Darwinismus
(Darwinsche Theorie), dasjenige naturphilosophische System, welches Charles Darwin zur Erklärung des Naturlebens in seinem Zusammenhang aufgestellt hat, und welches gegenwärtig von der überwiegenden Mehrzahl der jüngern Naturforscher als die beste bisher gegebene Erklärung der Rätsel des Lebens betrachtet wird. Die Darwinsche Theorie gipfelt in Beweisen für die sogen. Abstammungs- oder Deszendenztheorie (s. d.), die durch sie erst zu dem Rang einer annehmbaren Theorie erhoben wurde. Seit dem Erscheinen des grundlegenden Werkes über die »Entstehung der Arten« (1859) hat dieses System durch seinen Urheber selbst wie durch andre und namentlich durch deutsche Forscher bedeutend an Zuwachs und Festigkeit [* 2] des Gefüges gewonnen, wovon wir nachstehend nur kurz die Umrisse andeuten können.
Die Grundlagen des Darwinismus
bilden die drei Erfahrungsthatsachen der Veränderlichkeit, der Vererbungsfähigkeit
und der
Überproduktion der Lebewesen. Gegenüber dem
Linné-Cuvierschen
Dogma von der
Konstanz
[* 3] der
Arten zeigte
Darwin zunächst
durch sein auf der
Reise um die
Welt und durch langjährige
Beobachtung auf dem Gebiet der Züchtung gewonnenes
und außerordentlich reichhaltiges
Material, daß die Veränderlichkeit oder das Variationsvermögen der
Pflanzen und
Tiere
viel weiter gehe und eine viel weiter tragende
Thatsache sei, als man bisher geglaubt.
Die tägliche Erfahrung ergibt, daß die zu einer sogen. Art gerechneten Individuen einander ebensowenig jemals absolut gleichen wie die Glieder [* 4] einer menschlichen Familie, daß sie vielmehr in größerm oder geringerm Grad einander unähnlich sind, also von dem vermeintlichen Urbild der Art abweichen. Schon die Beobachtung wild lebender Pflanzen und Tiere bestätigt dies, und man hat in allen systematischen Übersichten stets Nebenformen aufführen müssen, welche als klimatische, lokale etc. Varietäten entweder in einen gewissen Bezug zu den umgebenden Bedingungen gesetzt, oder einfach als Vorkommnisse, für die man eine Erklärung nicht weiter suchen zu müssen glaubte, hingenommen wurden.
Die Erfahrungen der Tier- und Pflanzenzüchter erweitern diese Beobachtungen namentlich durch den Nachweis, daß kein einziges Organsystem des lebenden Körpers von diesem Variationsvermögen frei ist. Die ungeheure Mannigfaltigkeit unsrer Kulturpflanzen und Haustiere (man denke z. B. an die Spielarten der Gartenblumen und Obstsorten oder an die von Darwin zum besondern Gegenstand seiner Studien gemachten Taubenrassen) bietet selbst bei Anerkennung der Mitwirkung von Hybridationen das ausgiebigste Beweismaterial gegen das Dogma von der Unveränderlichkeit der Art. Die Varietäten aber sind nach Darwins Auffassung nichts andres als beginnende Arten, und es kommt nur darauf an, daß sie sich weit genug von der Stammform entfernen, um als selbständige, neue Arten zu gelten. Die Ursache der meisten ¶
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Absonderungen ist wahrscheinlich in äußern Einwirkungen zu suchen, auf welche jeder Organismus in bestimmter, eigentümlicher Weise reagiert, wie dies schon Etienne Geoffroy de Saint-Hilaire in seinen Darlegungen über den Einfluß des äußern Mittels behauptet hatte. Nur in den seltensten Fällen kann man begreiflich den bedingenden Faktor der Umwandlung und noch seltener die Art seiner Wirkung feststellen, aber einige Beispiele beweisen die Wirksamkeit dieser äußern Einflüsse hinlänglich. So ändern bestimmte Tiere infolge einer abweichenden Nahrung die Farbe, wie z. B. Kanarienvögel durch fortgesetzte Beimischung von spanischem Pfeffer zu ihrer Nahrung eine tief orangerote Färbung annehmen.
Anderseits kann man bei gewissen Blattkrebsen bestimmte Formverwandlungen beliebig hervorrufen, indem man den Salzgehalt des Wassers, in welchem sie leben, vermehrt oder vermindert. Einen direkten abändernden Einfluß der Temperatur zeigen gewisse Schmetterlinge, [* 6] die einen sogen. Saisondimorphismus darbieten, bei denen nämlich aus überwinterten Puppen Schmetterlinge hervorgehen, die durch Färbung und Flügelschnitt von der Sommerbrut sehr verschieden sind.
Aber die Winterform kann künstlich im Sommer erzielt werden, wenn die Puppen der Sommerbrut in einen Eiskeller [* 7] gebracht werden, und dieses Beispiel ist besonders lehrreich, weil es die nachwirkenden Einflüsse der äußern Bedingungen auf alle Lebensperioden erweist. Alle derartigen Änderungen sind in der Regel nicht auf ein Organ oder Organsystem beschränkt, vielmehr sind gewisse Änderungen immer mit solchen in andern Organen verknüpft, wie die Farbe der Haare [* 8] und der Augen oder die Geweihbildung mit dem Fehlen aller obern Zähne [* 9] oder der Schneidezähne.
Man nennt dieses noch vielfach dunkle Verhalten das Gesetz von den Wechselbeziehungen oder der Korrelation der Organe. Einer der wichtigsten Faktoren ist die schon von Lamarck betonte Wirkung des Gebrauchs und Nichtgebrauchs von Körperteilen (funktionelle Anpassung). Jedermann erinnert sich der kräftigen Arme des Arbeiters, der starken Beine der Tänzer und Fußwanderer. Auf der andern Seite schwinden Organe, die außer Gebrauch gesetzt werden, alsbald dahin, so die Augen der beständig im Finstern lebenden Tiere, die Füße der festwachsenden und die meisten äußern Organe der Schmarotzertiere. Es sind dies Fälle von einer sogen. direkten Anpassung an neue Lebensbedingungen, insofern hier die Variation unmittelbar das Zweckmäßige bewirkt, nämlich Stärkung durch fortgesetzten Gebrauch und Schwund bei aufgehobenem. Am stärksten werden solche äußere umwandelnde Umstände einwirken, wenn ein Organismus in eine völlig neue Umgebung mit sehr veränderten Lebensverhältnissen gebracht wird, z. B. in ein fernes Land. Wir können diesen Einfluß täglich an Europäern studieren, wenn sie nur ein Menschenalter in Nordamerika [* 10] zugebracht haben, und offenbar wird der verändernde Einfluß der Auswanderung in ferne Länder (Migration) bei Tieren und Pflanzen noch viel größer sein als beim Menschen, der sich vielen Natureinflüssen entzieht.
