Titel
Deutsche
Litteratur
, im weitesten
Sinn der Inbegriff der gesamten Schriftwerke des deutschen
Volkes, insofern dieselben
Geistesprodukte von bleibender und nachwirkender Bedeutung und dadurch Gegenstand fortgesetzten
Anteils sind oder doch einen
bestimmten geschichtlichen Wert für gewisse
Perioden und Kulturentwickelungen gehabt haben. In der
Regel unterscheidet man
die deutsche
Nationallitteratur von der wissenschaftlichen (gelehrten) Litteratur
der verschiedensten
Gebiete.
A. Nationallitteratur.
Der
Begriff der
Nationallitteratur, die uns hier zunächst und hauptsächlich beschäftigt, kann mit einer gewissen
Willkür
bald verengert, bald erweitert werden; immer aber bleibt es unzweifelhaft, daß die poetischen
Schöpfungen im
Mittelpunkt
der
Nationallitteratur stehen und den wichtigsten Teil derselben bilden. »Unter
den
Denkmälern der Litteratur
sind die poetischen insofern die wichtigern, als sie, ihren
Zweck
in sich selbst tragend, auf
eine freiere, deutsches
Gemüt und deutschen
Geist entschiedener aussprechende
Weise entstanden sind als die meisten Werke der
Beredsamkeit, das
Wort im weitern
Sinn verstanden, da bei deren Abfassung in der
Regel praktische oder wissenschaftliche
Zwecke vorzugsweise gewaltet haben«
(Koberstein).
Die außerhalb der
Dichtung stehenden Werke der
Nationallitteratur können im wesentlichen nur solche sein, welche sich durch
eine durchgebildete, schöne Form auszeichnen und in gewissem
Sinn eine ästhetische
Wirkung hervorzubringen vermögen. Die
Aufgabe der Geschichte der deutschen Litteratur
bleibt es daher, der
Entwickelung des deutschen Volksgeistes
und der deutschen
Sprache,
[* 3] wie sie sich in den
Tausenden von Schriftwerken der bezeichneten Art darstellt, treu und sorgsam
nachzugehen, die
Wechselwirkung zwischen dem nationalen
Leben und unsrer Litteratur klar zu machen, den
Reichtum von Besonderheiten,
die doch wieder einem allgemeinen
Gesetz untergeordnet erscheinen, zu erfassen, die Entwickelungsbeziehungen
zwischen den einzelnen Zeiträumen und
Schöpfungen der Litteratur darzulegen, und durch historisch-ästhetische Betrachtung
zum
Genuß litterarischer
Schöpfungen anzuleiten.
Die Werke der deutschen Litteratur stellen eins der kostbarsten Besitztümer des deutschen Volkes dar; sie sind in verhängnisvollen Zeiten das einzige nationale Besitztum gewesen, und jeder Rückblick auf das Werden und Wachsen, Blühen und Welken, Streben und Irren in den Werken der Dichtung erschließt ein mächtiges Stück deutscher Geschichte und deutscher Eigenart. Von den ältesten Tagen bis auf die Gegenwart gehen in Vorzügen und Mängeln bestimmte erkennbare Grundzüge durch die Entwickelung der deutschen Litteratur; allem Wandel und Wechsel der Zeiten, der Sitten und Zustände, selbst der Sprache trotzend, treten, meist unbewußt und unbeabsichtigt, die geheimsten Regungen der Volksseele, die besondern Eigentümlichkeiten des deutschen Wesens in den Schriftdenkmälern zu Tage. Liegt auch die Periode der ausschließlichen Pflege der Litteratur und eines durchaus litterarischen Charakters der deutschen Kultur schon längst hinter uns, so wird doch keine Zeit aufhören können, an den Leistungen und Ehren der Nationallitteratur warmen, ja leidenschaftlichen Anteil zu nehmen.
Die Geschichte der deutschen Litteratur zerfällt naturgemäß in zwei große Hauptabschnitte, deren erster von den Anfängen und ältesten Zeugnissen der Litteratur bis zum Ausgang des Mittelalters, der zweite von da bis zur Gegenwart reicht. Die Untereinteilungen ergeben sich durch die Hauptperiode in der nationalen Geschichte, des deutschen Kulturlebens, aus denen die Litteratur gedeihend und blühend oder in kümmerlicher Entfaltung erwachsen ist, mit denen sie in so engem Zusammenhang, so unablässiger Wechselwirkung gestanden hat, daß neuerlich eine Auffassung herrschend werden konnte, welche die Bedeutung der besondern Elemente und der individuellen Begabungen so gut wie verneinte.
Zeigt es sich indessen, daß, je näher jede geschichtliche Darstellung der neuern Zeit rückt, je reicher die Quellen fließen, aus denen wir unsre Kenntnis über die einzelnen Träger [* 4] der poetischen Litteratur schöpfen, die Mitwirkung jener Eigenart, der zufolge jeder Mensch gleichsam eine Welt für sich darstellt, immer bedeutsamer wird: so ist ein Anteil hoch stehender Einzelner an der Entwickelung der Dichtung auch für jene Zustände und Gebiete anzunehmen, in denen für uns längst das Besondere im Allgemeinen untergetaucht erscheint.
Vorepoche: Heldensage und Heldensang.
Den Perioden der deutschen Litteratur, die sich historisch fixieren lassen, an deren Ein- und Ausgang bestimmte Werke und Namen stehen, und von denen spärliche oder reiche schriftliche Denkmäler und Zeugnisse vorhanden sind, ist eine Entwickelung, ja, wie man neuerdings geneigt ist anzunehmen, eine hohe Blüte [* 5] deutscher Dichtung vorangegangen, deren Nachklänge weit in die Zeiten des Mittelalters hereinreichen. Unerkennbar bleibt, wann und wo die poetische Gestaltung der Götter- und Heldensage angehoben hat, deren Anfänge vielleicht schon jene Arier auf ihrem Zug von Asien [* 6] nach Europa [* 7] begleiteten, welche sich vom gemeinsamen indogermanischen Stamm ablösten und nach mancher dazwischenliegenden Entwickelung als Germanen mehrere Jahrhunderte vor Christo Norddeutschland bis zu den Mündungen des Rheins und die Küsten der Nord- und Ostsee bevölkerten, die Kelten süd- und westwärts vor sich herdrängend.
Große Stämme dieser Germanen, vor allen das Volk der Goten, saßen noch weit im Osten zur Zeit, als Rom [* 8] vor den Teutonen zitterte, welche schließlich die Feldherrnkunst des Marius überwand, als Cäsar mit Ariovist kämpfte, als das Heer des Varus vor den germanischen Stämmen im Teutoburger Wald erlag, und als in den Tagen Kaiser Trajans Tacitus in seiner »Germania« [* 9] die erste genauere Kunde über die germanischen Völker gab und die rauhen, jugendfrischen, kriegerischen und häuslichen Tugenden derselben im Gegensatz zu der übersteigerten und alt werdenden Kultur der römischen Welt schilderte.
Bei allen oder doch bei einer Mehrzahl der germanischen Stämme fanden sich nach dem Zeugnis der Römer [* 10] Lieder, die schon Tacitus als »alte« bezeichnet. Der eine jener beiden »Merseburger Zaubersprüche«, die im 9. Jahrh. aufgeschrieben wurden, klingt an eine altindische Spruchformel an und deutet um Jahrhunderte zurück. Auch die ältesten Fassungen der Siegfriedsage, die Anfänge jener Tiersage, in deren Mittelpunkt der Fuchs [* 11] steht, mögen weiter zurückreichen als die historische Kunde von unsern Urvätern.
Aus der Vergleichung der Reste altheidnischer Gedichte mit den Dichtungen der Skandinavier und Angelsachsen, mit den uralten Rechtsformeln hat man mit einiger Sicherheit geschlossen, daß allen ältesten Gesängen durch Allitteration Form und Gestalt gegeben worden sei, eine Form, die besonders geeignet erscheint, eben diese Lieder dem Gedächtnis einzuprägen und so von Mund zu Mund zu überliefern. Beweise im strengsten Wortsinn sind hier nicht möglich; ¶
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auch daß bei dem »Singen und Sagen«, welches nach dem Bericht des Tacitus gemeinsam geübt wurde, das Wort die Hauptsache, die »Musik« dagegen sehr unentwickelt war, läßt sich doch immer nur mit Wahrscheinlichkeit vermuten. Beweise, denen nicht zu widersprechen wäre, gibt es für diese Vorzeit, in welcher Überlieferung und Wiedergabe unmittelbarer Eindrücke, Mythe und lebendige Erinnerung, Namen der Stämme und Völker, historisch Beglaubigtes und Sagenhaftes ineinander verschwimmen, eben nicht.
Auch als in den ersten Jahrhunderten nach Christi Geburt die Germanen immer entschiedener in den Vordergrund der Geschichte treten, als mit der Periode der Völkerwanderung und des Ansturms deutscher Stämme gegen das zerbröckelnde römische Weltreich Menschen und Dinge deutlicher werden, bleibt die Kunde von der deutschen Dichtung dürftig und unzulänglich. Wohl hat der geistvolle Forscher und Darsteller recht, der sagt: »Verlorne Gedichte sind ebenso wichtig wie erhaltene, wenn man ihre Existenz beweisen und ihre Nachwirkungen feststellen kann« (Scherer), und nicht minder wahr ist, daß es nicht leicht einen stärkern Beweis von der schöpferischen Macht einer Dichtung geben kann, als daß sie ohne schriftliche Fixierung wesentlich unverändert fortlebt, daß ihre Situationen, Gestalten und Hauptzüge zum Teil bis auf den Wortlaut zu spätern Geschlechtern gelangen.
Immer aber ist es nur ein Rückschluß, der aus den spätern Gestaltungen der großen Heldensage, aus verwandten Erscheinungen bei den germanischen Völkern über dem Meer und aus einzelnen ganz unbedeutenden Resten auf die Blüte einer großen epischen Dichtung, unmittelbar nach der Völkerwanderung, gemacht wird. Die gewaltigen und erschütternden Kämpfe, durch welche die deutschen Völker im ersten Halbjahrtausend der christlichen Zeitrechnung hindurchgingen, konnten nicht anders als befruchtend auf den poetischen Geist und den poetischen Gestaltungstrieb wirken; Eindrücke und Erinnerungen von fortreißender Macht, das Hervortreten einzelner Heldengestalten, ungeheure Schicksalswechsel fanden ihren Widerklang in Heldenliedern, deren Mannigfaltigkeit sich mehr und mehr auf einzelne große Gruppen (Sagenkreise) konzentrierte.
