Titel
Deutsche
[* ] Litteratur. Eine Jahresübersicht des litterarischen Lebens und der litterarischen Produktion kann, wenn sie nicht zur reinen Aufzählung von Schriftstellernamen und Büchertiteln werden soll oder eines von jenen weit auseinander liegenden Gnaden- oder Jubeljahren der Dichtung behandelt, in denen sich eine Reihe hochbedeutender Erscheinungen zusammendrängt, kaum anders als gewisse allgemeine Sätze und Beobachtungen, die im vergangenen Jahre gegolten haben und im nächsten wiederum gelten werden, wiederholen.
Das seit unsrer letzten Übersicht der deutschen Litteratur verflossene Jahr zeichnete sich leider minder durch die Erweckung neuer, vielversprechender Talente, durch Vollendung oder Hervortreten besonders epochemachender Schöpfungen als durch die Verluste an hervorragenden Vertretern denkwürdig aus, die die deutsche Litteratur im gedachten Zeitraum betroffen haben. Rasch nacheinander sind Ludwig Anzengruber, Gottfried Keller, der greise Eduard v. Bauernfeld, Gustav zu Putlitz, von vielen minder gekannten Namen zu schweigen, vom Tode entrafft worden; einige von ihnen an der spätesten Grenze des Lebens und poetischer Schöpferkraft, andre, wie Anzengruber, aus der Mitte ihres Strebens und ihrer Thätigkeit, in allen aber verlor das deutsche litterarische Leben der Gegenwart maßgebende und vorbildliche Persönlichkeiten, deren Zahl sich mehr und mehr zu lichten beginnt.
Muß ein falscher Autoritätsglaube und eine chinesische Autoritätsgeltung unbedingt jedem geistigen und künstlerischen Gebiet zum Unheil gereichen, so hat umgekehrt der völlige Mangel bewährter und allgemein anerkannter geistiger Autoritäten leicht eine gewisse Anarchie, eine Koterieherrschaft anspruchsvoller Mittelmäßigkeiten im Gefolge, die man der deutschen Litteratur künftiger Jahrzehnte unmöglich wünschen kann. Mit gutem Rechte richtet sich die Hoffnung der ernsten Freunde der Litteratur auf die kräftigere Entfaltung mancher Begabung, die mit einzelnen Anläufen Bedeutendes verheißen hat, ohne doch bisher zur Bedeutung im höchsten Sinne des Wortes gelangt zu sein. Es ist nutzlos, fortgesetzt auf die Flut der Überproduktion zu schelten, da diese einerseits mit geschädlichen Verhältnissen und Bedürfnissen, namentlich mit der Unzahl der Zeitungen und Zeitschriften, anderseits mit dem gesteigerten, geradezu nervösen Abwechselungsbedürfnis der Zeit im Zusammenhang steht. Es ist ein Irrtum, an wachsende Lesesucht und Bücherleidenschaft zu glauben, und wenn in diesen Dingen ein statistischer Nachweis möglich wäre, würde sich wahrscheinlich eine starke Abnahme des Lesebedürfnisses herausstellen, die stärkere Teilnahme an den Tageserscheinungen der Litteratur wird durch beständig größere Gleichgültigkeit gegen die wertvollen und bleibenden Schöpfungen der Vergangenheit erkauft.
Man braucht sich nur zu vergegenwärtigen, daß der eifrigste Leser nicht im stande sein wird, auch nur den zehnten Teil der Neuheiten der Nationallitteratur im engern Sinne, der in Deutschland alljährlich auf den Büchermarkt geworfen wird, zu genießen, um zu dem bezeichneten Resultat auch noch dasjenige einer unerfreulichen Zersplitterung der Teilnahme und des Urteils zu erhalten. Der Mangel maßgebender kritischer Zeitschriften, die wenigstens in den Kreisen der Bildung ein gewisses Gleichmaß zu fördern vermochten, ist gleichfalls so oft beklagt wie die Überproduktion; am Ende aber muß man zugestehen, daß eine sachliche und eingehende Würdigung der Massenerscheinungen die Kräfte einer litterarischen Zeitschrift beinahe ebenso sehr übersteigen würde wie die Kraft des einzelnen Beurteilers.
Lyrische und epische Dichtung, Drama.
Bemerkenswert ist die Thatsache, daß eine gewisse Teilnahme an den Darbietungen der lyrischen Dichtung, die eine Zeitlang vollständig geschwunden schien, sich wieder zu zeigen beginnt. Auf die ersten Regungen dieser Teilnahme, die immer noch täuschende sein können, gründet sich die Wiederbelebung des Cottaschen »Musenalmanachs«, der am Schlusse des Jahres unter Otto Brauns Redaktion zum erstenmal nen erschienen ist und fortgesetzt werden soll. Unter den ältern Dichtern, deren Lyrik eine allmähliche Verbreitung gewinnt, ließ Theodor Fontane, dessen lebensvolles und echtes, dazu anspruchsloses Talent sich neuerdings einer lang versagten Würdigung erfreut, seine »Gedichte« in neuer, eigentümlich und erfreulich vermehrter Auflage erscheinen.