Daher hat auch Moritz Wagner im Gegensatz zur Darwinschen Theorie eine besondere Migrations- oder Separationstheorie aufgestellt, welche die Mannigfaltigkeit der Tier- und Pflanzenwelt aus der räumlichen Trennung der Varietäten oder aus einer direkten Anpassung an überall verschiedene Lebensbedingungen erklären will, so daß jedes Wesen seinen besondern Schöpfungs- oder besser Entstehungsmittelpunkt habe. Das letztere mag richtig sein, aber jedenfalls genügt diese Theorie nicht, um die sogen. Anpassung (s. d.), d. h. die zweckmäßige Ausrüstung der Lebewesen für die neuen Lebensbedingungen, zu erklären.
Man kann vernunftgemäß weder annehmen, daß die Kälte der Polarzone weiß gefärbte und dickpelzige Tiere direkt erzeugt habe, noch daß solche Tiere etwa, weil sie aus andern Gründen eine weiße Farbe und einen dicken Pelz erhalten haben, nach der Polarzone ausgewandert wären; die Migration ist eben, wie so viele andre mitwirkende Faktoren, nur eine kompliziertere Veränderungsursache und kann die Befestigung der Variation zuweilen dadurch befördern, daß sie auswandernde abgeänderte Individuen strenger isoliert und dadurch die geschlechtliche Vermischung mit den unverändert gebliebenen Individuen hindert.
Das zweite Hauptprinzip des Darwinismus
beruht in der Vererbungsfähigkeit der neuerworbenen Eigentümlichkeiten,
welche ebenfalls durch zahllose Beobachtungen bestätigt wird und sich zuweilen bis auf willkürlich erzeugte
Verstümmelungen erstreckt. Nicht nur finden wir in der Natur konstante Lokalformen von Pflanzen und Tieren, welche diese Vererbungsfähigkeit
bestätigen, sondern auch die gesamte Praxis der Züchter beruht auf der genauen Kenntnis und richtigen Anwendung gewisser
Gesetze der Erblichkeit (s. d.). Das wichtigste derselben ist, daß eine neuentstandene
Variation am sichersten und gewöhnlich sogar befestigt und gesteigert wieder auftreten wird, wenn zwei nach derselben
Richtung variierende Individuen miteinander gepaart werden (Inzucht). Anderseits werden Abänderungen wieder verschwinden,
wenn durch die Paarung mit unveränderten Individuen die Vererbungskraft der neuerworbenen Eigenschaften durch die stärkere
Vererbungstendenz der ältern Eigenschaften überwogen und geschwächt wird. Isolierung wird deshalb die
Erhaltung neuer Variationen befördern, ungehinderte Kreuzung, sofern sie den Rückschlag zur Stammform begünstigt (s. Atavismus),
sie hindern.
Variabilität und Erblichkeit sind als Thatsachen der Erfahrung nicht zu bestreiten, aber aus ihrem Zusammenwirken ist man noch nicht im stande, die Thatsache der vollendeten Anpassung der neuen Arten an neue Lebensverhältnisse, die Zweckmäßigkeit und gesteigerte Vollkommenheit der Organisation, die uns in der Stufenleiter der Wesen entgegentritt, zu erklären, mögen wir nun bloß die heute lebenden oder auch die ausgestorbenen ins Auge [* 11] fassen. Von den wunderbaren Erfolgen der künstlichen Züchtung überrascht, fragte sich Darwin, ob nicht auch in der freien Natur ein Verhältnis sich finden möge, welches im stande wäre, eine der auswählenden Thätigkeit des Züchters entsprechende Wirkung zu äußern, indem es die Entstehung bestimmter Varietäten begünstigte.
Durch das Studium eines Buches des Nationalökonomen Malthus über die Mißverhältnisse, welche in der menschlichen Gesellschaft durch die starke Bevölkerungszunahme im Gegensatz zu der beschränkten Anzahl der Nährstellen entstehen, wurde Darwin zu der Erkenntnis geführt, daß ein ähnlicher Kampf ums Dasein (struggle for life), wie ihn Malthus unter den Menschen schildert, in sogar noch erhöhtem Maßstab [* 12] unter den Tieren und Pflanzen wegen ihrer zum Teil ungeheuern Vermehrungsfähigkeit entbrennen und die Folge haben müßte, daß nur die den obwaltenden Lebensverhältnissen am besten entsprechenden Varietäten erhalten werden. Dies Prinzip der sogen. natürlichen Auslese oder natürlichen ¶
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Züchtung wurde übrigens gleichzeitig mit Darwin von Wallace zur Erklärung der Wesenmannigfaltigkeit und der Zweckmäßigkeit ihres Baues angewendet (Zuchtwahl- oder Selektionstheorie).
Um die Wirkungsweise der natürlichen Auslese zu verstehen, muß man sich erinnern, daß die Mitbewerbung wegen der Gleichartigkeit der Ansprüche an Boden, Nahrung, Sicherheit gegen Nachstellungen etc. unter den Angehörigen derselben Art am stärksten sein würde, und daß hier geringe körperliche Vorzüge nach der einen oder andern Richtung, z. B. auf einem trocknen Boden und in einer trocknen Jahreszeit das Vermögen, mit etwas weniger Feuchtigkeit auszukommen, oder die Fähigkeit, durch eine bestimmte Färbung den Feinden besser zu entgehen, zum Sieg führen können; es ist das Überleben des Passendsten, wie Herbert Spencer den Vorgang genannt hat.