Wie stark die großen historischen Ereignisse, an denen die deutschen Stämme kämpfend und leidend Anteil nahmen, und in denen sie zum Teil ihren Untergang fanden, auf die Phantasie wirkten, ist aus den spätern mittelalterlichen Erneuerungen der Heldensage der Völkerwanderungszeit noch zu erraten. Der Grundcharakter dieser Poesie war heidnisch; an die heidnische Vergangenheit der Völker und die alten Überlieferungen knüpften die Dichter, oder wie man sie immer nennen will, auch dann noch an, als die Bekehrung der meisten deutschen Völker zum Christentum längst erfolgt war.
Bei allen deutschen Völkern oder vielmehr Völkervereinen, deren hervorragendste in den Zeiten der großen Völkerwanderung Goten, Langobarden, Burgunder, Franken, Alemannen, Bayern, [* 13] Thüringer, Sachsen [* 14] und Friesen waren, werden in Fortbildung der ältern Lieder und unter den Einwirkungen der neuen Erlebnisse eigne Heldenlieder existiert haben, die inzwischen bald mannigfach aufeinander bezogen wurden und ineinander übergingen. Nachklänge der bei Tacitus erwähnten verlornen Lieder von Hermann dem Cherusker scheinen in andern Sagen vorhanden; Züge der gotischen Dichtungen von den Königsgeschlechtern der Balthen und Amaler und späterhin von Odoaker und Theoderich wurden weit verbreitet; die Gestalt Attilas (Etzels), des Hunnenkönigs, der mit seiner Augenblicksmacht Freiheit und Existenz beinahe aller germanischen Stämme gefährdete, kehrt in den verschiedenen Sagenkreisen wieder. So ist der Sagenforschung und der Kritik, welche den wesentlichsten Inhalt der alten, noch bis zum Schluß des ersten Jahrtausends erklingenden epischen Lieder festzustellen sucht, ein weites und wichtiges Feld eröffnet, und das Bewußtsein, daß eine mächtige, stoffreiche, von großartigem Leben und tausend Erinnerungen getränkte Dichtung vor der Zeit der geschriebenen Litteratur vorhanden war, muß festgehalten werden.
Die Dichtungen selbst aber, von denen nach glaubhaften Berichten noch Karl d. Gr. im 8. und 9. Jahrh. einen großen Teil aufzeichnen ließ und lassen konnte, sind fast vollständig verloren gegangen. Als schriftliche Denkmäler der heidnischen und halbheidnischen Völkerwanderungsepoche besitzen wir nur unbedeutende Bruchstücke. Die beiden von G. Waitz 1841 in Merseburg [* 15] aufgefundenen sogen. »Merseburger Zaubersprüche«, die ähnlichen von Miklosich 1857 entdeckten Formen sind minder wichtig als das um 800 von zwei Fuldaer Mönchen aufgezeichnete »Lied von Hildebrand und Hadubrand«, in der That die einzige volle Probe der Form und des Wesens der großen, einst allverbreiteten Heldenlieder. In zweiter Linie stehen lateinische Niederschriften eines im 10. Jahrh. von Ekkehard von St. Gallen in Hexametern bearbeiteten Gedichts von »Walther und Hiltgund« (»Waltharius von Aquitanien«),
welches offenbar zu seiner Entstehungszeit ein deutsches Vorbild hatte, und eines an der Grenzscheide des 10. und 11. Jahrh. von dem Tegernseer Mönch Fromund in leoninischen Hexametern niedergeschriebenen Gedichts: »Rudlieb«. Einzelne Vorstellungen, die aus altheidnischen Gedichten in die kümmerlichen deutschen Dichtungsversuche der Geistlichen des 10. und 11. Jahrh. hereinragen (so im »Wessobrunner Gebet« und in den Versen vom Jüngsten Gericht: »Muspilli«),
die eigentümliche, an die alte epische Poesie gemahnende Auffassung des Erlösers als des Heerkönigs und reichen Volkskönigs im altsächsischen Gedicht »Heliand«, die Vergleichungen mit angelsächsischen und altnordischen Liedern kommen der Vorstellung, welche das Hildebrandslied gewähren kann, zu Hilfe. Letztes Resultat bleibt doch nach Jakob Grimms Wort: »Von althochdeutscher Poesie sind uns nur kümmerliche Bruchstücke gefristet, gerade so viel noch, um sicher schließen zu dürfen, daß Besseres, Reicheres untergegangen ist. Aber das Vermögen der Sprache, den nationalen Stil der Dichtkunst erkennen lassen uns nur die angelsächsischen und altnordischen Lieder, jene, weil sie dessen älteste, diese, weil sie eine noch heidnische Auffassung sind.«
I. Zeitraum.
Zeit der althochdeutschen geistlichen Dichtung.
Seit dem 4. Jahrh. war zuerst den in das römische Reich eindringenden, späterhin den andern deutschen Völkern das Christentum gepredigt worden. Am Ausgang des 8. Jahrh. bekehrte Karl d. Gr. die bis dahin heidnisch gebliebenen Sachsen mit Anwendung der äußersten Gewaltmittel. Mit den Heidenbekehrern, die ihre Klöster als Mittelpunkte des neuen kirchlichen Lebens im ganzen deutschen Land errichteten, kam auch die Herrschaft der lateinischen Sprache für kirchliche und geistliche Zwecke, für die neue christliche Bildung. Freilich übertrug schon im 4. Jahrh. der gotische Bischof Ulfilas (Wulfila) die Bibel [* 16] (mit Ausnahme der Bücher der Könige) und hinterließ in dieser teilweise erhaltenen Übersetzung eins der kostbarsten Denkmäler für die Geschichte der deutschen Sprache, das einzige wesentliche Zeugnis ¶
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des sonst untergegangenen Gotischen. Aber das mutige Beispiel des arianischen Bischofs fand keine entsprechende Nachahmung, und nur das äußerste Bedürfnis drang den fränkischen, irischen und angelsächsischen Bekehrern im eigentlichen Deutschland [* 18] nach und nach Übersetzungen einzelner Predigten, Glaubens- und Beichtformeln ab oder reizte zu eigenen Abfassungen in der im ganzen doch für barbarisch erachteten Sprache. In der Hauptsache war es »dürftige Prosa«, was auf diesem Weg entstand.
Dem Reichtum und der eigentlichen Macht der deutschen Sprache wichen die Geistlichen eher aus, als daß sie ihn suchten. Da sie die Lust des Volkes an den alten Liedern, welche in dieser Zeit der wandernde Spielmann noch von Herd zu Herd trug, als verderblich erachteten, in der Erinnerung an die kriegerischen Sagenhelden nicht mit Unrecht Rückfall ins Heidentum witterten, da sie sich lange in einem völligen Gegensatz zu der Vorstellungs- und Sinnesweise des Volkes befanden und das Gefühl dieses Gegensatzes in den Klosterschulen auch bei der heranwachsenden Generation genährt ward, so währte es geraume Zeit, bis ein Einklang zwischen der eigentlichen Volksnatur und Volkssitte und der neuen kirchlichen Ordnung eintrat.
Spärlich waren unter solchen Umständen auch die poetischen Versuche, welche aus der neuen christlichen Bildung und aus den Reihen der Geistlichkeit hervorgingen. Einige Gesänge aus dem 9. Jahrh. (»Bittgesang an den heil. Petrus«, ein »Loblied auf den heil. Georg«, eine Bearbeitung des 138. Psalms),
das »Wessobrunner Gebet« und das vom Jüngsten Tag handelnde Gedicht »Muspilli«, welches mit der heidnischen Vorstellung vom großen Weltbrand durchsetzt ist, zeigen die Dürftigkeit der Vorstellungen, die Ungelenkheit der Form. In poetischer Hinsicht wichtiger sind die beiden christlichen Hauptdichtungen der karolingischen Zeit: der in altsächsischer Mundart nach dem Evangelium des Matthäus und der Tatianischen Evangelienharmonie verfaßte, kräftig-einfache »Heliand« (Heiland), den ein niederdeutscher Dichter in den Tagen Ludwigs des Frommen (vielleicht im Auftrag desselben) schrieb, und der im direkten Anschluß an die Weise der allitterierenden Heldengesänge die tiefere Teilnahme des neubekehrten Sachsenvolkes an dem mächtigen Sohn Gottes als dem Völkerherrn und Landeswart zu wecken suchte, und die hochdeutsche »Evangelienharmonie« des Weißenburger Mönches Otfried vom Ende des 9. Jahrh., in welcher der Dichter den Franken ein christliches Heldengedicht zu schaffen beabsichtigte. Otfried war der erste, welcher an die Stelle der Stabreimform den Reim setzte und regelmäßigen Strophenbau einführte, womit er für einen Teil der folgenden Dichter vorbildlich wurde.
Ungefähr derselben Zeit gehört das von einem Geistlichen verfaßte weltliche »Ludwigslied« an, welches einen Sieg Ludwigs III. über die Normannen bei Saucourt (881) feiert. In der Weise dieses auf ein Zeitereignis bezüglichen Liedes haben nach zuverlässigen Zeugnissen noch andre Lieder existiert, die namentlich während des 10. und im Übergang zum 11. Jahrh. zahlreicher wurden. Auch gemischt lateinische und deutsche Gedichte scheinen zu erweisen, daß zwischen der Spielmannsdichtung und der Poesie der Kleriker sich allmählich eine Wechselwirkung herstellte.
In der lateinischen Klosterlitteratur dieses Zeitraums entwickelten sich überdies mancherlei Keime, welche später in der deutschen Litteratur aufgehen sollten, und so muß der ältesten Anfänge der Weihnachts- und Passionsspiele in kleinen lateinischen Dramen sowie der lateinischen Stücke der Gandersheimer Nonne Hroswitha (Roswitha) vom Ende des 10. Jahrh. gedacht werden, mit denen sie den in den Klöstern vielgelesenen Terenz verdrängen wollte.
Die Litteraturdenkmäler, auch im 10. Jahrh. noch vereinzelt, werden im 11. etwas zahlreicher; es treten bestimmtere Autorennamen, man kann noch nicht sagen erkennbare Dichterpersönlichkeiten, hervor. In der Zeit der sächsischen und fränkischen Kaiser (von der Thronbesteigung Heinrichs I., 919, bis zum Tod Heinrichs III., 1056) bestanden im wesentlichen die großen Formen der karolingischen Monarchie, des »theokratischen Kaisertums« fort; die emporstrebende streng kirchliche Auffassung samt der ganzen Vorstellungswelt der Geistlichkeit drang auch in die Volksmassen ein, obwohl mit Spott und Entrüstung bezeugt wird, daß die »Bauern« fortfuhren, von Siegfried und Dietrich von Bern zu singen.
