Deszendenz
theorie
(Abstammungslehre, Umwandlungs- [Transformations- oder Transmutations-] Theorie), die Lehre, [* 2] daß die Lebewesen nicht seit jeher in der Gestalt, welche sie heute zeigen, existiert haben, sondern von anders gestalteten und in der Regel einfacher organisierten Wesen abstammen, so daß die höhere Organisation einzelner Gruppen als erst im Lauf der Zeiten ausgebildet betrachtet wird. Ähnlich klingende Ansichten sind schon im Altertum von Empedokles, Anaximandros und andern Philosophen ausgesprochen worden, in den letzten Jahrhunderten haben mancherlei Theologen und Naturforscher (die erstern, um die Arche Noah zu entlasten) die Ansicht ausgesprochen, daß wenigstens die einzelnen Arten einer Gattung, z. B. alle Mitglieder des Geschlechts der Katzen, [* 3] Papageien, Weiden etc., von einer gemeinsamen Urform abstammen möchten und zum Teil klimatische Varietäten der Urform sein könnten. Im vorigen Jahrhundert neigten Buffon und Goethe (der letztere im Anschluß an seine Metamorphosenlehre) diesen Ansichten zu, aber erst Erasmus Darwin (gest. 1802) brachte die Lehre in ein System, indem er meinte, einige wenige Urwesen könnten durch Selbstzeugung entstanden sein und hätten sich dann im Laufe vieler Generationen allmählich zu höhern Formen entwickelt.
Als die Umwandlung befördernde
Faktoren sah er bereits die
Ausbildung der
Gliedmaßen durch Gebrauchswirkung
sowie die geschlechtliche
Zuchtwahl (s.
Darwinismus) an und erklärte auch bereits die rudimentären
Gliedmaßen
in dem heutigen
Sinn als Überreste bei der Umwandlung außer
Gebrauch gesetzter
Gliedmaßen.
Jean
Lamarck, der gewöhnlich als der Begründer
der Deszendenz
theorie angesehen wird, hat nur, wenn auch mit großem
Scharfsinn, die Grundgedanken des ältern
Darwin
weiter ausgeführt, indem er namentlich die
Anpassung der Lebewesen an neue Lebensbedingungen und die
Wirkung des
Gebrauchs
und Nichtgebrauchs der
Gliedmaßen zur Grundlage seines zuerst 1809 in der
»Philosophie zoologique« ausführlicher dargelegten
Systems machte und dasselbe bis zu seiner letzten
Konsequenz, der Abstammung des
Menschen, ebenso wie
Goethe
und E.
Darwin, verfolgte.
Ähnliche Ansichten wurden auch von den Begründern der sogen. naturphilosophischen Schule in Deutschland, [* 4] namentlich von Oken, Treviranus, Schelling u. a., vertreten, obwohl diese mehr an eine planmäßige Entwickelung durch einen in den Lebewesen liegenden Drang nach höherer Vollendung dachten und sich dabei an die Ergebnisse des Studiums der Entwickelungsgeschichte [* 5] (s. d.) anlehnten, wobei sie z. B. die niedern Tiere wie Embryonalformen oder Hemmungsbildungen des Menschen als Urziel der Entwickelung ansahen.
Diese Form der Deszendenz
theorie wird auch gelegentlich als
Evolutionstheorie in neuerm
Sinn bezeichnet. Eine noch andre Form wurde der Deszendenz
theorie durch
Etienne
Geoffroy de
Saint-Hilaire gegeben, welcher meinte, die Weltentwickelung (le monde ambiant) und die
mit derselben gegebene Veränderung der äußern Umstände, des sogen.
Mittels, hätten den Hauptanteil an der Fortbildung
der
Wesen zu höhern
Formen gehabt.
Alle diese
Theorien hatten keinen durchgreifenden Erfolg, diejenigen von
Erasmus
Darwin und
Lamarck wurden von den exakten Naturforschern kaum beachtet; die
Ansichten
Geoffroys de
Saint-Hilaire wurden
in erbitterter
Weise durch
Cuvier als Vertreter des Konstanzdogmas bekämpft, während die naturphilosophische
Schule in
Deutschland
namentlich durch E. v.
Baer widerlegt wurde.
Obwohl vor einigen Jahrzehnten die
Wahrheit der Deszendenz
theorie durch den Verfasser der »Vestiges of
creation« und durch
Louis
Büchner von neuem verteidigt wurde, blieben doch alle diese
Versuche erfolglos,
bis
Darwin und
Wallace in der natürlichen
Zuchtwahl ein mechanisches
Prinzip nachwiesen, durch welches das Fortschreiten der
Wesen verständlich wird. Die Darwinsche
Theorie (s.
Darwinismus) ist die einzige Form der Deszendenz
theorie, die sich bis heute lebensfähig
erwiesen hat, und einige derselben in neuerer Zeit entgegengestellte
Theorien, wie z. B. die der Heterogenesis
oder sprungweisen
Entwickelung
Köllikers, haben so gut wie keine Beachtung gefunden. Die ältere Geschichte der Deszendenz
theorie findet
man bei
Krause,
Erasmus
Darwin (Leipz. 1880), die neuere in
Häckels »Schöpfungsgeschichte« (7. Aufl.,
Berl. 1879). In Bezug auf
Goethes
Verhältnis zur Deszendenz
theorie vgl.
Kalischer,
Goethes
Verhältnis zur
Naturwissenschaft
(Berl. 1878). Vgl.
Evolutionstheorie.