Die vielbewunderte Zweckmäßigkeit des Baues und die vollkommene Anpassung bestimmter Organismen für ihre Lebensverhältnisse sind in dieser Auffassung nichts andres als die Endergebnisse eines allseitigen Variationsvermögens im allgemeinen Konkurrenzkampf; nur das unter den gegebenen Verhältnissen Zweckmäßigste kann gegen seinesgleichen aufkommen und Fortdauer erringen. Einige Beispiele werden die Sache deutlicher machen. Es ist seit langem bekannt, daß sehr viele Tiere in die Farbe ihrer Umgebung gekleidet sind, z. B. die Polartiere in die Farbe des Schnees, die Wüstentiere in ein sandgelbes Gewand; die auf der Erde lebenden Tiere sind häufig grau oder graubunt, die Baumraupen und Frösche [* 14] grün, viele Seetiere sind beinahe durchsichtig wie Glas. [* 15]
Die Theorie der natürlichen Auslese erklärt, daß sie diese Schutzfarben erlangen konnten, weil auf diese Weise gefärbte Varietäten ihren Feinden am besten entgehen oder die zu ihrer Nahrung dienenden Tiere leichter beschleichen konnten, da sie sich von ihrer Umgebung nicht unterschieden. Bei vielen Tieren ist diese Nachahmung oder Mimikry bis auf die Zeichnung der Rinden oder Blätter ausgedehnt worden, auf denen sie gewöhnlich unbeweglich sitzen, z. B. bei Nachtschmetterlingen, Heuschrecken, [* 16] Raupen etc. Anderseits findet man sehr viele giftige oder widrig schmeckende und duftende Seetiere, Raupen, Schmetterlinge, Amphibien und Reptilien so lebhaft gefärbt und gezeichnet, daß man sie bereits von weitem von dem Grund, auf welchem sie sitzen, unterscheiden kann.
Diese Tiere werden, wie man sich durch den Versuch überzeugen kann, von den Tieren, denen ihresgleichen zur Beute dienen, gemieden; die grell gefärbten und von ihrer Nährpflanze stark abstechenden Raupen werden z. B. nicht von Vögeln angerührt, welche unscheinbar gefärbte Raupen begierig fressen. Man kann daher annehmen, daß es sich hierbei um Trutzfarben handelt, d. h. um Farben, die sich durch die natürliche Auslese zu Warnungssignalen ausgebildet haben, an denen Vögel [* 17] und andre Insektenfresser [* 18] gern gemiedene Tiere schon von weitem erkennen.
Wallace und Bates haben ferner die Entdeckung gemacht, daß derartige auffällig gekleidete Tiere, welche nur wenig Verfolger besitzen, von andern Arten nach Form und Färbung nachgeahmt werden, so daß sich zwei oder mehrere einander im sonstigen Bau ganz fern stehende Tiere im Aussehen sehr ähnlich werden. Man bezeichnet diese namentlich bei Schmetterlingen, aber oft auch bei andern Insekten, [* 19] Vögeln und Reptilien beobachtete Erscheinung als Nachahmung geschützter Arten oder Mimikry im engern Sinn.
Was hier in Bezug auf die äußere Färbung mit einigen Worten ausgeführt wurde, bezieht sich aber auch auf den innern Bau, auf die gesamte Organisation, ja auf die Instinkte und Geistesfähigkeiten der Tiere; überall muß die natürliche Auslese das für die bestimmte Lebensweise Zweckmäßigste hervorgebracht haben. Hierher gehören natürlich auch Waffen [* 20] und Panzer der Tiere, Verstärkungen des Gebisses für besondere Zwecke, Umgestaltungen der Füße zu Lauf-, Scharr-, Greif- und Ruderfüßen, bei den Pflanzen Aussäungsvorrichtungen, welche die möglichste Verbreitung einer Pflanze sichern, etc. Die erlangte Zweckmäßigkeit ist in allen Einzelfällen eine relative, denn eine allen Verhältnissen der einen Lebensweise (z. B. dem Wasserleben) angepaßte Tierart wird in den meisten Fällen für andre Verhältnisse (z. B. für das Leben auf der Erde oder auf Bäumen) sehr unzweckmäßig organisiert erscheinen.
Indessen läßt sich unschwer verstehen, wie die Auslese als treibendes Agens auch zu Steigerungen der allgemeinen Leistungsfähigkeit führen, d. h. eine Vervollkommnung der Lebewesen von niedern Stufen zu höhern bewirken konnte. Das hierfür von der Auslese in Bewegung gesetzte Prinzip ist hauptsächlich das der Arbeitsteilung (s. d.). Die Vollkommenheitsstufe eines Lebewesens prägt sich stets am einfachsten dadurch aus, daß sein Körper zur Ausführung der verschiedenartigsten Leistungen immer spezialisierter entwickelte Organe ausgebildet hat. An die Stelle einer gleichartigen, alle Lebensthätigkeiten ausführenden Substanz, wie des Protoplasmas der niedersten Urwesen, treten, wenn wir etwas höher steigen, allmählich Substanzteile, die durch besondere Eigenschaften besondern Leistungen angepaßt sind.
Aus gemeinsamen Funktionskreisen löst sich ein Glied [* 21] nach dem andern, um in höhern, zusammengesetzten Formen durch besondere Teile oder Organe vertreten zu werden. Nicht plötzlich wachsen dabei dem Körper neue Organe zu, sondern es findet meist ein Funktionswechsel statt; die Haut, [* 22] welche bisher das Allgemeingefühl vermittelte, wird an besondern Stellen empfindlicher für Lichtwirkungen und an andern für Geschmacks- und Geruchsempfindungen; aus der früher nur nebenbei den Gasaustausch vermittelnden Schwimmblase der Fische [* 23] entstand die Lunge [* 24] der Lufttiere etc. Es liegt aber auf der Hand, [* 25] daß solche Spezialisationen von der Auslese begünstigt werden müssen, da durch sie immer mehr Wesen zum Genuß besonderer Nährstellen im Naturhaushalt befähigt wurden, unter denen dann die Konkurrenz stets leistungsfähigere Organisationen schaffen mußte, immer unter der Voraussetzung der, soweit wir sehen, unbegrenzten Variationsfähigkeit.