Die Legendenpoesie, mit den Pseudoevangelien, mit heimischen und fremden Wundergeschichten genährt, trat in den Vordergrund, fand inzwischen erst im 12. Jahrh. künstlerische Gestaltung. Dem 11. Jahrh. gehören die deutsche Psalmbearbeitung des St. Gallener Mönches Notker Labeo (gest. 1022), die Auslegung des »Hohenliedes« des Fuldaer Mönches Williram (gest. 1085 als Abt des Klosters Ebersberg),
die biblischen Gedichte des Scholastikus Ezzo, auch das vielbesprochene kosmographische Gedicht »Merigarto« an. Im Übergang zum 12. Jahrh. verfaßte eine Frau Ava (gest. 1127 zu Göttweih) ein größeres Gedicht: »Vom Leben Jesu und vom Antichrist«, ihr angeblicher Sohn Heinrich ein Gedicht »Von des Todes Gehügede«. Die meisten Gedichte und poetischen Bruchstücke dieses Zeitraums erscheinen kunstloser, verwilderter; in manchen wechselt Poesie und Prosa. Die eigentlich althochdeutsche Sprache, von der die ganze Litteraturperiode den Namen der althochdeutschen führt, klingt mit Notker aus. Auch die altniederdeutsche (altsächsische) Sprache bewahrte höchstens bis zu diesem Zeitraum die alte Kraft [* 19] und Fülle; die Zeugnisse eines litterarischen Lebens blieben ganz vereinzelt, der »Heliand« fand keine Nachahmung.
II. Zeitraum.
Zeit der Kreuzzüge. Aufschwung der Dichtung. Beginn der ritterlich-höfischen Poesie.
Im Wendepunkt des 11. zum 12. Jahrh. beginnt eine neue, hochinteressante und reiche Entwickelung der deutschen Litteratur, im wesentlichen an das Emporkommen und die weitere Durchbildung der als Mittelhochdeutsch bezeichneten Schriftsprache gebunden. Den stärksten Anteil an dem raschen Aufblühen einer großen geistlichen Litteratur in deutscher Sprache und einer ihr kühn zur Seite tretenden ritterlichen Dichtung hatten die Eindrücke der bewegten Zeit. Der unter Heinrich IV. beginnende Riesenkampf zwischen der weltlichen Gewalt und den Weltbeherrschungsansprüchen der Hierarchie, die gewaltigen, bunten und wechselnden Eindrücke der Kreuzzüge, die tausendfach neuen Lebensverhältnisse selbst, die in Deutschland aus dem Emporkommen der Landesfürsten, dem gesamten Lehnssystem und Städtewesen erwuchsen, die Aufwühlung der Volksseele bis in ihre Tiefen und die Erweiterung des Gesichtskreises förderten gleichmäßig das Gedeihen der Litteratur, welche sich fast ausschließlich in den Formen der Poesie darstellt und selbst in Weltbeschreibungen, Lebensgeschichten und historischen Werken die Übermacht einer gesteigerten Phantasie erkennen läßt. Das tiefe innige Glaubensleben, das sich in ¶
Im Meyers Konversations-Lexikon, 1888
Titel
Deutsche
[* 20] Litteratur (1885 - 90). Die in der Entwickelung der deutschen Litteratur schon mehrmals erlebte Thatsache, daß irgend ein Programm lärmend als das Evangelium der Zukunft verkündet ward, während die eigentliche poetische Schöpferkraft seitab von oder im geraden Gegensatz zu diesem Programm sich bethätigt, scheint sich nach gewissen Erfahrungen der letzten fünf Jahre wieder einmal erneuern zu wollen. Wie am Eingang dieses Jahrhunderts die anspruchsvolle Kritik der jungen Romantik jede nicht romantische Produktion für unzulässig und veraltet erklärte (während doch Schillers Hauptdramen, Jean Pauls bedeutendste Romane, Hebels alemannische Lieder und Erzählungen erst geschaffen wurden), wie um 1830 die jungdeutsche Schule die Ablösung der Dichtung durch den »Kultus der Prosa«, die ausschließliche Geltung der tendenziösen Halbpublizistik oder doch der Heineschen Negation verkündete (während die eigentlich schöpferischen Talente sich der künstlerischen Formen für die Darstellung des Lebens nach wie vor bedienten und schließlich selbst die Jungdeutschen zwangen, in den Weg der angeblich überwundenen einzulenken), wie nach 1840 das Alleinrecht der politischen Lyrik behauptet, jede nicht politisch gefärbte Schöpfung als totgeboren bezeichnet wurde (während man wenige Jahre später zugeben mußte, daß die wenigen bleibenden Schöpfungen des Jahrzehnts der politischen Lyrik eben nicht angehört hatten): so entfaltet sich auch in der unmittelbaren Gegenwart die deutsche schöne Litteratur und ihr Publikum, wenig berührt von der mit so großem Geräusch in Szene gesetzten Bewegung, welche die Zukunft der Litteratur dem sogen. Naturalismus zuspricht.
Mußte schon die Wiederholung des Vorganges, daß eine kleine Gruppe von Schriftstellern sich im ausschließlichen Besitz der lebens- und gestaltungskräftigen Anschauung wähnt, während das Leben selbst mit der Unerschöpflichkeit, der Fülle und Vielseitigkeit seiner Erscheinungen ihrer tendenziös engen Begriffe spottet, Mißtrauen erregen, richtete die Polemik, die von der angeblich naturalistischen Schule gegen alle Dichter andrer Richtung geführt ward und wird, durch ihre Maßlosigkeit und Einseitigkeit sich selbst, so gelang es auch den Talenten der »naturalistischen Schule« selbst nur in beschränktem Maß, durch ihre Lebensauffassung und Darstellung ¶
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zu interessieren. Die stärksten Beweise für die gestaltende, poetisch offenbarende Kraft naturalistischer Lebensdarstellung wurden und werden bis zur Stunde nicht deutschen, sondern ausländischen Schriftstellern entnommen, und grundverschiedene Begabungen: Flaubert und Daudet, Zola, die Goncourts, de Bourget und eine Reihe andrer Franzosen, Turgenjew und Dostojewskij, die Norweger Ibsen und Kielland werden als Anreger und Propheten einer Lebensdarstellung genannt, die an Stelle der Phantasie die Beobachtung, an Stelle der seitherigen Welt- und Menschenanschauung eine neue, angeblich naturwissenschaftliche sehen und die großen Erkenntnisse der modernen Wissenschaft auf die Darstellung anwenden will.
Die Vorkämpfer dieser jüngsten Schule trennen sich freilich schon dadurch wieder voneinander, daß die einen eine Erneuerung der abgelebten und schal gewordenen Poesie verheißen, während die andern den Ersatz der Poesie durch eine lebenschildernde Litteratur, die wissenschaftliches Gewicht und wissenschaftliche Zuverlässigkeit besitzen werde, als das Endziel der Bewegung bezeichnen. Noch ganz abgesehen von den Leistungen und der möglichen Entwickelungsfähigkeit der Talente, die sich mehr oder minder zu diesem Programm bekannt haben, entbehrt das Programm selbst, das eine große Umwälzung und Erneuerung der deutschen Litteratur ankündigt, der wünschenswerten Klarheit.
Das Mißverhältnis zwischen den Ansprüchen und Selbstschätzungen der modernsten deutschen Poeten und ihren thatsächlichen schöpferischen Leistungen erwies sich im verflossenen Jahrfünft denn auch so stark, daß das Publikum in eine Art unbehaglicher Verwirrung gesetzt ward und zum Teil nicht einmal wußte und ahnte, worin denn nun das Neue und Außerordentliche des Dargebotenen liegen solle. Die Bevorzugung gewisser Themen des Geschlechtslebens, eine rücksichtslose Brutalität wirkten derart abstoßend, daß im Schoß der naturalistischen Schule selbst alsbald Kämpfe entstanden, weil man zwar darüber einig war, daß der »heuchlerischen Prüderie« und der »großen Gesellschaftslüge« Krieg bis aufs Messer [* 22] angekündigt werden müsse, aber keineswegs alle Genossen der Richtung das natürliche Schamgefühl und das Taktgefühl verleugnen mochten, das in andern Zeiten auch die naturwüchsigsten Talente bewährt haben.
Als Vertreter des Naturalismus traten Hermann Heiberg (Novellen; die Romane »Die goldene Schlange«, [* 23] »Apotheker Heinrich«, »Ausgetobt«),
Karl Bleibtreu, der eigentliche Heißsporn unter den jüngsten (mit halbnovellistischen Schlachtbildern, mit Gedichten und Dramen, dem Roman »Größenwahn«),
M. G. Conrad (mit den Novellen »Totentanz der Liebe«, den Romanen »Was die Isar rauscht« und »Die klugen Jungfrauen«),
Deutsche von Liliencron (Gedichte, »Eine Sommerschlacht«, Novellen), Hermann Friederichs, Karl Henckell, Konrad Alberti, Hermann Conradi etc. hervor, deren Werke sich gutenteils sowohl der genießenden Aufnahme als einer ernsten Beurteilung entziehen. Mit einer anfänglich wüster und platt-geschmackloser Romane versuchte Max Kretzer das Berliner [* 24] Leben, namentlich das Leben der Proletarier, zu schildern, rang sich aber in einigen spätern Darbietungen, namentlich in »Meister Timpe« zu klarerer Darstellung und größerer Innerlichkeit hindurch, was hoffentlich typisch für die Bestrebungen der ganzen Richtung sein wird.
Jedenfalls war unter all diesen Werken nichts, was die Empfindung und den Geschmack weiterer Lebenskreise berührt und gefesselt oder die Teilnahme an den poetischen Schöpfungen andern Ursprungs, andern Ziels und andern Stils geschwächt hätte. Wie weit auch die Ungunst der Zustände, die Verwirrung und Verwilderung des Publikums und namentlich die willkürliche Urteilslosigkeit gediehen sind, so hat es auch in den letzten fünf Jahren weder an innerlich wertvollen noch an äußerlich fesselnden poetischen Schöpfungen gefehlt.