Von Hermann Lingg erschien eine neue Sammlung von Gedichten (»Jahresringe«),
welche die Eigenart und die erkannten Vorzüge des Poeten wieder aufweisen, einzelne Perlen Linggscher Lyrik einschließt, aber eine weitere innere Entwickelung oder Steigerung nicht bekundet. Von anerkannten Lyrikern veröffentlichte Adolf Wilbrandt »Neue Gedichte«, Wilhelm Jensen eine Sammlung: »Im Vorherbst«, Albert Möser eine vierte lyrische Sammlung: »Singen und Sagen«, und eine mannigfach umgearbeitete, in ihrem formellen Werte noch gesteigerte Neuauflage der ersten Sammlung seiner »Gedichte«. Richard Volkmann-Leander hinterließ als Scheidegruß »Alte und neue Troubadourlieder«, in denen die liebenswürdige und sonnige Natur des Lyrikers noch einmal zu Wort kam.
mehr
Hervorzuheben sind ferner die »Gedichte« von Fr. Eggers, die von Felix Dahn eingeleiteten Gedichte von L. Rafael, die Sammlung »Homo sum« von Julius Hart, in der freilich die Reflexion, die nicht vollständig in poetisches Fleisch und Blut umgewandelt ist, eine beträchtliche Rolle spielt, der Dichter aber in einer Einleitung: »Die Lyrik der Zukunft«, seine besondere Weise apologetisch vertritt. Der Spruchpoesie gehören die Sprüche und Stachelreime Otto v. Leixners: »Aus der Vogelschau«, die »Modernen Xenien« Ernst Ziels und die satirischen Gedichte »Mit der Diogeneslaterne« von Albert Gehrke an. Die revolutionär-pessimistische Flüchtlingspoesie vertritt mit entschiedenem Talent und wilder Leidenschaftlichkeit Karl Henckell in seinem »Diorama«.
Von den zahlreichen epischen Dichtungen, die meist wohl besser als gereimte Erzählungen zu bezeichnen wären, haben nur einige wenige die Teilnahme eines größern Publikums gewinnen können. Vielleicht verbreitet sich nichts so langsam als größere erzählende Gedichte. Ad. Sterns »Johannes Gutenberg«, von dem eine neue durchgesehene Auflage erschien, hat zu diesem Erfolg 17 Jahre gebraucht; ein Gedicht wie Konr. Ferdinand Meyers »Engelberg« ist im gleichen Zeitraum erst in dritter, die prächtigen »Seegeschichten« von Heinrich Kruse erst in zweiter Auflage erschienen.
Eine Ausnahme bilden die erzählenden Dichtungen von Jul. Wolff, die durch eine neue: »Die Pappenheimer«, ein Reiterlied, vermehrt wurden und gleich Scheffels »Trompeter von Säckingen« eine Reihe von Nachahmern hinter sich dreinziehen. Der Landsknechtston spielt in der erzählenden Dichtung der neuesten Zeit eine große Rolle; Gedichte, wie »Der Helfensteiner«, ein Sang aus dem Bauernkrieg von Joseph Lauff, tauchen immer häufiger auf, und die Mode hat am Vorwalten dieses Tones so gut ihren Anteil wie an der Vorliebe für die Butzenscheiben bei der Hausausstattung.
Einen Versuch, einen modernen Stoff in ein episches Gedicht zu zwingen, unternahm Julius Grosse in seinem »Volkramslied«, dem freilich die epische Einheit des Stils und die lebensvolle Unmittelbarkeit gebricht. Vorzügliche kleinere erzählende Dichtungen bot Adolf Pichler in der Sammlung »Neue Marksteine«. Mit Dichtungen, wie »Nikephoros« von Fritz Löwe, eine Erzählung in Versen aus der Zeit der Christenverfolgungen, »Die Wogenbraut« von Adolf Volger, gerät man schon auf das Gebiet der wohlgemeinten Versuche.
Eine besondere, mehr charakteristische als poetisch wertvolle, künstlerisch reife Leistung war das Gedicht »Eine Fahrt ins neue Deutschland« von Armin Meinrad, in welchem ein aus Amerika wiederkehrender Flüchtling von 1849 seine Eindrücke von unsern politischen Zuständen derb und drastisch schilderte. An poetischen Übersetzungen hat es gleichfalls nicht gefehlt, die wertvollsten darunter waren die vier Bände »Italienische Dichter«, in denen Paul Heyse die Resultate langjähriger Beschäftigung mit der italienischen Dichtung, Studien und Meisterstücke der Übersetzungskunst vereinigte.
Die dramatische Dichtung zeigt die alten Gegensätze eines Litteraturdramas, das auf die Bühne Verzicht leistet, aber schon seit Jahrzehnten nur noch in den seltensten Fällen ein lesendes Publikum gewinnen kann, und eines bühnengerechten Schau- und Lustspiels von so ausgeprägter poetischer und litterarischer Wertlosigkeit, daß bei den meisten Werken dieser Gattung und dieses Stils auf die Verewigung durch den Druck verzichtet wird. Unverkennbar aber ist man dieses Zustandes allseitig müde, und in dem Maße, wie sich die Aussichten der akademischen Dramatiker verringern, die lediglich den Lebensinhalt früherer Tage immer neu wiederholen, um gewisse Formen zu retten, wird man auch der ganz gehaltlosen, ausschließlich auf die Bühnenkonvenienz und Rollentradition gestellten Theaterstücke müde, deren Leere und Nichtigkeit man sich kaum mehr in dem zum bloßen Schwanke herabgebrachten Lustspiel und der Posse gefallen läßt.