Natürlich darf dieser Fortschritt zu höherer Vollkommenheit nicht wie ein allgemeines Ziel oder wie ein Endzweck betrachtet werden, denn das würde den Thatsachen widersprechen. Wir sehen vielmehr, daß, wenn auch im allgemeinen ein steter Fortschritt zu höhern Organisationen in der Natur seit jeher stattgefunden zu haben scheint, dabei doch auch zahllose Rückschritte und häufig ein tiefes Herabsinken von bereits erlangten Stufen höherer Organisation unter Tieren und Pflanzen stattgefunden hat. Eine Krebsart, die sich im Laufe vieler Generationen daran gewöhnte, auf Kosten andrer Wesen von deren Säften zu leben, konnte dadurch vielleicht gewisse bei der ältern, selbständigen Ernährungsweise stehen gebliebene Geschwister überleben und büßte dabei durch Nichtgebrauch alle Sinnes- und Bewegungsorgane ein, für sie war der Rückschritt vorteilhafter als der Fortschritt, und so haben auf einigen ozeanischen Inseln einige Käfer [* 26] ¶
Im Meyers Konversations-Lexikon, 1888
Darwinismus.
Nach der von Nägeli aufgestellten und von ihrem Verfasser mechanisch-physiologische Abstammungslehre genannten Hypothese erfolgt die Entstehung neuer Arten aus innern Ursachen, die in der Molekularstruktur der Organismen selbst gelegen sind und die Umänderung der Sippen (Individuen, Arten, Familien) nach bestimmten Richtungen bedingen. Diese Umänderung der Sippen erfolgt zugleich in der Richtung zum Vollkommnern, d. h. zum Zusammengesetztern (Vervollkommnungsprinzip).
Mit mechanischer Notwendigkeit geht die Umbildung in der eingeschlagenen Richtung fort in der Art, daß die Nachkommen immer über die Eltern in der Vervollkommnung hinausgehen und so Generation auf Generation stets um einen weitern Grad verändert wird, soweit es nämlich die Natur der Verhältnisse erlaubt. Denn neben der Organisationsvollkommenheit und von dieser zu unterscheiden findet sich dann noch auf jeder Organisationsstufe eine Anpassungsvollkommenheit, welche in der unter den jeweiligen äußern Verhältnissen vorteilhaftesten Ausbildung des Organismus besteht.
Selektion, wie sie die Theorie Darwins als einen Hauptfaktor bei der Entstehung der Arten hinstellt, ist bei Nägeli nur ein Hilfsprinzip, indem sie nach ihm durch Verdrängung der Lebewesen nur sippenscheidend und sippenumgrenzend, nicht aber sippenbildend wirkt. Äußere Veränderungen, insbesondere klimatische und Ernährungsverhältnisse, haben nach Nägeli auf die Umbildung der Arten keinen Einfluß. Dem Einwand, daß bei Gültigkeit des Vervollkommnungsprinzips es heute gar keine niedern Formen mehr geben dürfte, begegnet Nägeli durch die Annahme einer auch heute noch bestehenden Urzeugung.
Wie schon angedeutet, sind die formbildenden innern Ursachen Nägelis an etwas Stoffliches gebunden, welches als Träger [* 27] der erblichen Eigenschaften anzusehen ist. Diesen Träger findet Nägeli in einem Teil des Protoplasmas, dem Idioplasma, welchem das übrige, weniger feste Protoplasma als Ernährungsplasma gegenübersteht; Nägeli denkt sich das Idioplasma in Form von netzartig angeordneten, den ganzen Körper von Zelle [* 28] zu Zelle durchziehenden, zusammenhängenden Strängen, welche aus parallelen Längsreihen von Molekülgruppen (Mizellen) bestehen. In diesen Längsreihen sind alle Anlagen des Organismus, nicht nur für Arten, sondern auch für Individuen, enthalten und werden in ähnlicher Weise zur Entfaltung gebracht, »wie der Klavierspieler auf einem Instrument die aufeinander folgenden Harmonien und Disharmonien zum Ausdruck bringt«. Bei der Vermehrung des Idioplasmas erfolgt Verlängerung [* 29] dieser Längsreihen ohne Veränderung der Konfiguration des Querschnittes; neue Anlagen treten durch Einschiebung neuer Längsreihen auf. Ein mikroskopischer Nachweis des Idioplasmas ist bis jetzt noch nicht gelungen.
Der Theorie Nägelis ziemlich entgegengesetzt, jedoch darin mit ihr übereinstimmend, daß bei der Erklärung der Variabilität von außen wirkenden Einflüssen wenig oder keine Bedeutung zugestanden wird, ist die Hypothese Weismanns von der Kontinuität des Keimplasmas. Auch Weismann betrachtet als Träger des spezifischen Entwickelungsganges eines Organismus eine geformte Masse, die er Keimidioplasma oder kurzweg Keimplasma nennt; statt sich jedoch dieses Keimplasma als ein im ganzen Organismus verbreitetes Netzwerk [* 30] zu denken, verlegt er seinen Sitz einzig in den Kern der Keimzellen.
In dem Kern der Keimzellen, sowohl dem Keimbläschen der Eizelle als dem Kern der Samenzelle, unterscheidet Weismann zweierlei Plasma, einmal das Keimplasma und zweitens das histogene Plasma, welches, je nachdem von der Eizelle oder der Spermazelle die Rede ist, spezieller als ovogenes oder spermogenes Plasma bezeichnet wird. Das histogene Plasma wird vor der Befruchtung [* 31] als sogen. Richtungskörperchen ausgestoßen; dies geschieht auch bei den parthenogenetisch sich entwickelnden Eiern; bei den befruchtungsbedürftigen Eiern wird aber noch ein zweites Richtungskörperchen ausgestoßen, welches einen Teil des Keimplasmas selbst enthält, wodurch dieses reduziert wird (Reduktionsteilung). Bei der Befruchtung ergänzt sich durch Hinzutritt des Spermakerns das Keimplasma wieder zur vollen Höhe.
Das Keimplasma ist »ein Stoff von bestimmter chemischer und besonders molekularer Beschaffenheit«, dem eine überaus komplizierte feinste Struktur zuzuschreiben ist. Zugleich ist dieses Keimplasma der Träger der Vererbung, und es nimmt, was der Angelpunkt der Weismannschen Theorie ist, eine ganz besondere Stellung dadurch ein, daß es keinen Veränderungen unterliegt, sondern kontinuierlich ist. Das Keimplasma steht dem ganzen übrigen Körper insofern streng gegenüber, als es an all den Veränderungen, die derselbe während des Lebens erfährt, keinen Anteil nimmt; auch können die Keimzellen, die das Keimplasma enthalten, nicht aus beliebigen Körperzellen entstehen, eine Rückverwandlung von somatischem Idioplasma in Keimidioplasma findet nicht statt.