Selbst in der Lyrik, die immer mehr nur ein Bedürfnis der schaffenden, immer weniger der genießenden und teilnehmenden Naturen scheint, gewannen einige Erscheinungen über den engsten Kreis [* 25] hinaus, in denen sonst der lyrische Poet gekannt ist, Gehör [* 26] und Nachklang. So der liebenswürdig sinnige Heinrich Seidel mit seinen »Gedichten«, den »Idyllen und Scherzen«, der auch als Novellist in seinen »Vorstadtgeschichten«, Novellen u. a. hauptsächlich durch die Unmittelbarkeit der lyrischen Stimmung und einen feinen Humor wirkt, so Johannes Trojan, an dessen Lyrik gleichfalls der Scherz und die Neigung zum Gnomischen überwiegt, ferner Felix Tandem (C. Splitterer ^[richtig: Spitteler]), dessen Erstlingsgedichte, namentlich aber die »Schmetterlinge«, [* 27] zum Köstlichsten und Eigentümlichsten der neuern deutschen Lyrik zählen, die Lieder und Gedichte des Dichtermusikers Peter Cornelius, die freilich frühern Jahrzehnten angehören und 15 Jahre nach dem Tode des Dichters durch Ad. Stern veröffentlicht wurden, die bedeutenden und für eine Frau in seltenem Grad eigentümlichen Gedichte von Isolde Kurz. Unter der neuen lyrischen Sammlung schon anerkannter Dichter, soweit sie nicht bloß Neuauflagen waren, sind L. Pfaus »Gedichte«, A. Fitgers »Winternächte«, Stephan Milows »Deutsche Elegien«, Paul Heyses »Spruchbüchlein«, Albert Mösers »Singen und Sagen«, Edwin Bormanns »Liederhort in Sang und Klang«, Emil Rittershaus' »Buch der Leidenschaft« hervorzuheben.
Natürlich fehlt es nicht an einer Unzahl neuer Namen, und die gebildete Sprache, die für die Poeten dichtet und denkt, bewährt noch immer ihre alte Kraft, obschon sie daneben den greuelvollsten Dilettantismus, der alle Lyrik in Verruf gebracht hat, keineswegs ausschließt. Von neuen Namen mögen Heinr. Vierordt, Johannes Prölß (»Trotz alledem«),
Frida Schanz genannt sein. Der didaktischen und philosophischen Lyrik gehörten O. von Leixners »Dämmerungen«, Heinr. Harts »Weltpfingsten«, Jul. Harts »Sansara« an, auch die Epigrammatiker B. Sutermeister, Albert Gehrle dürfen nicht unerwähnt bleiben. Die lyrisch-epische Dichtung (denn von epischer Dichtung im strengern Sinn des Wortes ist wenig zu berichten) erhielt mannigfache Vermehrungen, ohne sich großer Bereicherungen rühmen zu können. Die Mehrzahl hierher gehöriger Werke rührte von ältern, längst anerkannten Dichtern her, so die Mythe »Memnon« von A. Grafen Schack, das hübsche Gedicht »Kaiser Mar und sein Jäger« von Rud. Baumbach, »Der dicke König« von Hans Herrig, die nicht eben glückliche ägyptische Erzählung »Elifen« von Georg Ebers. Die Perle der erzählenden Dichtungen, das »Spielmannsbuch« von Wilhelm Hertz, enthielt Nachdichtungen mittelalterlicher Abenteuer, aber in so künstlerisch freier Weise, so vollendeter dichterischer Form, daß sie beinahe als eignes Eigentum des poetischen Übertragers zu betrachten sind. Als epische Versuche jüngerer Dichter zeichneten sich »Der Weg nach Eden« von Karl Kösting, »Die Kinder von Wohldorf« von Ferd. Avenarius aus.
Drama.
Auf dem Gebiet der dramatischen Dichtung herrschte im Zusammenhang mit eigentümlichen, vielfach ¶
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verworrenen, einander direkt widerstreitenden, sich in ihrer Wirkung lähmenden oder geradezu vernichtenden Bestrebungen in der litterarischen und theatralischen Welt jene wunderliche Anarchie, die es möglich macht, daß von der einen Seite der Niedergang, der letzte Bankrott des deutschen Dramas und von der andern ein nie zuvor erhörter Aufschwung desselben verkündet wird. Bei den Propheten des Aufschwungs begegnen wir hier der demütigsten Unterordnung unter die naturalistischen Krafteffektstücke der Franzosen und Russen, dort wiederum einem in der That allzu bescheidenen Anschmiegen an die Anfänge des deutschen Dramas.
Sowohl die »freie Bühne«, die nur mit Wagnissen experimentiert, als das Volkstheater, welches auf die dramatische Gestaltung im engern Sinn verzichtet, sind ein Memento mori an die bestehende Bühne, die sich mit Vorliebe »real« nennt, thatsächlich aber immer stärker und bedenklicher von falschen Herkömmlichkeiten und willkürlichen Voraussetzungen beherrscht wird. Während sich die maßgebenden Hoftheater gegen den Strom frischen Lebens abdämmen und von der dramatischen Poesie die unmöglichste Rücksichtnahme auf unglaubliche Vorurteile und ewig unerratbare Bedenken heischen, öffnen sie zugleich der frivolsten Zerstreuungssucht wie der geschmacklosesten Verwilderung Thür und Thor, fahren dabei aber fort, einen dramatischen Messias zu erwarten, der ihren und den höchsten Ansprüchen des Lebens zugleich genügen soll.
Natürlich richtet sich dieser die lebendige Wechselwirkung zwischen Bühne und Dichtung hemmende Zustand weniger gegen die historische Tragödie als gegen das bürgerliche Trauerspiel und Schauspiel, die um so unzweifelhafter das eigentliche Bedürfnis der Zeit sind, als hier auch die reichsten Perioden unsrer Litteratur und die glücklichsten dramatischen Talente verhältnismäßig wenig bleibende Schöpfungen hinterlassen haben. Das historische Trauerspiel, einst das Ehrgeizziel der meisten deutschen Dichter, ist wirklich nicht bloß um der flacher gewordenen Weltanschauung und Empfindung der Durchschnittsbildung willen in den Hintergrund getreten, sondern weil innerhalb der modernen Welt sich die Zahl der im alten Sinn tragischen Konflikte verengert hat, dafür aber eine ungeheure Zahl neuer Konflikte aus dem Leben erwachsen ist, die nicht schlechthin in die Formen der alten Tragik aufgehen wollen.
Daß zu dieser tiefer liegenden Ursache der Umbildung der Tragödie in ein Schauspiel mit unblutigem und doch tragischem Ausgang auch die Lebensanschauung herrschender Gesellschaftsklassen, die im Grund nur die Tragik des Bankrotts kennen und anerkennen, das Ihrige beiträgt, ist zu unzählige Male erörtert, um hier des Breitern wiederholt zu werden. Gleichwohl erfreut sich die Schöpfung auch des modernen Tragikers, sofern sie nur nicht bloßer Nachklang zu den gewaltigen Werken alten Stils, zu Shakespeare und Schiller, ist, noch immer gewisser Erfolge.
Die stärksten hatte E. v. Wildenbruch aufzuweisen, zu dessen frühern Tragödien und Schauspielen sich die Dramen »Die Herrin ihrer Hand«, [* 29] »Christopher Marlow«, »Das neue Gebot«, »Der Fürst von Verona«, [* 30] »Die Quitzows«, »Der Generalfeldoberst« gesellten, von denen namentlich »Die Quitzows« ein tieferes Interesse erregten. Von R. Voß traten die Tragödien »Mutter Gertrud«, »Brigitta von Wisby«, »Alexandra« und »Eva« hervor, die letztgenannten dem modern sozialen Drama zustrebend, alle von einer gewissen Bedeutung und alle durch einen unaustilgbar krankhaften Zug beeinträchtigt, welcher die reinen Wirkungen eines phantasievollen, hochstrebenden Talents in Frage stellt.
Von sonstigen Erscheinungen auf dem Gebiet der dramatischen Dichtung seien noch genannt: »Die Rosen von Tyburn« von A. Fitger, »Thassilo« von Ferd. v. Saar, »Eine neue Welt« (Kolumbus) und »Gerold Wendel« von Heinr. Bulthaupt, »Der Schmied von Ruhla« und »Alexander Borgia« von J. Riffert. Die Dramen von K. Bleibtreu: »Byron«, »Schicksal«, »Vaterland« gehören der schon charakterisierten naturalistischen Richtung an, und auch aus ihnen leuchtet hervor, daß der Wille und die Fähigkeit, neue Tiefen der Natur zu enthüllen, Leben darzustellen, vom Drang des litterarischen Effekts stark überwogen wird.
Von Werken, die ihren Weg über die Bühnen gemacht haben und nun in die Litteratur eintraten, erschienen die auf Berliner Boden erwachsenen Schauspiele von O. Blumenthal: »Die große Glocke«, »Ein Tropfen Gift«, das historische Intrigenlustspiel »Der Kriegsplan« von J. v. Werther, das Schauspiel »Die Philosophin« von Fr. Spielhagen, die Lustspiele »Das Recht der Frau« und »Die wilde Jagd« von K. Fulda, [* 31] das dem Münchener Gärtnerplatztheater angehörige, der bayrischen Volks- und Dialektpoesie verwandte Schauspiel »Das Austragstüberl« von Neuert und Schmidt. Die größere Zahl der bürgerlichen Schauspiele und Lustspiele kommt und geht mit dem Tag und beansprucht weder, noch verdient sie eine tiefere bleibende Teilnahme.
Durch eine Folge von Aufführungen, die aus Dilettantenkreisen heraus in den verschiedensten Städten veranstaltet wurden, gelangte das für Worms [* 32] schon 1883 gedichtete »Lutherfestspiel« von Hans Herrig zu außerordentlicher Volkstümlichkeit; für die Eröffnung der Wormser Volksbühne schrieb der Dichter ein ähnliches Festspiel mehr lyrisch-epischen als dramatischen Gehalts: »Drei Jahrhunderte am Rhein«. Als eine phantastisch-originelle Dichtung erweist sich das Bühnenmärchen »Die letzten Menschen« von Wolfgang Kirchbach, von dem auch ein Lustspiel, »Der Menschenkenner«, hervortrat.
Roman und Novelle.
Im ähnlichen Verhältnis wie die dramatische Produktion zur theatralischen, mit einem geradezu erdrückenden Übergewicht des Handwerksmäßigen, Fabrikmäßigen gegenüber dem Poetischen, innerlich Belebten steht auch in den Lieblingsformen der Zeit, in Roman und Novelle, die einem poetischen Bedürfnis entstammte, dem künstlerischen Sinne nach irgend einer Richtung genügende erzählende Dichtung der Unterhaltungslitteratur gegenüber, welch letztere durch das Bedürfnis der zahllosen Blätter und Blättchen ins sinnlos Massenhafte gesteigert wird.