Zwischen beiden äußersten Polen zeigen sich Keime und Ansätze einer wirklichen Gestaltung, Werke, die freilich vielfach noch den Charakter des Experiments tragen, aber den Glauben an eine Neubelebung auch unsrer dramatischen Dichtung aufrecht erhalten. Daß diese Neubelebung von der Freien Bühne (s. d.) oder der Volksbühne ausgehen wird, läßt sich in Zweifel ziehen. Versuche, wie die von Gerhard Hauptmann: »Vor Sonnenaufgang« und »Das Friedensfest«, von K. Bleibtreu: »Ein Faust der That«, »Das Halsband der Königin« (Tragikomödie),
Max Halbe: »Ein Emporkömmling«, Arno Holz und Johannes Schlaf: »Die Familie Selicke«, können Anlässe zu litterarischer Diskussion bieten, aber keine Eindrücke hinterlassen, wie sie von der Bühne auch der naturalistisch Gestimmte fordert. Man braucht deshalb noch gar nicht gering von diesen Versuchen zu denken, aber unter allen Umständen entsprechen dieselben keinem Gefühl u. Bedürfnis der Massen. Näher diesem Bedürfnis kommen offenbar schon H. Sudermann mit seinen Dramen »Die Ehre« und »Sodom« sowie Heinr. Bulthaupt mit »Der verlorne Sohn«.
Von Ernst v. Wildenbruch erschienen zwei in ihrer Stoffwahl und Behandlung so grundverschiedene Dramen, daß man in einer andern als unsrer experimentierenden Periode sie schwerlich einem und demselben Dichter zugeschrieben haben würde. Während »Der Generalfeldoberst«, ein phantastisch-historisches und patriotisches Drama aus dem Beginn des Dreißigjährigen Krieges, sich den Versuchen nähert, der historischen Dramatik lyrische Frische und lebendige Beweglichkeit durch eine neue Versbehandlung zurückzugewinnen, stellt »Die Haubenlerche« ein peinliches Stück modernen Lebens dar und ist ohne alle Frage von den Bestrebungen des Naturalismus beeinflußt.
Unter den ältern dramatischen Dichtern hat Paul Heyse mit gewohnter Unermüdlichkeit zwei neue Schau- und Lustspiele: »Ein überflüssiger Mensch« und »Gott schütze mich vor meinen Freunden«, und das Volksschauspiel »Weltuntergang« geschaffen;
von Ad. Wilbrandt erschien ein dramatisches Gedicht: »Der Meister von Palmyra«, und ganz neuerdings ein Lustspiel: »Der Unterstaatssekretär«, von O. Gensichen eine Tragödie: »Michael Ney«, von Fr. Koppel-Ellfeld ein »Albrecht der Beherzte« (Gelegenheitsdrama zum 800jährigen Jubiläum des Hauses Wettin),
von A. Weimar eine »Vittoria Accoramboni«.
Der Volksbühne, deren Existenz zur Zeit noch eine bestrittene ist, und die ein festes Heim nur in dem neuerrichteten Bühnenhaus in Worms gefunden hat, von H. von Maltzahn in der Schrift »Die Errichtung deutscher Volksbühnen« vertreten, von R. Prölß in »Das deutsche Volkstheater« bekämpft wurde, gehörten die inzwischen im Buchhandel veröffentlichten Lutherschauspiele von Otto Devrient: »Luther«, und von A. Trümpelmann: »Luther und seine Zeit«, das Schauspiel »Hutten und Sickingen« von A. Bungert, »Gustav Adolf in Erfurt« von Ottomar Lorenz an. Alle diese und ähnliche poetischen Versuche wenden sich nicht an die stehenden Theater, sondern an eine für einen bestimmten Aufführungszweck und ausschließlich für diesen zusammentretende Spielgenossenschaft, die namentlich in
mehr
kleinern Städten den kläglichen Liebhaberbühnen den Garaus machen und Ziele erreichen könnte, die immerhin bedeutend wären. Unter dieser Voraussetzung brauchte die theatralische Berufskunst die Konkurrenz dieser Volksbühne, die immer nur eine Festbühne zu sein vermochte, nicht zu fürchten, und alles käme darauf an, daß die Dichtung für diese Art der theatralischen Unterhaltung von vornherein nur in den besten Händen ruhte und die dramatische Poesie nicht etwa durch eine Folge von poetisch kraftlosen, lediglich aus Situationsbildern und lyrisch-rhetorischen Erläuterungen bestehenden Volksschauspielen gefährdet werde, die am Ende so verderblich wirken müßten wie die bloßen Fabrikate der sogen. praktischen Bühnenschriftstellerei. Von vornherein würde es nicht auszuschließen sein, daß die Volksbühne mit ihren Aufführungen in den Dienst gewisser patriotischer, religiöser und Parteitendenzen träte, eine Gefahr, die inzwischen noch lange nicht so groß ist als die des seelenlosen Schlendrians schlechter Theater.
Roman und Novelle.
Nach wie vor stehen der Roman und die Novelle im Vordergrund aller »belletristischen« Produktion in der deutschen wie in allen andern europäischen Litteraturen; aus rein äußerlichen wie innerlichen Gründen wächst die Zahl der Prosa-Epen ins Ungemessene, und die Masse entzieht sich schon längst der Beurteilung und jeder andern Gruppierung als der nach dem Umfang der einzelnen Werke. Zum Glück ist es noch immer möglich, die Darbietungen, die sich in einer oder der andern Weise über die Menge erheben, leicht zu unterscheiden, obschon die flache Alltagsbelletristik mit Zuhilfenahme der sozialen Fragen und des modischen Pessimismus einige Stufen höher zu kommen versucht, während auch die Berufenen durch eine Vielproduktion, die mehr in die Breite als in die Höhe strebt, unwillkürlich hinabgleiten.