Statt dessen entstehen die Keimzellen direkt aus den elterlichen Keimzellen, indem bei der Ontogenese nicht das ganze Keimplasma, welches die elterliche Eizelle enthält, zum Aufbau des kindlichen Organismus verbraucht wird, sondern ein Teil desselben unverändert für die Bildung der Keimzellen der folgenden Generation reserviert wird. Es geht also stets ein Teil des Keimplasmas unverändert aus dem Körper der Vorfahren in den der Nachkommen über, und in dieser unveränderten Übertragung durch Generationen hindurch repräsentiert das Keimplasma einen unsterblichen Teil des Organismus. Diese ¶
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Theorie vermag insbesondere auf eine leichte Weise die Erscheinungen des Atavismus, die Vererbung von Eigenschaften von einer Generation auf eine entferntere mit Überspringung der dazwischenliegenden zu erklären. Als logische Folge dieser Kontinuität des Keimplasmas, auf welches äußere Einflüsse nicht einwirken, muß sich ergeben, daß keine neuen Eigenschaften erworben und weiter vererbt werden können. In der That ist es gerade dieser Punkt der Theorie, die Frage der Erblichkeit erworbener Eigenschaften, welcher einen heftig entbrannten Kampf hervorgerufen hat, denn mit diesem Satz steht und fällt die Lehre [* 33] von der Kontinuität des Keimplasmas.
Nach Weismann gelangen nur diejenigen Eigenschaften zur Vererbung, welche der Anlage nach schon im Keim vorhanden sind; alle Abänderungen, welche nach der Teilung des Eies in die beiden ersten Furchungskugeln entstehen, nennt Weismann »erworbene Charaktere« oder auch, da sie nach seiner Ansicht nicht erblich sind, sondern mit dem Individuum entstehen und vergehen, »passante Charaktere«. Zu ihnen gehören vor allem die während des individuellen Lebens erworbenen Verletzungen und Verstümmelungen, deren Vererbung nach Weismann bisher noch in keinem Fall nachgewiesen ist. Scheinbare derartige Vererbungen lassen sich nach ihm auf andre Weise erklären.
Leugnet so Weismann jede direkte Veränderung des Keimplasmas durch äußere Einflüsse, so gibt er anderseits doch die Möglichkeit zu, daß durch sehr lang andauernde Einflüsse derselben Art, z. B. Temperatur, während des Lebens Anlagen, Prädispositionen, zu neuen Eigenschaften erworben werden und zur Vererbung gelangen können. Nur bei den Protozoen verändern äußere Einflüsse den Organismus direkt, und diese unterscheiden sich nach dieser Theorie dadurch scharf von den Metazoen.
Dem Keimplasma Weismanns fehlt aber nicht nur die Fähigkeit, neue Eigenschaften zu erwerben und durch deren Vererbung Varietäten zu erzeugen, sondern es geht ihm auch die Tendenz ab, aus sich selbst heraus abzuändern, so daß die Folge dieser Theorie die Konstanz der Arten wäre. Zur Erklärung der thatsächlichen Variabilität der Arten zieht daher Weismann einen andern Faktor bei und findet diesen in der geschlechtlichen Fortpflanzung. Bei diesem Vorgang wird nicht nur der Vorrat des Keimplasmas immer wieder ergänzt und so die sonst notwendig eintretende Erschöpfung desselben vermieden, sondern durch die Mischung der Eigenschaften, welche die geschlechtliche Fortpflanzung veranlaßt, wird zugleich das Material für die Entstehung neuer Arten gegeben; es kann bei der Mischung zweier Vererbungstendenzen nie wieder Gleichheit eintreten, sondern es müssen im Lauf der Generationen immer neue Kombinationen der individuellen Charaktere erscheinen. So kommt die erbliche individuelle Variabilität zu stande. Unter den durch die Mischung verschiedenen Keimplasmas entstandenen neuen Formen tritt dann der Kampf ums Dasein und Selektion in sein Recht.
Im Zusammenhang mit der Ansicht von der Nichtvererbung erworbener Eigenschaften stehend und als eine Folge derselben erscheint eine weitere Theorie Weismanns über die Entstehung der rudimentären Organe, die er in einer »Über den Rückschritt in der Natur« betitelten Schrift behandelt. Sie können nach ihm nicht dadurch entstanden sein, daß der Nichtgebrauch direkt verkümmernd auf bestimmte Organe eingewirkt und diese Einwirkung, sich verstärkend, vererbt worden sei und dadurch zur immer weitergehenden Rückbildung des Organs geführt habe, denn die Resultate des Nichtgebrauchs müssen nach Weismanns Ansicht auf das Individuum beschränkt bleiben. Er findet für die Rückbildung eine andre Erklärung in der »Kehrseite der Naturzüchtung«.
In der Definition dieses Begriffs geht Weismann von der Annahme der Richtigkeit der Ansicht aus, daß die Zweckmäßigkeit der lebenden Wesen in allen ihren Teilen auf dem Vorgang der Naturzüchtung beruht, und schließt weiter, daß diese Zweckmäßigkeit auch durch dasselbe Mittel erhalten werden müsse, durch welches sie zu stande gekommen ist, umgekehrt aber wieder verloren gehen müsse, sobald dieses Mittel, die Naturzüchtung, in Wegfall kommt. Sobald nun ein Organ für einen Organismus sich nicht mehr nützlich oder notwendig erweist, wird seine mehr oder minder vollkommene Ausbildung bei der Kreuzung nicht mehr in Betracht kommen, sondern in Bezug auf dieses Organ Allgemeinkreuzung, Panmixie, eintreten; durch diesen Nachlaß in der Auslese geht dann dieses Organ immer mehr zurück. Auf diese indirekte Weise erklärt Weismann auch solche Fälle von Rückbildungen, die, wie das Schwinden des Haarkleides bei Delphinen und Walen, sich nicht direkt als eine Folge des Nichtgebrauchs des betreffenden Organs erklären lassen.
