt Altupsala war. Unter noch andern Namen
lebte der alte Himmelsgott in der nordischen Dichtung fort. In Deutschland
[* 19] finden wir ihn noch als Forseti (s. d.),
als Gründer und Schirmer rechtlicher Satzung bei den Friesen. Ob sich sein Beiname Baldr (s. d.) auch auf deutsches
Gebiet erstreckt
hat, ist zweifelhaft; sicher haben ihn die Dänen unter diesem Namen gekannt.
Unter den weiblichen Gottheiten tritt vor allen die große mütterliche Göttin Fria, Frigg (s. d.) hervor. Ihrem Namen nach ist sie die Geliebte schlechthin, die Gattin des Himmelsgottes Tiu, die aber später, als Wodan die Herrschaft über alles an sich riß, dessen Gemahlin wurde. Sie ist die Göttin der mütterlichen Erde, der Häuslichkeit und Ehe; dazu teilt sie die Herrschaft ihres Gatten und wird dadurch zur Himmels-, Wind-, Totengöttin. Der Freitag ist ihr zu Ehren genannt. Als Fru Fricke oder Freeke lebt sie in Norddeutschland fort, als chthonische Göttin unter dem Namen Perchta in Oberdeutschland, Holda oder Frau Holle, «die Verborgene», in Mitteldeutschland. Als Nerthus verehrten sie sieben Völkerschaften an der untern ¶
mehr
Elbe in gemeinsamem Kulte; auf einsamer Insel befand sich ihr Heiligtum («Germania», Kap. 40). Die rhein. Völker verehrten sie als Hludana und Nehalennia (s.d.). Der letztere Name bezeichnet sie wohl als Totengöttin. Vielleicht deckt sich mit ihr auch die Isis, [* 21] die nach des Tacitus Bericht ein Teil der Sweben verehrte.
Über die Vorstellungen unserer Vorfahren vom Anfang und Ende der Welt und der Geschöpfe erfahren wir nichts; was die nordischen
Quellen darüber berichten, gehört in die Nordische Mythologie
(s. d.).
Nur über den Ursprung des Menschengeschlechts erzählt Tacitus, daß die Germanen den zwiegeschlechtigen Tuisco (s. d.) und
dessen Sohn Mannus als Ahnherrn des Volks in Liedern besungen hätten. Nach dem Tode lebte der Mensch im
Geisterheere der Hel fort und erschien den Sehenden unter allen möglichen Spukgestalten, die in dem Seelenglauben erwähnt
worden sind.
Die Verehrung der übernatürlichen Mächte bestand bei den alten Germanen hauptsächlich im Opfer. Man brachte dieses entweder den Seelen der Verstorbenen, indem man diesen Speisen vorsetzte, was noch in dem Leichenschmaus fortlebt (Seelenkult), oder den Dämonen, indem man Spenden in das Wasser, das Feuer warf, oder auf dem Felde stehen ließ, im Walde aufhing u. dgl., oder endlich der Gottheit. Letztere Opfer waren in der Regel Bundesopfer, verbunden mit Festlichkeit und Gelage.
Wir kennen sie nur aus nordischen Berichten, doch lehren uns die in Deutschland noch fortlebenden Gebräuche, daß sie hier auf ganz ähnliche Weise stattgefunden haben. Geopfert wurden entweder Menschen oder Tiere oder Pflanzen. Sie waren natürlich bei den einzelnen Völkern im Hinblick auf die verschiedenen Lebensbedürfnisse verschieden. Zum Teil waren es Unheil abwehrende, zum Teil Glück und Beistand erflehende Opfer. In Deutschland hat es deren vier im Jahre gegeben: das erste im Januar, das zweite im April, das dritte Ende Juni, das vierte Ende September.
Das Opfer fand statt in der Nähe des Heiligtums der Gottheit. Dies war entweder ein heiliger Hain oder eine Art Tempel. [* 22] Die feierliche Handlung leiteten die Priester, die keine Kaste bildeten, sondern aus den Edeln des Gauverbandes genommen wurden. Daneben gab es auch Priesterinnen, Weiber, die sich durch die Gabe der Weissagung auszeichneten; denn Weissagung (s. d.) und Loswerfen war in der Regel mit dem Opfer verbunden. Die Gottheit selbst nahm an den Opfern meist als Götzenbild teil, das nach dem Fest durch die Gaue geführt wurde, damit es das erbetene Glück überall hinbrächte. Während jener Zeit ruhten alle Streitigkeiten; es war eine heilige Zeit.
Litteratur. Jakob Grimm, (4. Aufl., 3 Bde., Berl. 1875‒78);
W. Müller, Geschichte und System der altdeutschen
Religion (Gött. 1844);
Simrock, Handbuch der (6. Aufl.,Bonn 1878);
Adolf Holtzmann, (Lpz. 1874);
Wolf, Beiträge zur (2 Bde., Gött. 1852‒54);
Mannhardt, Die Götterwelt der deutschen
und nordischen Völker (Bd. 1, Berl. 1860);
ders., German. Mythen (ebd. 1858);
ders., Wald- und Feldkulte (2 Bde., ebd. 1875‒77);
ders., Mytholog. Forschungen (Straßb. 1884);
A. Kuhn, Mytholog. Studien (Bd. 1, Gütersloh 1886);
Schwartz, Der heutige Volksglaube und das alte Heidentum (2. Aufl., Berl. 1862);
ders., Die poet. Naturanschauungen der Griechen, Römer und Deutschen in ihrer Beziehung zur
Mythologie
(2 Bde., ebd. 1864‒79);
ders., Prähistorisch-anthropol.
Studien (ebd. 1884); ders., Indogerman. Volksglaube (ebd. 1885); E. H. Meyer, Indogerman. Mythen (2 Bde., ebd. 1883‒85); Laistner, Nebelsagen (Stuttg. 1879); ders., Das Rätsel der Sphinx. [* 23] Grundzüge einer Mythengeschichte (Berl. 1889);
K. Müllenhoff, Über Tuisco und seine Nachkommen (in der «Allgemeinen Zeitschrift für Geschichte», Bd. 8): Weinhold, Über den Mythus vom Wanenkrieg (Berl. 1890);
Wuttke, Der deutsche
Volksaberglaube der Gegenwart (2. Aufl., ebd.
1869);
Pfannenschmid, German.
Erntefeste im heidn. und christl. Kultus (Hannov. 1878);
Jahn, Die deutschen
Opfergebräuche bei
Ackerbau und Viehzucht
[* 24] (Bresl. 1884);
Kauffmann, (2. Aufl., Stuttg. 1893);
E. Mogk, Mythologie
(im «Grundriß
der german. Philologie», hg. von H. Paul, Bd. 1, Straßb. 1891);
E. H. Meyer, German. Mythologie
(Berl. 1891);
Herrmanowski, Die Deutsche
Götterlehre und ihre Verwertung in Kunst und Dichtung
(2 Bde., ebd. 1891).
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