Wenn die Prosa an sich der Gefahr schnellerer Veraltung ausgesetzt ist als die poetische Darstellung in gebundener Rede, so läuft die neueste Erzählungskunst diese Gefahr doppelt und dreifach. Im Drange, die fieberische Hast und Erregung des modernen Lebens wiederzugeben, mit neuen Reizmitteln die erschlafften Nerven der Lesewelt aufzustacheln, gelangt ein Stil voll nervöser Unruhe, voll kurzatmiger Ausrufungen, voll jäher Sprünge und übergangsloser Gegensätze zur Herrschaft, der dem Bestand und der künftigen Geltung und Wirkung selbst gehaltreicher und interessanter Werke unsrer Tage Schlimmes weissagt.
Der historische Roman droht sich mehr und mehr in den archäologischen aufzulösen, der ohne eigentlich poetische Aufgabe, ohne poetisches Motiv im engern Sinne sich die Wiedergabe entschwundener Zeiten und Zustände zur ausschließlichen Aufgabe setzt. Ein leiser Zug zur Überschätzung des historischen Hintergrundes und der wissenschaftlich belegbaren Sittenschilderung geht selbst durch ein wahrhaft poetisches Meisterwerk mit lebendiger Gestaltung und tragischer Stimmung, wie »Die Versuchung des Pescara« von K. F. Meyer, hindurch.
Von den Schriftstellern, die in einer gewissen regelmäßigen Folge historische Romane zu veröffentlichen pflegen, ließ Felix Dahn eine geschichtliche Erzählung aus dem Jahre 1000 v. Chr.: »Weltuntergang«, Ernst Eckstein »Die Numidierin«, Novelle aus dem altrömischen Afrika, W. Walloth die historischen Römerromane: »Tiberius« und »Ovid«, Georg Ebers »Josua«, eine Erzählung aus biblischer Zeit, erscheinen. Von sonstigen historischen Romanen wären »Sinkende Zeiten«, aus den Tagen des letzten Hansakriegs, von Ernst Jungmann, »Apollonia von Celle«, eine Familiengeschichte aus der Reformationszeit, von A. von der Elbe (Auguste von der Decken),
»Der tolle Christian in Paderborn«, aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges und mit katholischer Tendenz, von H. Keiter, »Die letzten Mönche vom Oybin«, aus dem 16. Jahrh., von Johannes Renatus zu nennen.
Die Romane aus der Gegenwart überwiegen die historischen nicht nur der Zahl nach. Alle Gärung und aller innere Widerspruch wie das reiche, aber verworrene äußere Leben unsrer Zeit lagert sich in einer Fülle von Romanen ab, die, bald naiv auf die überlieferte Erfindung und Kompositionsweise aufgebaut, bald auf die vergleichende Beobachtung gestützt, mannigfache Lebensbilder, aber nicht, wie der Roman früherer Tage, ein Weltbild zu geben versuchen. Kein einziger unter den zahlreichen Romanen des letzten Jahres nimmt den Anlauf, ein Weltbild aufzustellen, selbst Romanfolgen verzichten hierauf, und der Spezialismus, der das Losungswort bereits nicht mehr in der Wissenschaft allein ist, scheint sich auch der Kunst bemächtigen zu wollen.
Allerdings ist nur ein ganz geringfügiger Teil der neuesten Erzähler von einem eigentlich künstlerischen Geiste beseelt, der innerhalb des Rahmens seiner Aufgabe und seiner Begabung die Vollendung sucht und erstrebt, die Mehrzahl begnügt sich mit der Wirkung des Augenblicks und ist sich der Kurzlebigkeit ihrer Schöpfungen voll bewußt. Die poetisch wertvollsten, stimmungsreichsten und durch ihre Form eine längere Dauer verheißenden Romane erweisen sich meist als erweiterte Erzählungen. Zu diesen rechnen wir mehr oder minder: »Der eiserne Rittmeister« von Hans Hoffmann, wohl der vorzüglichste Roman des verflossenen Jahres, »Unsühnbar« von Marie Ebner-Eschenbach, von welcher Dichterin auch ein Band neuer vorzüglicher Novellen: »Miterlebtes«, erschien, die talentvollen, obschon noch allzusehr unter dem Banne der naturalistischen Doktrin stehenden Romane von Hermann Sudermann: »Der Katzensteg« und »Frau Sorge«, »Frau Minne«, Künstlerroman von Theophil Zolling, »Die Bergpredigt« von Max Kretzer, »Wahrheit« von Karl Frenzel, die beiden neuen Romane von Wilhelm Jensen: »Ein Doppelleben« und »Die Kinder vom Ödacker«, von denen besonders der letztere von den eigentümlichen Vorzügen der Jensenschen Erzählungskunst getragen erscheint, »Der Lar«, eine Oster-, Pfingst-, Weihnachts- und Neujahrsgeschichte von Wilhelm Raabe, wiederum eines jener halb humoristischen, halb elegischen Gebilde, in denen der Dichter zur Meisterschaft gediehen ist.