Der Ansicht Weismanns im wesentlichen entgegengesetzt ist die von Eimer aufgestellte Theorie über die Entstehung der Arten auf Grund von Vererben erworbener Eigenschaften. Eimer knüpft zunächst daran an, daß die Theorie Darwins die Entstehung der Varietäten und damit der Arten dem Zufall anheimstelle, indem sie die Möglichkeit des Variierens nach allen Richtungen ohne jede Gesetzmäßigkeit zulasse und keine Erklärungen für das erste Auftreten der Variationen gebe.
Dem gegenüber kam Eimer, hierin mit Nägeli und Weismann übereinstimmend, auf Grund seiner Untersuchungen zu dem Resultat, daß das Abändern der Arten überall nach ganz bestimmten Richtungen stattfindet, deren es jedoch in gegebener Zeit nur wenige sind. Zunächst konstatierte Eimer diese Gesetzmäßigkeit beim Abändern für eine bis dahin als völlig gleichgültig, bedeutungslos und zufällig angesehene Erscheinung, nämlich für die Zeichnung der Tiere.
Bei zahlreichen in den verschiedensten Klassen des Tierreichs angestellten Untersuchungen fand er als Regel, daß im ganzen Tierreich die Längsstreifung die ursprüngliche ist; im Verlauf der Entwickelung zerfällt sie in Flecke, und diese vereinigen sich wieder zu Querstreifen. Hierbei treten diese Zeichnungen, wie alle neuen Eigenschaften, stets an bestimmten Teilen des Körpers, vorzüglich hinten, auf und rücken während der Entwickelung mit dem Alter nach vorn, während von hinten die nächst jüngere Eigenschaft nachrückt und die vorderste schwindet, ganz wie eine Welle der andern folgt (»Gesetz der wellenförmigen Entwickelung« oder »Undulationsgesetz«).
Weitere Untersuchungen ließen eine ähnliche Gesetzmäßigkeit auch in Beziehung auf andre Eigenschaften nachweisen. Mit der Auffindung der Gesetzmäßigkeit des Abänderns sah sich Eimer aber zugleich auch vor die Frage nach den Ursachen dieses Abänderns gestellt. Eine große Anzahl von Eigenschaften wird bekanntlich durch das Nützlichkeitsprinzip, die Auswahl des Nützlichen im Kampf ums Dasein, erklärt, und in ähnlicher Weise wird gleich der natürlichen Zuchtwahl die geschlechtliche Zuchtwahl zur Erklärung der Entstehung andrer Eigenschaften herbeigezogen. Von vielen Eigenschaften, deren Bedeutung für den Organismus wir heute nicht zu erkennen vermögen, können wir doch sagen, ¶
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daß sie den Vorfahren der heutigen Träger nützlich gewesen sind und darin heute noch ihre Existenzberechtigung finden, und die Entstehung wieder anderer Eigenschaften läßt sich vielleicht durch den uns noch ganz dunkeln Vorgang der Korrelation der Organe erklären, der darin besteht, daß die Entstehung und Weiterentwickelung eines Organs die Bildung eines ganz andern, mit ihm sonst gar nicht im Zusammenhang stehenden Organs nach sich zieht. Diese letztere Annahme erklärt speziell die Entstehung schädlicher Eigenschaften, die dann durch die nützlicher andrer, mit ihnen in Wechselbeziehung stehender, aufgehoben werden.
Für eine Reihe andrer Eigenschaften aber genügen diese Erklärungen nicht. So ist es unzweifelhaft, daß auch direkt schädliche Eigenschaften zur Ausbildung gelangen können und sich in einer Weise weiter entwickeln, daß sie den Untergang des ganzen Geschlechts nach sich ziehen. So führt Döderlein aus der Stammesgeschichte der Säugetiere einige Fälle an, wo als Endglieder einer längern Entwickelungsreihe Formen auftreten, bei denen ein bestimmtes Organ sich extrem entwickelt hat und wahrscheinlich zum Erlöschen der Form mit beitrug, so die Größe und Form der Zähne beim säbelzahnigen Tiger (Smilodon neogaeus) und die riesenhafte Ausdehnung [* 35] des Geweihes beim Riesenhirsch (Cervus dicranius).
Döderlein erklärt diese Fälle durch die Annahme einer erblich werdenden Tendenz, nach einer bestimmten, ursprünglich nützlichen Richtung hin zu variieren, wobei jedoch im Verlauf der Entwickelung das Maximum der Nützlichkeit für den Organismus überschritten wird. Er hält demnach für das Wesentliche bei der Vererbung nicht etwa die ?Erreichung eines bestimmten Entwickelungszustandes?, sondern die ?Bestimmung der Entwickelungsrichtung?. Neben diesen direkt schädlichen Eigenschaften gibt es dann noch eine weitere Anzahl, die uns völlig bedeutungslos für den Organismus scheinen, und bei denen wir das Entstehen und besonders die Regelmäßigkeit bei ihrer Entstehung nach den angeführten Theorien nicht zu erklären vermögen; hierher gehört beispielsweise eben die Zeichnung im Tierreich.
Eimer geht aber weiter und weist darauf hin, daß die vorerwähnten Darwinschen Theorien überhaupt bei keiner Eigenschaft die erste Entstehung derselben zu erklären vermögen und die Frage nach den Ursachen des Abänderns ganz offen lassen. Er betont besonders, wie oft der Fehler gemacht wird, daß die auf dem Nutzen beruhende Auslese als die selbstthätige Kraft [* 36] behandelt wird, welche die Veränderungen der Eigenschaften selbst hervorbringt, während sie nach seiner Ansicht nur die Steigerung und das Herrschendwerden, nicht aber das Entstehen dieser Eigenschaften erklären kann.
Den Grund der Entstehung der Abänderungen findet Eimer in ?konstitutionellen Ursachen?. Nach seiner Auffassung ?sind die physikalischen und chemischen Veränderungen, welche die Organismen während des Lebens durch die Einwirkung der Umgebung, durch Licht [* 37] oder Lichtmangel, Luft, Wärme, [* 38] Kälte, Wasser, Feuchtigkeit, Nahrung etc. erfahren, und welche sie vererben, die ersten Mittel zur Gestaltung und Mannigfaltigkeit der Organismenwelt und zur Entstehung der Arten.