So waren es denn auch in der Romanlitteratur vor allen längst bewährte Dichter, von denen die wertvollsten und unzweifelhaft lebensvollsten Schöpfungen der letzten Jahre ausgingen. Ein Meister wie Gottfr. Keller fügte der Reihe seiner unvergänglichen Schöpfungen den satirischen und doch in der Gestalt seiner Helden tief poetischen Roman »Martin Salander« hinzu; P. K. Rosegger gab in dem Bauernroman »Jakob der Letzte« ein tragisches Bild aus dem Kampf zwischen den alten Besitzverhältnissen und der menschenvernichtenden Kraft des allmächtigen Kapitals; Paul Heyse stellte in der zum Roman erweiterten Novelle »Die Geschichte der Stiftsdame« eins jener Frauenschicksale dar, für die er den feinen Blick, den innersten Anteil und die Darstellungskunst wie wenige besitzt. Aus der Reihe der Zeitromane erregten Fr. Spielhagens »Was will das werden?« und »Ein neuer Pharao«, die stark realistischen, aber durch und ¶
Im Meyers Konversations-Lexikon, 1888
Titel
Deutsche
[* 20] Litteratur. Eine Jahresübersicht des litterarischen Lebens und der litterarischen Produktion kann, wenn sie nicht zur reinen Aufzählung von Schriftstellernamen und Büchertiteln werden soll oder eines von jenen weit auseinander liegenden Gnaden- oder Jubeljahren der Dichtung behandelt, in denen sich eine Reihe hochbedeutender Erscheinungen zusammendrängt, kaum anders als gewisse allgemeine Sätze und Beobachtungen, die im vergangenen Jahre gegolten haben und im nächsten wiederum gelten werden, wiederholen.
Das seit unsrer letzten Übersicht der deutschen Litteratur verflossene Jahr zeichnete sich leider minder durch die Erweckung neuer, vielversprechender Talente, durch Vollendung oder Hervortreten besonders epochemachender Schöpfungen als durch die Verluste an hervorragenden Vertretern denkwürdig aus, die die deutsche Litteratur im gedachten Zeitraum betroffen haben. Rasch nacheinander sind Ludwig Anzengruber, Gottfried Keller, der greise Eduard v. Bauernfeld, Gustav zu Putlitz, von vielen minder gekannten Namen zu schweigen, vom Tode entrafft worden; einige von ihnen an der spätesten Grenze des Lebens und poetischer Schöpferkraft, andre, wie Anzengruber, aus der Mitte ihres Strebens und ihrer Thätigkeit, in allen aber verlor das deutsche litterarische Leben der Gegenwart maßgebende und vorbildliche Persönlichkeiten, deren Zahl sich mehr und mehr zu lichten beginnt.
Muß ein falscher Autoritätsglaube und eine chinesische Autoritätsgeltung unbedingt jedem geistigen und künstlerischen Gebiet zum Unheil gereichen, so hat umgekehrt der völlige Mangel bewährter und allgemein anerkannter geistiger Autoritäten leicht eine gewisse Anarchie, eine Koterieherrschaft anspruchsvoller Mittelmäßigkeiten im Gefolge, die man der deutschen Litteratur künftiger Jahrzehnte unmöglich wünschen kann. Mit gutem Rechte richtet sich die Hoffnung der ernsten Freunde der Litteratur auf die kräftigere Entfaltung mancher Begabung, die mit einzelnen Anläufen Bedeutendes verheißen hat, ohne doch bisher zur Bedeutung im höchsten Sinne des Wortes gelangt zu sein. Es ist nutzlos, fortgesetzt auf die Flut der Überproduktion zu schelten, da diese einerseits mit geschädlichen Verhältnissen und Bedürfnissen, namentlich mit der Unzahl der Zeitungen und Zeitschriften, anderseits mit dem gesteigerten, geradezu nervösen Abwechselungsbedürfnis der Zeit im Zusammenhang steht. Es ist ein Irrtum, an wachsende Lesesucht und Bücherleidenschaft zu glauben, und wenn in diesen Dingen ein statistischer Nachweis möglich wäre, würde sich wahrscheinlich eine starke Abnahme des Lesebedürfnisses herausstellen, die stärkere Teilnahme an den Tageserscheinungen der Litteratur wird durch beständig größere Gleichgültigkeit gegen die wertvollen und bleibenden Schöpfungen der Vergangenheit erkauft.
Man braucht sich nur zu vergegenwärtigen, daß der eifrigste Leser nicht im stande sein wird, auch nur den zehnten Teil der Neuheiten der Nationallitteratur im engern Sinne, der in Deutschland alljährlich auf den Büchermarkt geworfen wird, zu genießen, um zu dem bezeichneten Resultat auch noch dasjenige einer unerfreulichen Zersplitterung der Teilnahme und des Urteils zu erhalten. Der Mangel maßgebender kritischer Zeitschriften, die wenigstens in den Kreisen der Bildung ein gewisses Gleichmaß zu fördern vermochten, ist gleichfalls so oft beklagt wie die Überproduktion; am Ende aber muß man zugestehen, daß eine sachliche und eingehende Würdigung der Massenerscheinungen die Kräfte einer litterarischen Zeitschrift beinahe ebenso sehr übersteigen würde wie die Kraft des einzelnen Beurteilers.
Lyrische und epische Dichtung, Drama.
Bemerkenswert ist die Thatsache, daß eine gewisse Teilnahme an den Darbietungen der lyrischen Dichtung, die eine Zeitlang vollständig geschwunden schien, sich wieder zu zeigen beginnt. Auf die ersten Regungen dieser Teilnahme, die immer noch täuschende sein können, gründet sich die Wiederbelebung des Cottaschen »Musenalmanachs«, der am Schlusse des Jahres unter Otto Brauns Redaktion zum erstenmal nen erschienen ist und fortgesetzt werden soll. Unter den ältern Dichtern, deren Lyrik eine allmähliche Verbreitung gewinnt, ließ Theodor Fontane, dessen lebensvolles und echtes, dazu anspruchsloses Talent sich neuerdings einer lang versagten Würdigung erfreut, seine »Gedichte« in neuer, eigentümlich und erfreulich vermehrter Auflage erscheinen.
Von Hermann Lingg erschien eine neue Sammlung von Gedichten (»Jahresringe«),
welche die Eigenart und die erkannten Vorzüge des Poeten wieder aufweisen, einzelne Perlen Linggscher Lyrik einschließt, aber eine weitere innere Entwickelung oder Steigerung nicht bekundet. Von anerkannten Lyrikern veröffentlichte Adolf Wilbrandt »Neue Gedichte«, Wilhelm Jensen eine Sammlung: »Im Vorherbst«, Albert Möser eine vierte lyrische Sammlung: »Singen und Sagen«, und eine mannigfach umgearbeitete, in ihrem formellen Werte noch gesteigerte Neuauflage der ersten Sammlung seiner »Gedichte«. Richard Volkmann-Leander hinterließ als Scheidegruß »Alte und neue Troubadourlieder«, in denen die liebenswürdige und sonnige Natur des Lyrikers noch einmal zu Wort kam. ¶
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Hervorzuheben sind ferner die »Gedichte« von Fr. Eggers, die von Felix Dahn eingeleiteten Gedichte von L. Rafael, die Sammlung »Homo sum« von Julius Hart, in der freilich die Reflexion, [* 34] die nicht vollständig in poetisches Fleisch und Blut umgewandelt ist, eine beträchtliche Rolle spielt, der Dichter aber in einer Einleitung: »Die Lyrik der Zukunft«, seine besondere Weise apologetisch vertritt. Der Spruchpoesie gehören die Sprüche und Stachelreime Otto v. Leixners: »Aus der Vogelschau«, die »Modernen Xenien« Ernst Ziels und die satirischen Gedichte »Mit der Diogeneslaterne« von Albert Gehrke an. Die revolutionär-pessimistische Flüchtlingspoesie vertritt mit entschiedenem Talent und wilder Leidenschaftlichkeit Karl Henckell in seinem »Diorama«.
Von den zahlreichen epischen Dichtungen, die meist wohl besser als gereimte Erzählungen zu bezeichnen wären, haben nur einige wenige die Teilnahme eines größern Publikums gewinnen können. Vielleicht verbreitet sich nichts so langsam als größere erzählende Gedichte. Ad. Sterns »Johannes Gutenberg«, von dem eine neue durchgesehene Auflage erschien, hat zu diesem Erfolg 17 Jahre gebraucht; ein Gedicht wie Konr. Ferdinand Meyers »Engelberg« ist im gleichen Zeitraum erst in dritter, die prächtigen »Seegeschichten« von Heinrich Kruse erst in zweiter Auflage erschienen.
Eine Ausnahme bilden die erzählenden Dichtungen von Jul. Wolff, die durch eine neue: »Die Pappenheimer«, ein Reiterlied, vermehrt wurden und gleich Scheffels »Trompeter von Säckingen« eine Reihe von Nachahmern hinter sich dreinziehen. Der Landsknechtston spielt in der erzählenden Dichtung der neuesten Zeit eine große Rolle; Gedichte, wie »Der Helfensteiner«, ein Sang aus dem Bauernkrieg von Joseph Lauff, tauchen immer häufiger auf, und die Mode hat am Vorwalten dieses Tones so gut ihren Anteil wie an der Vorliebe für die Butzenscheiben bei der Hausausstattung.
Einen Versuch, einen modernen Stoff in ein episches Gedicht zu zwingen, unternahm Julius Grosse in seinem »Volkramslied«, dem freilich die epische Einheit des Stils und die lebensvolle Unmittelbarkeit gebricht. Vorzügliche kleinere erzählende Dichtungen bot Adolf Pichler in der Sammlung »Neue Marksteine«. Mit Dichtungen, wie »Nikephoros« von Fritz Löwe, eine Erzählung in Versen aus der Zeit der Christenverfolgungen, »Die Wogenbraut« von Adolf Volger, gerät man schon auf das Gebiet der wohlgemeinten Versuche.
Eine besondere, mehr charakteristische als poetisch wertvolle, künstlerisch reife Leistung war das Gedicht »Eine Fahrt ins neue Deutschland« von Armin Meinrad, in welchem ein aus Amerika [* 35] wiederkehrender Flüchtling von 1849 seine Eindrücke von unsern politischen Zuständen derb und drastisch schilderte. An poetischen Übersetzungen hat es gleichfalls nicht gefehlt, die wertvollsten darunter waren die vier Bände »Italienische Dichter«, in denen Paul Heyse die Resultate langjähriger Beschäftigung mit der italienischen Dichtung, Studien und Meisterstücke der Übersetzungskunst vereinigte.