Eine immer wachsende Anzahl von Romanen und Novellen bezeichnet sich ausdrücklich als Berliner Geschichten oder haben, wenn sie sich nicht so bezeichnen, die Reichshauptstadt, ihre Gesellschaftskreise und Typen zum Mittelpunkt der Darstellung gemacht. Die Berechtigung wie die Gefahr des Berliner Romans liegen so auf der Hand, daß es müßig erscheint, sie immer wieder hervorzuheben. Am Ende befreit die Besonderheit des Stoffes unter keinen Umständen von den Gesetzen der Kunstgattung, und an Erfindungen und Ausführungen, die in der Reichshauptstadt spielen, lassen sich keine andern Maßstäbe anlegen als an Erzählungen überhaupt. Unter allen Schriftstellern, die im Augenblick den Berliner Roman pflegen, ist Theodor Fontane durch wahres poetisches Talent und die genaueste Kenntnis aller Zustände und Menschenklassen Berlins offenbar der berufenste, und sein kleiner Roman »Stine« überragt durch Lebendigkeit und Feinheit der Darstellung ganze Reihen von Romanen, die sich abmühen, getreue
mehr
Sittenbilder zu geben, und entweder ganz einseitig und unzulänglich sind, oder durch tendenziöse Absichtlichkeit der poetischen Wirkung völlig verlustig gehen. Zu den bessern Werken der Gattung zählen: »Dunst aus der Tiefe« von Hermann Heiberg, »Adams Söhne, Evas Töchter« von E. Vely. Daran schließen sich der durch einen Prozeß bekannt gewordene Roman »Die Alten und die Jungen« von Konrad Alberti, »Im Liebesrausch« von Heinz Tovote und zahlreiche Nachahmungen, die hier nicht aufgeführt zu werden brauchen. Ganz wohlthuend berührt es gegenüber dem Grundton fast all dieser Berliner Geschichten, wenn Jul. Rodenberg in dem kleinen humoristischen Roman »Herrn Schellbogens Abenteuer« ein Stücklein aus dem alten Berlin zum besten gibt.
Aus der großen Zahl der sonst erschienenen, nicht gerade in Berlin spielenden und doch modernen Romane seien »Der Weltfahrer« von Wolfgang Kirchbach, »Die Tochter Rübezahls« von Rud. v. Gottschall, »Tante Carldore« von Jul. Grosse, »Camilla« von Ernst Eckstein, »Zwei Ehen« von Alfred Friedmann, »Hofluft« von Nataly v. Eschstruth, »Amors Bekenntnisse« von August Niemann, »Ausgewanderte« von Mite Kremnitz, »Glück« von Oskar v. Redwitz, »Bludička«, Roman aus dem slawischen Volksleben von Ossip Schubin, »Nach uns die Sündflut« von E. A. König, »Der Mäcen« von Detlef v. Liliencron, »Des Armen Schuld« von Karl v. Weber, »Es klopft!« von Carmen Sylva, »Die Waffen nieder« von Bertha v. Suttner, »Am Kreuz«, ein Passionsroman aus Oberammergau, von Wilhelmine v. Hillern, »Nach Jahr und Tag« von Konrad Telmann hier genannt. Das Register könnte in dem Augenblick sehr vergrößert werden, in dem man die ersichtlich nur für den Bedarf der illustrierten Blätter und der Leihbibliotheken geschriebenen Romane hereinzuziehen begönne, womit noch nicht gesagt sein soll, daß alle aufgezählten Arbeiten sich weit über das Niveau bloßer Unterhaltungslitteratur und in die reinern Regionen poetischer Schöpfung erhüben.
Die Novelle ist nach wie vor eifrig gepflegt worden, und da sie sich ihrer Natur nach der raschen und im Grunde industriellen Ausbeutung widersetzt, so hat sich auf ihrem Gebiet der poetische und künstlerische Drang und Trieb lebendiger erhalten als auf dem weitern Felde des Romans. Freilich fehlt es auch in der Erzählung an einer Art der Produktion nicht, die sich mit der flüchtigen Skizze, der bloßen Andeutung begnügt, das Zeichen für die Sache setzt und sich die sinnlich anschauliche und lebendig beschreibende Ausgestaltung erläßt.
Das Bedürfnis zahlreicher Feuilletons, kurze und knappe Geschichten zu erhalten, hat auch in der deutschen Litteratur eine Gattung von Novellen ins Leben gerufen, die, den amerikanischen und englischen short stories verwandt, mehr auf litterarischen Effekt als auf Lebenswärme und Lebenswiedergabe abzielen, deren Kürze daher mit der preiswerten Kürze der echten alten Novelle in keiner Weife verwechselt werden darf. Aus der Fülle der wirklichen Novellen ragen durch echte Gestaltung und Vorzüge des Stils die »Florentiner Novellen« von Isolde Kurz, die neue Folge der »Littauischen Geschichten« von Ernst Wichert, die prächtigen beiden Sammlungen: »Zwischen Elbe und Alster« und »Bescheidene Liebesgaben«, Hamburger Novellen von Ilse Frapan, »Im Zwielicht«, zwanglose Geschichten von Hermann Sudermann hervor.