Aus dem so gebildeten Material macht der Kampf ums Dasein seine Auslese.? Es beruht also die organische Formgestaltung auf physikalisch-chemischen Vorgängen; aus diesem Grund ist sie aber ebenso wie die Form der anorganischen Kristalle [* 39] eine bestimmte und wird auch bei der Neubildung nur einzelne bestimmte Richtungen einschlagen können. Die Entstehung der Neubildungen und damit der Arten unterliegt zugleich denselben Gesetzen wie einfaches Wachstum; ?sie ist die Folge unendlichen, unter veränderten Bedingungen stattfindenden ungleichartigen Wachstums der Organismenwelt unter Voraussetzung der bleibenden Trennung ungleichartiger Glieder der wachsenden Kette dieser Organismenwelt; Fortpflanzung und individuelle Entwickelung beruhen gleicherweise auf den Gesetzen des Wachsens?.
Für die Ausbildung der Abänderungen zu Arten, für die Artentrennung, sieht Eimer die wesentlichste Ursache in dem von ihm Genepistase genannten Vorgang, d. h. in dem Stehenbleiben einer Anzahl von Individuen auf einer bestimmten niedrigern Stufe der Umbildung, während die übrigen in derselben weiter fortschreiten. Hierzu kommen weitere, schon bekannte Ursachen, die die Verschiedenheit der Entwickelungsrichtung bestimmen und die Trennung in Arten verursachen, so räumliche Isolierung, unmittelbare äußere Einwirkung, Gebrauch und Nichtgebrauch der Organe, der Kampf ums Dasein, die sprungweise Entwickelung durch Korrelation, ?konservative Anpassung?, d. h. Einfluß einer ununterbrochenen Fortdauer derselben Einwirkungen auf einen Organismus, und endlich geschlechtliche Fortpflanzung, welche an und für sich zur Bildung ganz neuer stofflicher Zusammenfügungen, d. h. zur Bildung neuer Formen, führen kann.
Speziell mit der Frage nach der Trennung in Arten hat sich schließlich auch Romanes in seiner Theorie der ?physiologischen Selektion? beschäftigt. Der englische Forscher geht von dem der Darwinschen Theorie gemachten Einwurf aus, daß neuentstandene Variationen, sie mögen noch so nützlich sein, durch die Kreuzung mit den andern Tieren immer mehr verwischt werden, bis sie endlich ganz verschwinden. Diesen Einwand sucht Romanes mit der Behauptung zu widerlegen, daß mit dem Auftreten einer Variation sich zugleich Sterilität der neu variierten Tiere mit den übrigen einstellt, und gibt hiermit zugleich eine Erklärung für die gegenseitige Unfruchtbarkeit der natürlichen Arten.
Die Sterilität kann primär oder sekundär sein. Der Fortpflanzungsapparat ist bekanntermaßen sehr zu Variationen geneigt, und es ist daher wohl anzunehmen, daß einmal bei einer Anzahl von Individuen eine Variation entsteht, welche die Sterilität gegenüber der Hauptart bedingt, gegenseitige Befruchtung der Abart aber zuläßt. Hierdurch ist eine neue Art geschaffen und in ihrer Existenz geschützt, und durch unabhängige Variabilität kommen weitere spezifische Abänderungen hinzu, die die Art von der Mutterart sich immer weiter entfernen lassen.
Umgekehrt mag die Sterilität auch sekundär sein und indirekt durch vorher auftretende Unterschiede hervorgerufen werden. Jedenfalls haben unter allen auftretenden Abänderungen diejenigen am meisten Aussicht auf Erhaltung, welche zugleich eine bestimmte Unfruchtbarkeit im Gefolge haben. Denn diese ?physiologische Zuchtwahl? errichtet zwischen der alten und der neuentstandenen Art einen Grenzwall, der ebenso unüberwindbar ist wie eine in Höhenzügen oder in Meeresteilen bestehende geographische Barriere.
Indem so zur Entstehung neuer Arten keine räumliche Isolierung oder Wanderungen zu Hilfe genommen zu werden brauchen, erklärt sich auch auf diese Weise die Existenz nahe verwandter Arten in dem gleichen Verbreitungsbezirk. Die Unfruchtbarkeit der Varietät gegenüber der Mutterspezies besteht des öftern nicht in einer Variation des Geschlechtsapparats, in einer wirklichen Sterilität, sondern in Verlegung der beiderseitigen Befruchtungsperioden, so der Blütezeit bei den Pflanzen und der Paarungszeit bei den ¶
Im Brockhaus` Konversationslexikon, 1902-1910
Darwinismus.
Nach der bis zu Darwin ziemlich allgemein herrschenden Annahme werden die Eigenschaften der Tiere und Pflanzen von den Eltern auf die Nachkommen ihren Hauptzügen nach unverändert vererbt, und es beruht wesentlich auf dieser Vererbung der unsichere Begriff der Art. Nach der Lehre Darwins (Abstammungslehre, Descendenzlehre) ist das, was im Tier- und Pflanzenreiche als Art bezeichnet wird, durch verschiedene Generationen hindurch keine Größe von unveränderlichem Werte und Gepräge, sondern es ist zahlreichen Abänderungen in der Form und andern Eigenschaften unterworfen, es bildet Varietäten.
Züchter sprechen von der Organisation eines Tiers wie von einer ganz bildsamen Sache, die sie nach Gefallen modeln können. Bei jeder Aussaat desselben, einer einzigen Pflanze entnommenen Samens zeigen sich einzelne junge Pflänzchen mit mehr oder weniger stark abweichenden individuellen Eigentümlichkeiten. Benutzt man diese zur Weitersaat, immer nach einer und derselben Richtung auswählend und die unerwünschten Formen ausjätend, so steigert man die gewünschte Abart in jeder einzelnen Generation um einen wenn auch noch so geringen Betrag.
Mit Hilfe dieses Züchtungsprincips, welches hiernach zwei einander entgegengesetzte Tendenzen: Variationsvermögen und Erblichkeit benutzt, ist in der Rindvieh-, Schaf- und Pferdezucht, [* 40] indem die Tiere bald auf Milchertrag, bald auf Woll- oder Fleischertrag, bald auf Zugkraft oder auf Schnelligkeit gezüchtet wurden, Staunenswertes geleistet. Die erzielten Rassenunterschiede bei Schaf, [* 41] Hund, Taube u. s. f. sind so groß, daß, wenn die Tiere in der Wildnis gefunden würden, kein Naturforscher anstehen würde, sie für verschiedene Arten zu nehmen, ja sie in verschiedene Gattungen unterzubringen. Eine bestimmte Grenzlinie zwischen individueller Abweichung und geringer Variation, zwischen dieser und erheblicher Variation, zwischen Unterart und Art besteht nicht: Varietäten sind werdende Arten.
