(lat., Völkerschaft), ein nach Abstammung und Geburt, nach Sitte und Sprache
[* 4] zusammengehöriger
Teil der Menschheit; Nationalität, die Zugehörigkeit zu diesem. Nach heutigem deutschen Sprachgebrauch decken sich die Begriffe
Nation und Volk keineswegs, man versteht vielmehr unter »Volk« die unter einer gemeinsamen Regierung vereinigten Angehörigen eines
bestimmten Staats. Wie sich aber die Bevölkerung
[* 5] eines solchen aus verschiedenen Nationalitäten zusammensetzen kann, so können
auch umgekehrt aus einer und derselben Nation verschiedene Staatswesen gebildet werden.
Denn manche Nationen, und so namentlich die deutsche, sind kräftig genug, um für mehrere Staatskörper Material zu liefern.
Das Wort Nation bezeichnet, wie Bluntschli sagt, einen Kulturbegriff, das Wort »Volk« einen Staatsbegriff. Man kann also z. B. sehr
wohl von einem österreichischen Volk, nicht aber von einer österreichischen Nation sprechen. Zu beachten
ist ferner, daß nach englischem und französischem Sprachgebrauch der Ausdruck Nation gerade umgekehrt das Staatsvolk (die sogen.
politische Nationalität) bezeichnet, während für die Nation im deutschen Sinn des Wortes, für das Naturvolk (die sogen. natürliche
Nationalität), die Worte Peuple (franz.) und People (engl.) gebräuchlich sind.
In demBegriff der Nation liegt das Bewußtsein der gemeinsamen Abstammung und das Bewußtsein der Zusammengehörigen überhaupt:
das Nationalgefühl. Ebendieses nationale Selbstbewußtsein ist es aber, welches zugleich den Gegensatz zwischen der einen
und der andern Nation hervortreten läßt. Kann zudem eine Nation auf eine große Vergangenheit zurückblicken,
oder nimmt sie unter den verschiedenen Nationen eine
besonders hervorragende Stellung ein, so steigert sich das Nationalgefühl
zum Nationalstolz, während sich jener Gegensatz zwischen verschiedenen Nationalitäten zuweilen bis zum Nationalhaß verschafft.
Mit dem Nationalgefühl steht der nationale Selbsterhaltungstrieb im Zusammenhang; darum gilt jeder Nation die Nationalfreiheit
als höchstes Gut, und die Nationalehre verbietet ihr die freiwillige Unterwerfung unter eine andre Nation. Aus
demselben Grund ist auch jede Nation auf die Erhaltung ihrer nationalen Eigentümlichkeiten bedacht, vor allem auf die der Nationalsprache,
denn auf dieser beruht zumeist das Wesen der Nation, und sie ist es, welche die Stammesgenossen am engsten
verbindet.
Dazu kommt bei den Kulturvölkerschaften eine gemeinsame Nationallitteratur, in welcher die Nationalsitte ihren besten Ausdruck
findet. Denn wie die Ausdrucksweise jeder Nation, d. h. ihre Sprache, eine besondere ist, so pflegt es auch ihre Anschauungs- und
Auffassungsweise auf dem sittlichen Gebiet, der Nationalcharakter, zu sein. Am leichtesten wird natürlich
einer Nation die Erhaltung ihrer Selbständigkeit dann werden, wenn sie allein ohne anderweite nationale Elemente einen Staat bildet,
und ebendieser Staat wird sich durch besondere Stetigkeit und Festigkeit
[* 6] auszeichnen, weil er eine natürliche Grundlage hat.
Jedenfalls ist es für einen Staat von großer Bedeutung, wenn eine Hauptnationalität die Basis desselben
bildet. Sind aber in einem Staatswesen verschiedene Nationalitäten vereinigt, so können für die politische Behandlungsweise
derselben folgende Systeme zur Anwendung kommen:
1) das System der Unterdrückung, welches z. B. von Rußland der polnischen Nation gegenüber
befolgt worden ist;
2) das System der Verschmelzung, das altrömische und das französische System;
3) das System der Gleichberechtigung der verschiedenen Nationalitäten, auch wohl das deutsche System genannt,
welches aber auch in der Schweiz
[* 7] mit bestem Erfolg angewendet worden ist. Verwerflich war dagegen die Art und Weise, wie dieses
System früher zum Zweck der Erhaltung der österreichischen Monarchie von österreichischen Staatsmännern, namentlich von Metternich,
lange Zeit hindurch zur Anwendung gebracht worden ist, indem hier die einzelnen Nationalitäten gegeneinander
aufgereizt und die eine durch die andre in Schach gehalten wurden.
Das politische Leben der Neuzeit hat die Bildung nationaler Staaten besonders begünstigt. Dies zeigt sich nicht nur in dem
erfolgreichenStreben der in verschiedene Staaten zersplitterten Nationen nach einem einheitlichen Staatswesen,
wie dies namentlich in Italien
[* 8] und Deutschland
[* 9] der Fall war, sondern auch in den Bestrebungen verschiedener zu einem gemeinsamen
Staatskörper vereinigte Nationalitäten nach politischer Selbständigkeit, wie in Österreich-Ungarn.
[* 10]
Man hat es sogar geradezu als ein politisches Prinzip hingestellt, daß jede Nation es als ihr Recht beanspruchen
könne, einen besondern Staat zu bilden (Nationalitätsprinzip). Allein dieser Grundsatz kann in seiner radikalen Auffassung
und Ausführung, wie ihn Napoleon III. zur Grundlage seiner Politik erhoben hatte, nicht gutgeheißen werden. Denn nicht jede
Nation hat die Kraft,
[* 11] einen lebensfähigen Staat zu bilden, und umgekehrt sind manche Nationen kräftig und
vielseitig genug, um die Grundlage für verschiedene Staaten abgeben zu können. Daß übrigens Napoleon III. das Nationalitätsprinzip
zumeist nur als Mittel zur Erreichung selbstsüchtiger Zwecke¶
mehr
benutzt hat, geht am besten aus seiner Handlungsweise Mexiko
[* 13] gegenüber sowie aus der Annexion von Savoyen und Nizza,
[* 14] welche
zu diesem Prinzip im direkten Gegensatz standen, hervor. Immerhin muß aber die nationale Theorie, wonach der Staat auf wesentlich
nationaler Grundlage beruhen soll, freilich mit der gehörigen historischen Einschränkung, dem einseitigen
Festhalten an dem sogen. Legitimitätsprinzip (s. d.)
und der Gleichgewichtstheorie des WienerKongresses gegenüber als ein wichtiger Fortschritt in der Entwickelung des politischen
Völkerlebens bezeichnet werden.