Ihnen schließen sich an: »Das Glück der Erde«, Novellen von Gottfried Böhm, »Frühlingsstimmen« von Otto Roquette, »Auf der Reise«, drei Novellen von Adolf Stern, »Gemütliche Geschichten« aus einer schweizerischen Kleinstadt von J. V. ^[Josef Viktor] Widmann, »Aus vier Dimensionen«, humoristische Novellen von O. v. Leixner, »In der Irre«, Novellen von Dito und Idem, »Neue Geschichten des Majors« von Hans Hopfen, »Sizilianische Geschichten« von Konrad Telmann.
Mit den Novellen »Eva in allerlei Gestalten« von Moritz v. Reichenbach, den »Neuen Novellen« von Hans Arnold, »Fallobst«, wurmstichige Geschichten von Heinz Tovote, »Im kühlen Grunde und andre Geschichten« von Julie Ludwig, »Menschen und Schicksale« von Fritz Lemmermayer, »Im Cölibat«, Klostergeschichten von Anton Ohorn betreten wir schon wieder zerklüftetern Boden. Dafür versetzen uns die prächtigen Märchen »Es war einmal« von Rudolf Baumbach, die feinsinnigen Skizzen »Aus dem Kleinleben« von Hermine Villinger und vollends die »Gesammelten Schriften« von Heinrich Seidel auf sichern poetischen Grund zurück, wenn eben dieser Grund auch eng umschränkt ist.
Zwischen der Dichtung und der historischen Litteratur im engern Sinne stehen jene persönlichen Erinnerungen und Schilderungen zwischen inne, die durch Gegenständlichkeit und Stimmungsfülle sich der poetischen Darstellung nähern, und deren unerreichte Muster in unsrer Litteratur Goethes »Aus meinem Leben« und »Heinrich Stillings Jugendjahre« sind und bleiben. Zu den jüngsten Erscheinungen dieser Art gehören die »Jugenderinnerungen« von Karl Gerok, das Büchlein »Aus meiner Jugendzeit« von Heinrich Hansjakob, die Erinnerungen »Aus dem Alumnat« von G. Wustmann.
Auch die »Vischer-Erinnerungen« von Ilse Frapan, die »Erinnerungsblätter aus dem Leben einer deutschen Lehrerin« von Bertha Buchwald fallen unter diese kleine Gruppe, während Gustav Freytags vielbesprochene Erinnerungsblätter »Der Kronprinz und die deutsche Kaiserkrone«, obschon aus persönlichsten Eindrücken hervorgegangen und gewiß lebendig und anschaulich genug durch das Gewicht des Stoffes und der Betrachtungen, nach der Seite der historisch-politischen Werke hinüberneigen.
Geschichte, Biographie, Litteraturgeschichte etc.
Das Gebiet der historischen Litteratur, soweit dieselbe über die bloße Forschung und kritische Spezialuntersuchung hinaus der Nationallitteratur im engern Sinne angehört und sich an das große gebildete, nicht an das Publikum der Fachgenossen wendet, hat wie in den vorhergehenden Jahren beträchtlichen Zuwachs erfahren. Das große zeitgeschichtliche Werk Heinrich v. Sybels: »Die Begründung des Deutschen Reiches durch Kaiser Wilhelm I.«, ist bis zum fünften Bande und damit bis zur kriegerischen Katastrophe des Jahres 1866 und der ersten Neuordnung der deutschen Verhältnisse durch die Verfassung des Norddeutschen Bundes vorgeschritten und hat den gewaltigen Anteil des ehernen Kanzlers, des Fürsten Bismarck, an Deutschlands Neuaufrichtung noch viel klarer und zusammenhängender überschauen lassen, als es bis dahin möglich war.
Auf ein außerordentliches Material unmittelbarer Zeugnisse und Urkunden gestützt, geistvoll übersichtlich geordnet und durchgeführt, nahm und nimmt die Sybelsche Darstellung die Teilnahme aller Deutschen der Gegenwart aufs stärkste in Anspruch und ist von jenem frischen Hauch des persönlichen Miterlebens, der Miterfahrung durchweht, der sich meist nur bei Geschichtschreibern ihrer eignen Zeit findet. Von allgemeiner Wichtigkeit und Bedeutung reihen sich die »Erinnerungen aus dem Leben des Generalfeldmarschalls Hermann v. Boyen«, persönliche Erinnerungen von bedeutendstem Gehalt,
mehr
Zeugnisse aus den Zeiten der Napoleonischen Fremdherrschaft und des Befreiungskriegs, dem Buche über die zeitgenössische Geschichte unmittelbar an. Von den vielgenannten »Denkwürdigkeiten« des Grafen K. F. von Vitzthum erschien der letzte Teil unter dem Separattitel: »London, Gastein und Sadowa«; von den Erinnerungen Herzog Ernsts II. von Sachsen-Koburg-Gotha »Aus meinem Leben und meiner Zeit« ward der dritte Band veröffentlicht, ohne indessen den Erwartungen in dem Maße Rechnung zu tragen wie die Anfänge des interessanten Werkes. Als ein interessanter Beitrag zur Geschichte der 30er und 40er Jahre trat der erste Band der »Lebenserinnerungen« von Julius Fröbel, dem bekannten Führer der deutschen Demokratie im Jahre 1848, hervor.