Die dramatische Dichtung zeigt die alten Gegensätze eines Litteraturdramas, das auf die Bühne Verzicht leistet, aber schon seit Jahrzehnten nur noch in den seltensten Fällen ein lesendes Publikum gewinnen kann, und eines bühnengerechten Schau- und Lustspiels von so ausgeprägter poetischer und litterarischer Wertlosigkeit, daß bei den meisten Werken dieser Gattung und dieses Stils auf die Verewigung durch den Druck verzichtet wird. Unverkennbar aber ist man dieses Zustandes allseitig müde, und in dem Maße, wie sich die Aussichten der akademischen Dramatiker verringern, die lediglich den Lebensinhalt früherer Tage immer neu wiederholen, um gewisse Formen zu retten, wird man auch der ganz gehaltlosen, ausschließlich auf die Bühnenkonvenienz und Rollentradition gestellten Theaterstücke müde, deren Leere und Nichtigkeit man sich kaum mehr in dem zum bloßen Schwanke herabgebrachten Lustspiel und der Posse gefallen läßt.
Zwischen beiden äußersten Polen zeigen sich Keime und Ansätze einer wirklichen Gestaltung, Werke, die freilich vielfach noch den Charakter des Experiments tragen, aber den Glauben an eine Neubelebung auch unsrer dramatischen Dichtung aufrecht erhalten. Daß diese Neubelebung von der Freien Bühne (s. d.) oder der Volksbühne ausgehen wird, läßt sich in Zweifel ziehen. Versuche, wie die von Gerhard Hauptmann: »Vor Sonnenaufgang« und »Das Friedensfest«, von K. Bleibtreu: »Ein Faust der That«, »Das Halsband der Königin« (Tragikomödie),
Max Halbe: »Ein Emporkömmling«, Arno Holz [* 36] und Johannes Schlaf: »Die Familie Selicke«, können Anlässe zu litterarischer Diskussion bieten, aber keine Eindrücke hinterlassen, wie sie von der Bühne auch der naturalistisch Gestimmte fordert. Man braucht deshalb noch gar nicht gering von diesen Versuchen zu denken, aber unter allen Umständen entsprechen dieselben keinem Gefühl u. Bedürfnis der Massen. Näher diesem Bedürfnis kommen offenbar schon H. Sudermann mit seinen Dramen »Die Ehre« und »Sodom« sowie Heinr. Bulthaupt mit »Der verlorne Sohn«.
Von Ernst v. Wildenbruch erschienen zwei in ihrer Stoffwahl und Behandlung so grundverschiedene Dramen, daß man in einer andern als unsrer experimentierenden Periode sie schwerlich einem und demselben Dichter zugeschrieben haben würde. Während »Der Generalfeldoberst«, ein phantastisch-historisches und patriotisches Drama aus dem Beginn des Dreißigjährigen Krieges, sich den Versuchen nähert, der historischen Dramatik lyrische Frische und lebendige Beweglichkeit durch eine neue Versbehandlung zurückzugewinnen, stellt »Die Haubenlerche« ein peinliches Stück modernen Lebens dar und ist ohne alle Frage von den Bestrebungen des Naturalismus beeinflußt.
Unter den ältern dramatischen Dichtern hat Paul Heyse mit gewohnter Unermüdlichkeit zwei neue Schau- und Lustspiele: »Ein überflüssiger Mensch« und »Gott schütze mich vor meinen Freunden«, und das Volksschauspiel »Weltuntergang« geschaffen;
von Ad. Wilbrandt erschien ein dramatisches Gedicht: »Der Meister von Palmyra«, und ganz neuerdings ein Lustspiel: »Der Unterstaatssekretär«, von O. Gensichen eine Tragödie: »Michael Ney«, von Fr. Koppel-Ellfeld ein »Albrecht der Beherzte« (Gelegenheitsdrama zum 800jährigen Jubiläum des Hauses Wettin),
von A. Weimar [* 37] eine »Vittoria Accoramboni«.
Der Volksbühne, deren Existenz zur Zeit noch eine bestrittene ist, und die ein festes Heim nur in dem neuerrichteten Bühnenhaus in Worms gefunden hat, von H. von Maltzahn in der Schrift »Die Errichtung deutscher Volksbühnen« vertreten, von R. Prölß in »Das deutsche Volkstheater« bekämpft wurde, gehörten die inzwischen im Buchhandel veröffentlichten Lutherschauspiele von Otto Devrient: »Luther«, und von A. Trümpelmann: »Luther und seine Zeit«, das Schauspiel »Hutten und Sickingen« von A. Bungert, »Gustav Adolf in Erfurt« [* 38] von Ottomar Lorenz an. Alle diese und ähnliche poetischen Versuche wenden sich nicht an die stehenden Theater, [* 39] sondern an eine für einen bestimmten Aufführungszweck und ausschließlich für diesen zusammentretende Spielgenossenschaft, die namentlich in ¶
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kleinern Städten den kläglichen Liebhaberbühnen den Garaus machen und Ziele erreichen könnte, die immerhin bedeutend wären. Unter dieser Voraussetzung brauchte die theatralische Berufskunst die Konkurrenz dieser Volksbühne, die immer nur eine Festbühne zu sein vermochte, nicht zu fürchten, und alles käme darauf an, daß die Dichtung für diese Art der theatralischen Unterhaltung von vornherein nur in den besten Händen ruhte und die dramatische Poesie nicht etwa durch eine Folge von poetisch kraftlosen, lediglich aus Situationsbildern und lyrisch-rhetorischen Erläuterungen bestehenden Volksschauspielen gefährdet werde, die am Ende so verderblich wirken müßten wie die bloßen Fabrikate der sogen. praktischen Bühnenschriftstellerei. Von vornherein würde es nicht auszuschließen sein, daß die Volksbühne mit ihren Aufführungen in den Dienst gewisser patriotischer, religiöser und Parteitendenzen träte, eine Gefahr, die inzwischen noch lange nicht so groß ist als die des seelenlosen Schlendrians schlechter Theater.
Roman und Novelle.
Nach wie vor stehen der Roman und die Novelle im Vordergrund aller »belletristischen« Produktion in der deutschen wie in allen andern europäischen Litteraturen; aus rein äußerlichen wie innerlichen Gründen wächst die Zahl der Prosa-Epen ins Ungemessene, und die Masse entzieht sich schon längst der Beurteilung und jeder andern Gruppierung als der nach dem Umfang der einzelnen Werke. Zum Glück ist es noch immer möglich, die Darbietungen, die sich in einer oder der andern Weise über die Menge erheben, leicht zu unterscheiden, obschon die flache Alltagsbelletristik mit Zuhilfenahme der sozialen Fragen und des modischen Pessimismus einige Stufen höher zu kommen versucht, während auch die Berufenen durch eine Vielproduktion, die mehr in die Breite [* 41] als in die Höhe strebt, unwillkürlich hinabgleiten.
Wenn die Prosa an sich der Gefahr schnellerer Veraltung ausgesetzt ist als die poetische Darstellung in gebundener Rede, so läuft die neueste Erzählungskunst diese Gefahr doppelt und dreifach. Im Drange, die fieberische Hast und Erregung des modernen Lebens wiederzugeben, mit neuen Reizmitteln die erschlafften Nerven [* 42] der Lesewelt aufzustacheln, gelangt ein Stil voll nervöser Unruhe, voll kurzatmiger Ausrufungen, voll jäher Sprünge und übergangsloser Gegensätze zur Herrschaft, der dem Bestand und der künftigen Geltung und Wirkung selbst gehaltreicher und interessanter Werke unsrer Tage Schlimmes weissagt.
Der historische Roman droht sich mehr und mehr in den archäologischen aufzulösen, der ohne eigentlich poetische Aufgabe, ohne poetisches Motiv im engern Sinne sich die Wiedergabe entschwundener Zeiten und Zustände zur ausschließlichen Aufgabe setzt. Ein leiser Zug zur Überschätzung des historischen Hintergrundes und der wissenschaftlich belegbaren Sittenschilderung geht selbst durch ein wahrhaft poetisches Meisterwerk mit lebendiger Gestaltung und tragischer Stimmung, wie »Die Versuchung des Pescara« von K. F. Meyer, hindurch.
Von den Schriftstellern, die in einer gewissen regelmäßigen Folge historische Romane zu veröffentlichen pflegen, ließ Felix Dahn eine geschichtliche Erzählung aus dem Jahre 1000 v. Chr.: »Weltuntergang«, Ernst Eckstein »Die Numidierin«, Novelle aus dem altrömischen Afrika, [* 43] W. Walloth die historischen Römerromane: »Tiberius« und »Ovid«, Georg Ebers »Josua«, eine Erzählung aus biblischer Zeit, erscheinen. Von sonstigen historischen Romanen wären »Sinkende Zeiten«, aus den Tagen des letzten Hansakriegs, von Ernst Jungmann, »Apollonia von Celle«, [* 44] eine Familiengeschichte aus der Reformationszeit, von A. von der Elbe (Auguste von der Decken),
»Der tolle Christian in Paderborn«, [* 45] aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges und mit katholischer Tendenz, von H. Keiter, »Die letzten Mönche vom Oybin«, aus dem 16. Jahrh., von Johannes Renatus zu nennen.
Die Romane aus der Gegenwart überwiegen die historischen nicht nur der Zahl nach. Alle Gärung und aller innere Widerspruch wie das reiche, aber verworrene äußere Leben unsrer Zeit lagert sich in einer Fülle von Romanen ab, die, bald naiv auf die überlieferte Erfindung und Kompositionsweise aufgebaut, bald auf die vergleichende Beobachtung gestützt, mannigfache Lebensbilder, aber nicht, wie der Roman früherer Tage, ein Weltbild zu geben versuchen. Kein einziger unter den zahlreichen Romanen des letzten Jahres nimmt den Anlauf, [* 46] ein Weltbild aufzustellen, selbst Romanfolgen verzichten hierauf, und der Spezialismus, der das Losungswort bereits nicht mehr in der Wissenschaft allein ist, scheint sich auch der Kunst bemächtigen zu wollen.
