Delphi
(griech. Delphoi), kleine, aber wegen ihres berühmten
Orakels wichtige Stadt
Griechenlands, in
Phokis am Parnaß,
lag in einer
Höhe von 700 m auf einer halbkreisförmigen Berglehne unterhalb zweier steil abstürzender
Felswände (Phädriaden und Hyampeia genannt), ringsum von einer großartigen, feierlich-ernsten
Natur umgeben. Am
Fuß der
Hyampeia entspringt die
Kastalische Quelle, die im
Altertum einen Lorbeerhain tränkte und dann durch Delphi
zum
Fluß Plistos herunterfloß.
Der oberste Teil der amphitheatralisch aufsteigenden Stadt enthielt innerhalb einer Umfassungsmauer den großen Apollontempel, den eigentlichen Sitz des Orakels, nebst mehreren kleinern Tempeln, Priesterwohnungen, Thesauren (Schatzhäusern zur Aufbewahrung der Weihgeschenke) etc. Auch das Theater, [* 2] die Lesche der Knidier, eine Art Herberge, geschmückt mit berühmten Wandgemälden des Polygnot (Darstellungen aus dem trojanischen Sagenkreis), ferner das Grabmal des Neoptolemos, die Stoa der Athener, das Buleuterion (Rathaus) u. a. befanden sich hier.
Der älteste
Name von Delphi
, der schon bei
Homer vorkommt, war
Pytho, weil
Apollon
[* 3] dort den
Drachen
Python erlegt und dadurch den
Anbau möglich gemacht hatte. Vor
Apollon wurden andre
Götter
(Gäa,
Themis,
Poseidon)
[* 4] hier verehrt.
Der Apollontempel selbst
war, nachdem ein älterer
Bau 548
v. Chr. abgebrannt war, durch den
Baumeister Spintharos aus
Korinth
[* 5] besonders
auf
Kosten des reichen athenischen
Geschlechts der
Alkmäoniden prachtvoller denn zuvor aufgebaut und 478 vollendet worden.
Er war im dorischen
Stil aufgeführt und auf allen Seiten mit Bildwerken reich verziert. Am Eingang fiel der
Blick auf
Sprüche
der
sieben Weisen, als:
»Erkenne dich selbst«,
»Nichts zu sehr« u. a. Die
Cella des
Tempels umschloß außer
einer Apollonstatue den
Omphalos (Erdnabel), einen kegelförmigen
Block von weißem
Marmor, der als der
Mittelpunkt der
Erde galt;
dahinter, im
Opisthodom, befand sich die eigentliche Orakelstätte, ein Erdschlund, aus welchem ein kalter, angeblich begeisternder
Luftzug emporstieg.
Über demselben stand ein kolossaler eherner
Dreifuß mit einem Sitz für die Priesterin
(Pythia). Die Oberleitung des
Orakels
befand sich in den
Händen von fünf Hauptpriestern, die durchs
Los aus gewissen
Familien Delphis
auf Lebenszeit gewählt wurden
und großen Einfluß auf die Orakelsprüche hatten. Die
Pythia mußte über 50 Jahre alt, von ehrlicher
Herkunft und in ihrem Lebenswandel unbescholten sein; auch trug sie jungfräuliche
Kleidung. Übrigens durften nur
Männer
das
Orakel befragen, und jeglicher mußte vorher beten und opfern.
Durch Fasten, einen Trunk aus der Quelle [* 6] Kassotis und Kauen von Lorbeerblättern vorbereitet, begab sich sodann die Pythia ins Adyton und bestieg nach mancherlei geistaufregenden Vorbereitungen den lorbeergeschmückten Dreifuß. Allmählich brachte sie der aufsteigende Luftzug in Ekstase, und unter krampfhaften Zuckungen stieß sie einzelne Worte aus, welche der neben ihr stehende Priester (der Prophetes) auffing und, zu einem Spruch ausgeführt, dem Fragenden verkündete.
Die Orakelsprüche waren, wie das in der Natur der Sache lag, meist rätselhaft und verschiedener Auslegung fähig. In älterer Zeit wurden sie in poetischer Form gegeben, später mußte Prosa genügen. Übrigens war die ganze Umgebung der Stadt voll von geweihten Stätten und Erinnerungen und dem Volk ein Heiligtum sowie der Schauplatz hoher Feste (die pythischen Agonen). In zahlloser Menge prangten hier unter dem Schutz des Gottes die Meisterwerke der Kunst, die Kostbarkeiten und frommen Weihgeschenke der Völker, der Städte und der Könige.
Als Entdecker des delphi
schen
Orakels nennt die
Sage den
Hirten Koretas, der, durch seine
Ziegen aufmerksam gemacht, in den Erdschlund
sah. Die erste
Gründung eines Heiligtums
zu D. wird auf die benachbarte Stadt
Krisa, eine kretische
Kolonie,
zurückgeführt, unter deren Oberherrschaft Delphi
in der
Folge stand.
Da es eine dorische
Gründung war, so breitete sich sein
Ansehen besonders durch die
dorische Wanderung (1104
v. Chr.) aus.
Mittelpunkt einer großen hellenischen Amphiktyonie, welche
besonders nord- und mittelgriechische
Staaten umfaßte, und deren Vertreter
(Hieromnemonen) jährlich zweimal
sich versammelten, ward das delphische
Heiligtum ein Hauptfaktor der
Entwickelung und Verbreitung des
Hellenismus.