Die Säkularfeier der französischen Revolution ist nicht ohne einige bedeutende litterarische Erscheinungen vorübergegangen. Ein neues, auf das beste und mannigfach neues Material gegründetes Werk: »Das Leben Mirabeaus«, von Alfred Stern gehört zu den besten Monographien, die wir deutscherseits über Menschen oder Zustände der Revolutionsperiode besitzen. Als interessante Studie verdient das Buch »Die konservativen Elemente Frankreichs am Vorabend der Revolution« von Eugen Guglia hervorgehoben zu werden. Als Bruchstück und Probe einer beabsichtigten größern so anschaulichen wie eingehenden Geschichte der großen Umwälzung erschien aus dem Nachlaß des Freiherrn Ernst von Stockmar »Ludwig XVI. und Marie Antoinette auf der Flucht nach Montmedy«, eine Episode, die lebhaft beklagen läßt, daß der Verfasser das Werk nicht ausführen konnte.
Von historischen Werken, die wert und fähig sind, ein größeres gebildetes Publikum zu fesseln, sei zunächst die groß angelegte »Deutsche Geschichte im Zeitraum der Gründung des preußischen Königtums« von Hans v. Zwiedineck-Südenhorst hervorgehoben. In gedrängter Fassung und populärem Ton, aber tüchtig und selbständig schrieb Otto Kämmel eine übersichtliche »Deutsche Geschichte«. Hierher gehören ferner die Werke von Richard Schück: »Brandenburg-Preußens Kolonialpolitik unter dem Großen Kurfürsten«, und von C. Grünhagen: »Schlesien unter Friedrich dem Großen«;
etwas ferner liegende Stoffe behandelten Markus Landau in »Geschichte Karls VI. als König von Spanien« und Fritz Honig in »Oliver Cromwell«.
Zur Geschichte der Gegenwart führen wieder Kecks »Leben des Generalfeldmarschalls E. v. Manteuffel«, G. v. Natzmers »Kaiser Wilhelm I., die Prinzeß Elise Radziwill und die Kaiserin Augusta« und H. v. Poschingers »Ein Achtundvierziger. Lothar Buchers Leben und Werke«. Mehr kulturgeschichtlichen Gepräges und Wertes waren das interessante Buch von Ludwig Laistner: »Das Rätsel der Sphinx«, Grundzüge einer Mythengeschichte;
ferner die Bücher von Ludwig v. Hörmann: »Die Jahreszeiten in den Alpen«, Bilder aus dem Natur- und Volksleben;
F. A. Stocker: »Basler Stadtbilder«, Schilderungen alter Häuser und Geschlechter;
Albert Borchert: »Das lustige alte Hamburg«, und K. Rhamm: »Dorf und Bauernhof im altdeutschen Lande«.
Eine umfassendere, von andern Gesichtspunkten ausgehende Übersicht der in den letzten Jahren erschienenen Geschichtswerke gibt der besondere Artikel Historische Litteratur.
Unter den neu veröffentlichten Briefen und Briefwechseln fand sich neben einzelnem Unbedeutenden, dessen Hervorziehen auf der falschen Voraussetzung beruht, daß alles Material zur Geschichte bedeutender Zeiten und Menschen im ganzen Umfang der Nachwelt vermittelt werden müsse, doch auch sehr Wertvolles. Die Herausgabe der Briefe des Fürsten Bismarck: »Bismarcks politische Briefe von 1849 bis 1889«, ist natürlich als eine durchaus vorläufige anzusehen, die ihre entscheidende Ergänzung in späterer Zeit finden muß.
Auf dem Gebiet der Litteratur- und Kunstgeschichte waren die von der Goethe-Gesellschaft herausgegebenen »Briefe von Goethes Mutter an ihren Sohn, Christiane und August v. Goethe« die wichtigste Erscheinung. Gleichfalls als Veröffentlichung der Goethe-Gesellschaft erschien das von Otto Harnack herausgegebene Buch »Zur Nachgeschichte der italienischen Reise«, Goethes Briefwechsel mit Freunden und Kunstgenossen in Italien 1788-90. Diesen Goethebriefen schlossen sich »Friedrich Schlegels Briefe an seinen Bruder August Wilhelm«, herausgegeben von O. Walzel, die »Briefe von Jakob und Wilhelm Grimm an Georg Fr. Benecke, 1808-29« an. Der »Briefwechsel zwischen Rauch und Rietschel« ward mit dem zweiten Bande zu Ende geführt, der »Briefwechsel zwischen Moritz v. Schwind und Eduard Mörike« durch Jakob Bächtold mitgeteilt. Von tieferm Gehalt und seltner Originalität erscheint der »Briefwechsel Friedrich Hebbels«, den Fr. Bamberg herausgibt, und von dem der erste Teil hervortrat.
Die Zahl der litteraturgeschichtlichen Werke war wie immer groß, allein nur ein kleiner Teil derselben kann nach Stoff und Ausführung Anspruch auf die Teilnahme andrer als der engsten Fachkreise erheben. Eine neue »Allgemeine Geschichte der Litteratur« begann G. Karpeles, eine vortreffliche »Geschichte der deutschen Litteratur in der Schweiz« Jakob Bächtold, eine gedrängte Darstellung der neuesten deutschen Litteratur: »Die deutsche Nationallitteratur vom Tode Goethes bis zur Gegenwart«, von der schon zwei Auflagen vorliegen, schrieb Ad. Stern. - Zur Geschichte der klassischen Epoche der deutschen Litteratur dienen die fortgeführten umfassenden Schiller-Biographien von O. Brahm und R. Weltrich; ferner die umfassende Zusammenstellung und Aneinanderreihung von »Goethes Gesprächen« durch W. v. Biedermann.