Allerdings ist nur ein ganz geringfügiger Teil der neuesten Erzähler von einem eigentlich künstlerischen Geiste beseelt, der innerhalb des Rahmens seiner Aufgabe und seiner Begabung die Vollendung sucht und erstrebt, die Mehrzahl begnügt sich mit der Wirkung des Augenblicks und ist sich der Kurzlebigkeit ihrer Schöpfungen voll bewußt. Die poetisch wertvollsten, stimmungsreichsten und durch ihre Form eine längere Dauer verheißenden Romane erweisen sich meist als erweiterte Erzählungen. Zu diesen rechnen wir mehr oder minder: »Der eiserne Rittmeister« von Hans Hoffmann, wohl der vorzüglichste Roman des verflossenen Jahres, »Unsühnbar« von Marie Ebner-Eschenbach, von welcher Dichterin auch ein Band [* 47] neuer vorzüglicher Novellen: »Miterlebtes«, erschien, die talentvollen, obschon noch allzusehr unter dem Banne der naturalistischen Doktrin stehenden Romane von Hermann Sudermann: »Der Katzensteg« und »Frau Sorge«, »Frau Minne«, Künstlerroman von Theophil Zolling, »Die Bergpredigt« von Max Kretzer, »Wahrheit« von Karl Frenzel, die beiden neuen Romane von Wilhelm Jensen: »Ein Doppelleben« und »Die Kinder vom Ödacker«, von denen besonders der letztere von den eigentümlichen Vorzügen der Jensenschen Erzählungskunst getragen erscheint, »Der Lar«, eine Oster-, Pfingst-, Weihnachts- und Neujahrsgeschichte von Wilhelm Raabe, wiederum eines jener halb humoristischen, halb elegischen Gebilde, in denen der Dichter zur Meisterschaft gediehen ist.
Eine immer wachsende Anzahl von Romanen und Novellen bezeichnet sich ausdrücklich als Berliner Geschichten oder haben, wenn sie sich nicht so bezeichnen, die Reichshauptstadt, ihre Gesellschaftskreise und Typen zum Mittelpunkt der Darstellung gemacht. Die Berechtigung wie die Gefahr des Berliner Romans liegen so auf der Hand, daß es müßig erscheint, sie immer wieder hervorzuheben. Am Ende befreit die Besonderheit des Stoffes unter keinen Umständen von den Gesetzen der Kunstgattung, und an Erfindungen und Ausführungen, die in der Reichshauptstadt spielen, lassen sich keine andern Maßstäbe anlegen als an Erzählungen überhaupt. Unter allen Schriftstellern, die im Augenblick den Berliner Roman pflegen, ist Theodor Fontane durch wahres poetisches Talent und die genaueste Kenntnis aller Zustände und Menschenklassen Berlins offenbar der berufenste, und sein kleiner Roman »Stine« überragt durch Lebendigkeit und Feinheit der Darstellung ganze Reihen von Romanen, die sich abmühen, getreue ¶
Im Brockhaus` Konversationslexikon, 1902-1910
Titel
Deutsche
[* 20] Litteratur. Von einer Deutsche Litteratur im engern Sinne, d. h. von schriftlich aufgezeichneten poet. oder prosaischen Schöpfungen in deutscher Sprache, kann füglich erst die Rede sein seit Karl d. Gr. und der Herrschaft des Christentums: die altgerman. Runen [* 48] (s. d.) dienten Vorzugsweise religiösen, nicht litterar. Zwecken. Von Mund zu Munde und im Gedächtnis pflanzte sich die deutsche Dichtung der heidn. Zeit fort; nur sehr wenige Reste, dazu die Ergebnisse der vergleichenden Poetik, der altdeutsche Wortschatz und die Zeugnisse lat. und griech. Autoren gewähren dürftige Einblicke in das poet. Leben der Vorzeit.
I. Vorlitterarische heidnische Periode (bis etwa 750 n. Chr.). Schon aus der indogerman. Gemeinschaft brachten die Germanen gewisse poet. Stoffe (z. B. die Sage von dem nur an einer Stelle verwundbaren Helden: Achilles-Siegfried, von dem Kampf des Vaters und Sohnes: Ödipus und Laios, Hildebrand und Hadubrand, Rostem und Sohrab), Gattungen (religiöse Aufzüge, [* 49] Rätsel, Zaubersprüche u. a.), Formeln und Formen mit. Die indogerman. Strophe aus zwei Langzeilen (s. d.) wurde germanisch meist verdoppelt, die beiden Hälften der Langzeile durch Allitteration (s. d.) verknüpft.
Allitteration durchdringt bald die ganze german. Sprache. Denn der Priester, in ältester Zeit der Hauptträger von Kunst und Wissenschaft, wendet diese poet. Form auf relig., jurist., mediz. Stoffe gleichmäßig an: alle gehobene formelhafte Rede ist damals poetisch. Religiöse und profane Feiern wurden begangen mit Aufführungen, bei denen Tanz, Dichtung und Musik zusammenwirkten (gotisch laiks, hochdeutsch leich). Die wichtigsten Instrumente waren Harfe und Flöte.
Einen berufsmäßigen Sängerstand in der Art der kelt. Barden (s. d.), der spätern nordischen Skalden (s. d.), gab es bei den Germanen nicht. Aus Taeitus' «Germania» wissen wir, daß sie damals (um 100 n. Chr.) kosmogonische und mythische Lieder zu Ehren ihres Stammvaters Tuisto und seines Sohnes Mannus sowie des Hercules (Donar?) sangen; ihre Heldenlieder zum Ruhme des Nationalhelden Arminius klangen vielleicht in der Siegfriedsage fort; Gesänge geleiteten sie zu und aus der Schlacht, wenn auch der berühmte barditus (barritus, s. Barden) eher ein Geheul als eine gesungene Dichtung war.
Als in den Stürmen der Völkerwanderung die Kulturvölker des Altertums der jugendlichen Kraft ¶
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der Germanen erlagen, da erwuchs in diesen nationales Selbstgefühl und histor. Bewußtsein. Den poet. Ertrag dieses german. Heldenzeitalters barg die deutsche Heldensage (s. d.). Sie vertritt bei den Germanen die Geschichte; der Historiker der Goten, Jordanis, der der Langobarden, Paulus Diaconus, der der Franken, Gregor von Tours, [* 51] schöpften aus Heldenliedern und Heldensage, die ihre erste Blüte bei den Goten, dem begabtesten der damaligen deutschen Stämme, erlebte.
Got. Fürsten, wie Ermanrich und namentlich Theoderich d. Gr., ihre Freunde und Feinde, wie Attila und Odoaker, traten in den Mittelpunkt der Sage, die durch fahrende Sänger in alle Teile Deutschlands [* 52] getragen wurde. Die nahe Berührung mit der antiken Kultur verlieh den Goten und den mit Unrecht verrufenen Vandalen eine hohe Bildung; ihre Könige dichteten lateinisch und deutsch; ihre Sänger waren so berühmt, daß der Frankenkönig Chlodwig sich von Theoderich einen got. Sänger erbat. Der Bischof der zum arianischen Christentum übergetretenen Westgoten, Vulfila oder Ulfilas (s. d.), setzte zuerst eine deutsche Schrift an die Stelle der Runen; er übertrug die Bibel ins Gotische und gab damit den Anstoß zu andern theol. Arbeiten in got. Sprache (skeireins, Kalender). Daß sein Vorgang nicht nachhaltiger wirkte, lag an dem von der orthodoxen röm. Kirche verketzerten Arianismus der Goten, der auch politisch ihr Verhängnis wurde.
Politisch wie geistig erbte ihre führende Stellung der seit Chlodwig (496) orthodox christl. Stamm der Franken. Nicht so genial produktiv wie die Goten, besaßen sie mehr die Gabe der Ausgestaltung. Bei ihnen bildete sich um 600 aus dem frank. Siegfriedmythus durch Verbindung mit der burgund. Gunthersage, mit Elementen der merowing. Geschichte, endlich mit Teilen der got. Sage das bedeutendste Glied [* 53] der deutschen Heldensage, die Nibelungensage, vor der sogar der Sagenkreis Dietrichs von Bern, [* 54] noch mehr die frank.
Sagen von Hug- und Wolfdietrich, von Walther und Hildegunde und die in den Wikingerzügen des 8. Jahrh. aus alten Mythen herausgewachsene Gudrunsage zurücktreten. Verbreitet wurden all diese Sagen oder Sagenkomplexe durch strophische Einzellieder; nur ein einziges, das Hildebrandslied (s. d.) in seiner erhaltenen Gestalt aus dem Ende des 8. Jahrh., ist bruchstückweise auf uns gekommen. In ein anderes Gebiet der ausgehenden heidn. Dichtung gewähren Einblick die aus dem 8. bis 10. Jahrh. erhaltenen Zaubersprüche und Segen, die teils rein heidnisch sind, wie die Merseburger Sprüche, teils oberflächlich christlich übertüncht.
Von all den andern poet. Gattungen der merowing. und früh-karoling. Zeit, von denen Glossen und Zeugnisse melden, den Fest- und Schlacht-, den Braut- und Leichengesängen, den Spott- und Lehrversen, den Rätseln und Gleichnissen, den Hirten- und Schifferliedern, selbst von den gewiß reich vertretenen Liebesliedern (winileot) und Liebesgrüßen ist so gut wie nichts mehr vorhanden, dank dem rücksichtslosen Haß, mit dem die bekehrende christl. Kirche nicht nur alle heidnische, sondern überhaupt alle weltliche Dichtung verfolgte. Sie hat die Sangeslust unsers Volks nicht auf die Dauer hemmen können, aber die Kunde von seiner poet. Vergangenheit hat sie schwer verkümmert.
II. Althochdeutsche Periode (etwa 750-1050). Am Beginn steht die gewaltige Herrschergestalt Karls des Großen. Nicht mit Unrecht hat man ihn den Vater unserer Litteratur genannt. Drei Richtungen, die sich sonst scharf befehdeten, die christliche, die antike und die nationale, vereinte er in seiner Person. In Italien [* 55] mit tiefer Bewunderung für die alte Kultur erfüllt, pflegte er an seinem Hofe zu Aachen [* 56] in einer gelehrten Akademie, der der Angelsachse Alkuin, der Langobarde Paulus Diaconus, der Franke Einhard, der Italiener Petrus von Pisa [* 57] u. a. angehörten, Kunst und Wissenschaft, zumal lat. Dichtung, und ließ durch Alkuin für die Schulbildung von Laien und Klerus, sogar mit Hilfe des Schulzwangs sorgen.
Daneben aber sammelte der german. Volkskönig die alten deutschen Heldenlieder wie die leges barbarorum und arbeitete an einer deutschen Grammatik. Ein frommer Christ, dem die innerliche Bekehrung seines Volks tiefste Herzenssache war, sorgte er durch strenge Erlasse dafür, daß den Deutschen die Hauptlehren des christl. Glaubens auch in deutscher Sprache zugänglich wurden. So veranlaßte er eine nicht unbeträchtliche deutsche Prosalitteratur, deutsche Gebete, Tauf- und Beichtformeln, Katechismusstücke aller Art, aber auch größere theol. Übersetzungen, die zwar meist über schülerhafte Interlinearversionen kaum hinausgingen, aber doch in den sog. Monseer Fragmenten (hg. von Hench, Straßb. 1890), der trefflichen Version des Matthäusevangeliums, eines Traktats Isidors von Sevilla [* 58] (hg. von Hench, Straßb. 1893) und einiger Predigten eine rühmliche Höhe erstiegen.