Lange Zeit
hindurch wirkte es fast bei jedem wichtigen Ereignis, bei jedem Unternehmen von höherer Bedeutung mit; die Wirren des öffentlichen
und privaten
Lebens, die
Anordnungen der Gesetzgeber und die gottesdienstlichen Einrichtungen unterlagen
seiner
Entscheidung. Auch die Wiederherstellung und feste Einrichtung der
Olympischen Spiele durch Lykurg und
Iphitos wurde
unter delphi
schen
Auspizien vorgenommen. Die
Pythia war
¶
mehr
eine religiös-politische und selbst sittlich-wirksame Macht, von der die größten Dichter, namentlich Pindar, Äschylos und
Sophokles, mit hoher Ehrfurcht sprechen, und an welche von allen Seiten feierliche Gesandtschaften abgingen, Rat, Aufklärung
und Verhaltungsmaßregeln begehrend. Schon die Alten sammelten die Sprüche des Orakels, und noch jetzt besitzen wir deren genug,
um die vielseitige Wirksamkeit des Instituts zu erkennen. Aber auch im Ausland war das delphische
Heiligtum
ein mächtiges Organ für die Verbreitung des Hellenismus, teils durch die zahlreichen Kolonien, welche auf des Gottes Befehl
die Griechen nach Kleinasien, Italien,
[* 8] Sizilien,
[* 9] Afrika
[* 10] etc. sandten, teils durch die Verbindung, in welche fremde Völker
und Herrscher (Gyges, Krösos, Tarquinius Superbus) mit dem Orakel traten.
Die Oberherrschaft Krisas über die Stadt und das Heiligtum dauerte noch lange nach der dorischen Wanderung fort, bis der Mißbrauch
derselben zu einem Kriege gegen die Krisäer führte, der 586 mit der Zerstörung der Stadt endigte. Das Gebiet derselben ward
eingezogen und dem Gott als Eigentum gegeben, die Einwohnerschaft zu Tempelsklaven gemacht. Delphi
wurde dadurch selbständiger;
der dortige Rat bestand aus den Mitgliedern der delphi
schen Adelsfamilien. Doch hatte Delphi öfters mit den Phokern Streitigkeiten,
so 447, wo Perikles die Phoker unterstützte, während Delphi
von Sparta Hilfe erhielt.
Hatte noch zur Zeit der Perserkriege das Orakel den wohlthätigsten Einfluß auf das Zusammenhalten der
Griechen gegen den Nationalfeind geübt, so begann mit dem Peloponnesischen Krieg, mit der wachsenden Aufklärung und dem religiösen
Indifferentismus sein Verfall. Die Delphier
selbst übervorteilten die zuströmenden Fremden und dienten in den politischen
Wirren der die meisten Vorteile versprechenden Partei, meist die Zerwürfnisse fördernd, statt zu versöhnen
und zu vereinigen. Im Peloponnesischen Krieg finden wir den pythischen Apollon auf der Seite der Peloponnesier als der Kontinentalmacht,
weshalb Perikles die Athener gegen ihn einzunehmen suchte.
Später war aus einem ähnlichen Grund Epaminondas des Gottes Gegner. Die Eingriffe der Phoker in die Rechte der
Stadt und des Heiligtums, die darauf folgenden Heiligen Kriege mit der Plünderung des Tempels durch die phokischen Feldherren
Philomelos, Onomarchos und Phaläkos (355-346) beschleunigten das Sinken Delphis
und boten zugleich dem König Philipp von
Makedonien eine willkommene Veranlassung, sich in die Amphiktyonie einzudrängen und das Patronat des Orakels
an sich zu reißen.
Ein neuer Glücksstern schien für Delphi
aufzugehen, nachdem 279 wie durch ein Wunder die Macht der Gallier unter Brennus in der
unmittelbaren Nähe des Heiligtums (wie 480 die der Perser) zurückgescheucht worden war. Sulla und Nero durften jedoch später
ungestraft die damals noch vorhandenen delphi
schen Kunstschätze wegschleppen. Erst seit Hadrian begann
mit der neubelebten Achtung vor Griechenlands Kunst, Religion und Litteratur auch wieder eine bessere Zeit für Delphi
, eine zweite
und letzte Blüte,
[* 11] deren beredter Zeuge Plutarch ist.
Mit dem Untergang des hellenischen Heidentums schließt dann auch die Geschichte Delphis.
Von den Kirchenvätern angegriffen,
von den Neuplatonikern verteidigt, von Konstantin d. Gr. für sein Konstantinopel
[* 12] geplündert, zuletzt noch von Julianus vor
seinem Zug
nach Persien
[* 13] befragt, wurde das Orakel von Theodosius d. Gr. gegen Ende des 4. Jahrh. für erloschen
erklärt und geschlossen. An der Stelle des alten Delphi
liegt jetzt ein ärmliches, von Albanesen bewohntes
Dorf,
Kastri.
Von dem prachtvollen, oftmals geplünderten Apollontempel sind noch Reste des Unterbaues vorhanden, auch sonst zahlreiche Trümmer: Mosaikfußboden, Säulenreste, Sarkophage etc.;
am besten erhalten ist eine halb in Felsen gehauene Rennbahn.
Die Kastalische Quelle sprudelt noch immer in ihr altes Bassin.
Vgl. Hüllmann, Würdigung des delphi
schen Orakels (Bonn
[* 14] 1837);
Götte, Das delphische Orakel in seinem politisch-religiösen und sittlichen Einfluß auf die Alte Welt (Leipz. 1839);
Döhler, Die Orakel (Berl. 1862);
A. Mommsen, Delphika (Leipz. 1878).