Das Buch »Wieland und Reinhold. Originalmitteilungen als Beiträge zur Geschichte des deutschen Geisteslebens im 18. Jahrhundert« von Robert Keil ist hauptsächlich durch die Briefe Wielands wichtig. Die Sammlung der »Goetheschriften« von Kuno Fischer gedieh bis zum dritten Teile. Von Berthold Litzmann wurden zwei interessante und gehaltreiche Werke in »Friedrich Ludwig Schröder«, Beitrag zur deutschen Litteratur- und Theatergeschichte, und »Friedrich Hölderlin« veröffentlicht.
Von Schriften zur Geschichte der neuern und neuesten deutschen Litteratur waren einige autobiographische die wichtigsten. In erster Reihe steht hier »Finder und Erfinder«, Lebenserinnerungen von Friedrich Spielhagen. Auch »Aus bewegtem Leben«, Erinnerungen aus 30 Kriegs- und Friedensjahren von Hans Wachenhusen, fesselt durch die bunte Mannigfaltigkeit der Erlebnisse des Verfassers. Ein umfassendes Lebensbild: »Gustav Kühne«, von Edgar Pierson, gründet sich hauptsächlich auf den Briefwechsel des jungdeutschen Schriftstellers mit berühmten Zeitgenossen. Diesen wichtigern Büchern reihen sich die Schriften: »Aus dem Leben Karl Böttichers« von Clarissa Lohde-Bötticher, »Katholische Erzähler der neuesten Zeit« von H. Keiter, »Aus der Heimat Hamerlings« von Joseph Allram, »Richard Gosche, Erinnerungsblätter für seine Freunde«, »Richard Wagner und die Tierwelt« von Hans von Wolzogen an. Die biographischen und polemischen Schriften, die in dem Streite über die Autorschaft der Romane Alfred
mehr
Meißners zwischen dem anklagenden Franz Hedrich und den Freunden Meißners, Robert Byr u. a., ausgetauscht wurden, waren so unerquicklich als nur je ein Kapitel in der Geschichte des Verfalls einer Litteratur.
Von allgemeinerer Bedeutung waren Werke wie »Der deutsche Roman« von Karl. Rehorn, »Der moderne Roman« von Hellmuth Mielcke und »Die Dramaturgie des Schauspiels« von Heinrich Bulthaupt, die in ihrem zweiten Teile Grillparzer, Hebbel, Ludwig, Gutzkow und Laube behandelte. Ein größeres Werk von R. M. Werner: »Die lyrische Dichtung«, versuchte einem seither unbebautem Felde der ästhetischen Untersuchung reichere Ernten abzugewinnen.
An Untersuchungen und Darstellungen auch der außerdeutschen Litteraturgeschichte hat es auch im vorigen Jahre nicht gefehlt. Von A. Birch-Hirschfeld ward der erste Teil einer umfassenden »Geschichte der französischen Litteratur seit Anfang des 16. Jahrhunderts«, von Adolf Schaeffer eine neue »Geschichte des spanischen Nationaldramas« in der Periode Lope de Vegas und Calderons geschrieben. Der Gegenwart und ihren allzusehr auf das eigne Leben gewendeten Interessen näher stand ein Buch wie »Naturalismus, Nihilismus, Idealismus in der russischen Dichtung« von Erwin Bauer.
Gehaltvolle und formell abgerundete Versuche (Essays) traten hervor in den Sammlungen »Fünfzehn neue Essays« (vierte Folge) von Hermann Grimm, »Von und aus Schwaben, Geschichte, Biographie und Litteratur« von Wilhelm Lang, mit dem 7. Bändchen nunmehr abgeschlossen; »Pandora«, vermischte Schriften von Ad. Fr. Graf Schack, »Vorträge und Versuche« von Ludwig Geiger, »Gespräche und Monologe«, vermischte Schriften von Ad. Wilbrandt, die sich sämtlich an ein Publikum der Bildung und des allgemeinen Interesses für litterarische und künstlerische Erscheinungen wenden, ein Publikum, das sich leider eher mindert als vergrößert.
Diejenige Reiselitteratur, die der schönen Litteratur hinzugezählt werden muß, da sie weder eine wissenschaftliche noch eine praktische Bedeutung beanspruchen kann, aber lebendige und unterhaltende Schilderungen gibt, hat gleichfalls eine Reihe von Bereicherungen gefunden. Am glücklichsten und fesselndsten waren hier wohl die Skizzen »Aus dem Orient« von Paul Lindau, flüchtige Aufzeichnungen von großem Reiz und scharfem Blick für alles, was den Verfasser besonders interessiert.
Hierher gehören ferner die Bilder und Skizzen »Aus dem Oldenburger Lande« von F. Bucholtz, »Eine Maienfahrt durch Griechenland« von Georg Behrmann, die anschaulichen und abenteuerlichen Fahrten des Spezialartisten der »Gartenlaube«, R. Cronau: »Aus dem wilden Westen«, »Russische Wanderbilder« von Alfred Charpentier, und die Reisebriefe »Von Kiel bis Samoa« des Obermatrosen Adolf Thamm, der bei der Katastrophe der deutschen Schiffe in Samoa beim Untergang des Kanonenboots Eber seinen Tod fand.