Der Nordwesten Deutschlands, in dem Karl d. Gr. Hof [* 59] hielt, ist dem Süden damals in freiem, selbständigem Gebrauch der deutschen Prosa entschieden überlegen; auch das im bayr. Kloster Wessobrunn schlecht erhaltene Wessobrunner Gebet (s. Wessobrunn), ein halb allitterierendes, halb prosaisches fragmentarisches Gemisch heidnisch-christl. Formeln, weist durch sächs. Sprachformen nach dem Norden [* 60] hin, der uns damals auch das Hildebrandslied rettete. Dom- und Klosterschulen waren die Heimat jener frommen Litteratur: damals oder im spätern Mittelalter ragten in der Schweiz [* 61] St. Gallen und Reichenau, im Elsaß Murbach und Weißenburg, [* 62] in Bayern Freising, [* 63] St. Emmeram und Benediktbeuern, in Österreich [* 64] Monsee, Melk, Vorau und Millstädt, in Mitteldeutschland Fulda, wo Hrabanus Maurus 804-822 lehrte, als Pflegestätten christl. Kultur rühmlich hervor.
Karls borniert bigotter Sohn und Nachfolger Ludwig der Fromme machte sich die nationalen Bestrebungen des großen Vaters nur insofern zu eigen, als sie zugleich der Kirche zu gute kommen mußten. Unter seiner Regierung wurde es der Geistlichkeit klar, daß der verhaßte heidn.-profane Volksgesang durch bloße Verbote nicht beseitigt werden könne. Sie suchte ihn jetzt durch christl. Dichtung zu verdrängen. So entstand um 830 außer anderm Verlorenen das schöne Gedicht eines talentvollen sächs. Geistlichen, der Heliand (s. d.), das sich bewußt und verständnisvoll an den german.-epischen Stil anlehnte und nur statt der gesungenen strophischen Einzellieder ein unstrophisch fortlaufendes recitiertes Epos einführte; so entstand später (um 870) die minder volkstümliche, mit gelehrten Spekulationen und Deutungen überladene Evangelienharmonie unsers ersten mit Namen bekannten Dichters, des Weißenburger Mönches Otfried (s. d.), der zuerst in einem größern Werk die Allitteration durch den aus der christl.-lat. Dichtung geläufigen, aber auch in deutschen Gedichten nicht mehr fremden Endreim ersetzte. Dieser wurde schnell die herrschende poet. Form. Zwar ist das unter Ludwig dem ¶
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Deutschen (um 880) aufgezeichnete, aber erheblich ältere interessante Gedicht vom Weltuntergang, das Muspilli (s. d.), das christl. Anschauungen in vielfach heidnischen, wundervoll epischen Formeln schildert, noch fast ganz stabreimend; jedoch zeigen zahlreiche kleinere geistliche Dichtungen, unter denen das schwungvolle, naiv kräftige Ludwigslied (s. d., 881) hervorragt, gereimte Strophen, und spätestens im 10. Jahrh. herrscht der Reim auch im volkstümlich weltlichen Liede, wie St. Galler Verse von einem verwundeten Rieseneber beweisen.
Zu den einseitig und engherzig kirchlichen Bestrebungen Ludwigs des Frommen und seiner Nachfolger bildet einen starken Gegensatz die Litteratur des Zeitalters der Ottonen. Den glänzenden polit. Aufschwung begleitet schnelles Wachstum der weltlichen Bildung und fröhliche, üppige Lebenslust. Aber der deutschen Dichtung kam dieser Wandel nur wenig zu gute. Die Sprache der höfischen Dichtung dieser Jahre war ausschließlich lateinisch, und fast nur aus Zeugnissen wissen wir, daß deutscher Volksgesang sich mit den geschichtlichen Ereignissen der Zeit und mit der Heldensage beschäftigte.
Immerhin drangen damals die Gestalten Ottos mit dem Barte und Herzog Ernsts in das Interesse des Volks; die aus Italien und dem Orient eingeführten sehr weltlichen Schwänke und Novellen, die an den Höfen, zum Teil in der schwierigen ungleichstrophigen Form der Modi (s. d.), lateinisch gesungen wurden, gingen dem Volke ebensowenig verloren, wie die damals aus Indien und Griechenland [* 66] über Rom importierten Tierfabeln; andererseits fand in den lat. Hexametern des trotz seiner virgilischen Sprache von echt german. Geiste durchwehten Epos «Waltharius» (s. d.) von dem St. Galler Mönche Eckehart I. (925) die Heldensage auch die Teilnahme der Geistlichen.
Denn auch sie huldigen dem weltlichen Geiste der Epoche unbedenklich; selbst die knappen lat. Prosadramen der kernhaften Gandersheimer Nonne Roswitha behandeln, obgleich sie als christl. Dichtungen den Heiden Terenz verdrängen sollen, höchst anstößige Themata mit unbefangenem Realismus, und die ganze lachende Lebensfülle der Zeit mit ihrer naiven Freude an Glanz und Stoff faßt zusammen das prächtige, farbenreiche lat. Rittergedicht «Ruodlieb» eines Tegernseer Mönches (um 1025). Im 10. Jahrh. erlebte das Kloster St. Gallen seine höchste Blüte.
Von Notker I. Balbulus, dem Geschichtschreiber, Musiker und Sequenzendichter (gest. 912), reicht eine lange Reihe talentvoller lat. Historiker und Dichter, Musiker, Architekten und Maler, Schulmeister und Ärzte bis auf Notker III. Labeo oder Teutonicus (gest. 1022), den fruchtbaren und geschickten Übersetzer und Erklärer christl. und antiker Litteratur, den ersten bedeutenden Prosaiker in deutscher Sprache, den einzigen deutschen Schriftsteller seiner Zeit: er hat zuerst die Muttersprache auf wissenschaftliche Dinge angewendet und den Bedürfnissen abstrakter Darstellung angepaßt.
Diesem freien künstlerischen und wissenschaftlichen Leben in den Klöstern der Ottonenzeit machte die cluniacensische Reform (s. Cluny) ein trübseliges Ende. In Haß gegen Bildung und Weltlust, in ascetischer Disciplin erzogen, sucht die Geistlichkeit des 11. Jahrh. auch in den Laien alle Lebensfreude durch finstere Bußpredigt zu ertöten. Um 1050 dichtete nahe bei St. Gallen ein Notker sein düsteres «Memento mori». Wieder war dieses Strebens unüberwindlicher Feind der Volksgesang, der namentlich in Bayern und Niederdeutschland blühte, und wieder suchte man ihn zu bekämpfen durch geistliche Poesie, natürlich in deutscher Sprache; sie war eine wirksame Ergänzung der damals an Bedeutung wachsenden deutschen Predigt.
III. Mittelhochdeutsche Periode (von der Mitte des 11. bis in die Anfänge des 14. Jahrh.). In ihrem Beginn steht eine lange Zeit fast ausschließlich geistlicher Dichtung; neben ihr tritt die nur spärlich vorhandene geistliche Prosa weit zurück, die in der stilistisch üppigen allegorischen Paraphrase des Hohen Liedes von dem Ebersberger Abt Williram (um 1060) immerhin ein glänzendes Werk aufzuweisen hat, und von weltlicher Poesie ist höchstens das Fragment einer abenteuerlichen poet.
Erdbeschreibung, der «Merigarto» (um 1050) zu nennen. Jene geistliche Dichtung, die namentlich in der Vorauer, der Millstädter und der Straßburg-Molsheimer Handschrift erhalten ist oder war, wirkt im großen und ganzen ermüdend und einförmig, wenn auch örtliche und zeitliche Unterschiede nicht fehlen. Österr. Epen, die um 1070 und später Genesis und Exodus schlicht und ursprünglich erzählen, verraten noch Einfluß des Heldensangs. Auf alamann. Gebiet erwuchs die anmutige geistliche Allegorie von der «Hochzeit». In Franken gedeihen strophische hymnenartige Gesänge, unter denen Ezzos Lied von dem Anegenge (um 1065) den höchsten Rang einnimmt.
Hier und am Niederrhein blüht die Legendendichtung, die auch von Spielleuten geübt (die sog. Ältere Judith u. a.) wurde und in dem fragmentarisch erhaltenen mittelfränk. Legendar um 1125 sogar ein großes Sammelgedicht hervorbrachte. Seit etwa 1100 wirkt die bedeutende franz. Theologie, zumal die Lehren [* 67] Abälards (s. d.) und die encyklopäd. Arbeiten des Fanatikers Honorius von Autun nach Deutschland herüber, so auf die neutestamentlichen Dichtungen der Frau Ava (gest. 1127) und aus die wüsten Kompilationen des kärnt.
Priesters Arnold über die Siebenzahl. Es ist dies die erste Etappe franz. Einflusses auf die mittelhochdeutsche Zeit. Mehr und mehr drängt Sündenklage und Bußpredigt alle andern Stoffe zurück. Sie herrscht in dem «Credo» des Armen Hartmann, zeigt in den socialen Betrachtungen der kärnt. Dichtung «Vom Rechte» ihre demokratische Seite und gipfelt in den gewaltigen, derb realistischen Sittengemälden des genialen, rücksichtslos harten Satirikers Heinrich von Melk (um 1160) und des geistesverwandten Zeitgenossen, der das Priesterleben mit kühner Schärfe geißelte. (Vgl. Piper, Die geistliche Dichtung des Mittelalters, in Kürschners «Nationalliteratur», Bd. 3.)
Doch die Freuden der Welt sind stärker als die Drohungen der Kirche, der weltliche Spielmann siegt beim Publikum über den geistlichen Dichter. Die Kreuzzüge, anfangs eine starke Waffe in den Händen der Kirche, schaffen ein internationales Rittertum, für das wiederum Frankreich den Ton angab, und dem die Wunder des Orients eine weltliche Abenteuerlust, seine glühenden Farben, seine üppigen Genüsse eine Freude an sinnlicher Pracht einflößten, die von den alten Idealen des Glaubenskampfes weit abführte; auch die Ideale feinster Sitte, die aus Frankreich nach Deutschland drangen, die Pflege höfischen Minnedienstes, die strenge gesellschaftliche Isolierung des Rittertums stimmte wenig zu den Tendenzen der Kirche. ¶