In ähnlicher Weise wie bei der künstlichen Züchtung wirken innere und äußere Einflüsse, von welchen das Tier (oder die Pflanze) beim Leben in der freien Natur betroffen wird; an die Stelle der ausjätenden Menschenhand aber tritt der Kampf ums Dasein. Die hier bei den Nachkommen auftretenden kleinen Abweichungen vom elterlichen Typus können schädliche, gleichgültige oder nützliche sein. Die mit erstern behafteten Nachkommen haben bei dem zwischen der Fruchtbarkeit der Tiere und Pflanzen und dem für ihre Existenz vorhandenen Raume bestehenden Mißverhältnisse, bei der Verfolgung durch Feinde u. s. w. geringere Aussicht, die mit den nützlichen Abweichungen behafteten haben größere Aussicht, die andern zu überleben und sich fortzupflanzen.
Die überlebenden werden die ihnen nützlich gewordene Abweichung in der Regel wieder auf ihre Nachkommen vererben, und diese Abänderungen werden sich befestigen und steigern: hieraus entspringt in aufsteigender Linie nach und nach die Entstehung neuer Formen, Varietäten und Arten. Die Natur begünstigt vorzugsweise die Fortpflanzung der mit jenen nützlichen Abweichungen versehenen Individuen auf Kosten der andern und häuft dieselben bei spätern Nachkommen zu immer höherm Betrage an; dies ist die natürliche Züchtung. Der Kampf ums Dasein ist ein durch das Zusammenwirken verschiedenartigster äußerer Umstände unbegrenzt mannigfaltiger. Bei demselben ¶
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wirkt auch die kleinste Eigentümlichkeit der in denselben verflochtenen Individuen; jede kleinste Abänderung stört das Gleichgewicht [* 43] der gegeneinander strebenden Kräfte, und die Organismen passen sich einander sowie den äußern Verhältnissen fortwährend an, wiewohl bei der Länge der für die Umprägung erforderlichen Zeit die Thatsache dieser Umprägung sich nicht ohne weiteres zu erkennen giebt. Nach sehr zahlreichen Generationen kann die Abweichung von der Urform eine hundertfach und tausendfach gehäufte geworden und durch die anfänglich ganz unmerkliche Abänderung eine Abart, eine wirkliche Art, ja eine neue Gattung, eine neue Ordnung oder Klasse von Organismen entstanden sein, mindestens liegt keine natürliche Ursache und kein logischer Grund vor, anzunehmen, daß das Maß der langsamen Abänderung irgendwo innerhalb der Existenzmöglichkeit der Grundsubstanz organischen Lebens, des Eiweißes, eine Grenze finde.
Eine wichtige Triebfeder für die Bildung neuer Formen liegt in der Art des Gebrauchs der einzelnen Organe. Diese letztern werden durch den je nach den äußern Lebensbedingungen abgeänderten Gebrauch gleichfalls verändert, weiter entwickelt, vervollkommnet; andere gehen durch Nichtgebrauch zurück und verkümmern. Vögel oceanischer, von nachstellenden Feinden freier Inseln, welche nicht zu fliegen nötig haben, besitzen verkümmerte Flügel; schon bei der Hausente, die wenig fliegt, sind die Flügelknochen leichter, die Beinknochen schwerer im Verhältnis zum ganzen Skelett [* 44] als bei der wilden Ente.
Tiere, die in ewiger Nacht leben, sind ohne Augen, bei Höhlenbewohnern sind sie verkleinert (Maulwurf), oder sie liegen unter der Haut verborgen (z. B. beim Olm, Proteus anguineus Laur.). Aus der Verschiedenheit des Gebrauchs erklärt Darwin die Verwandlung der vordern, überall mit wesentlich den nämlichen Knochen [* 45] ausgestatteten Gliedmaßen bald zum Grabfuße des Maulwurfs, zum Rennfuße des Pferdes, zur Ruderflosse, zum Flügel, zur Hand, und m der That sind diese Homologien bei Annahme jedesmaliger Neuschöpfung der einzelnen Tiergattungen schlechthin unbegreiflich, bei Annahme der Descendenztheorie völlig verständlich.
Die Schwimmblase, ein Hilfsapparat für die Bewegung der Fische, welche bereits bei den Lurchfischen acccssorisches Atmungsorgan ist, modifiziert sich zur Lunge der höhern Wirbeltiere. (S. Funktionswechsel.) Und selbst für die zusammengesetztesten Organe, z. B. für das Auge, behauptet Darwin die Möglichkeit der allmählichen Entwicklung aus unvollkommensten ersten Anfängen, unter dem Einflüsse der natürlichen Zuchtwahl. Aber nicht nur die äußere Form, auch das, was man als Seele zu bezeichnen pflegt, die intellektuellen Fähigkeiten und Instinkte der Tiere, werden nach Darwin durch Zuchtwahl abgeändert, wie dies dem Tierzüchter sehr wohl bekannt ist. (S. Erblichkeit.)
Eine Abänderung des Tier- und Pflanzenkörpers, die in einer bestimmten Gegend, Lage, Gesellschaft u. s. f. nützlich ist, kann unter andern Verhältnissen schädlich sein; nicht immer erweist sich eine höhere Entwicklung für die Geschöpfe nützlich. So tritt auf gewissen Inseln die Zahl der geflügelten Insekten gegen die flügellosen auffällig zurück: die geflügelten fallen, wenn sie zu fliegen wagen, in großer Zahl ins Meer und verkommen, diejenigen, welche keine Flugorgane besitzen oder, falls sie deren haben, keinen Gebrauch von ihnen machen, können sich erhalten und vermehren. Die Flügel erscheinen hier
als ein schädliches Organ und wurden deshalb da, wo sie vorhanden waren, durch Nichtgebrauch nach und nach ausgemerzt, und die Fauna zeigt schließlich vorzugsweise flügellose Tiere.
Eine besondere Form der Zuchtwahl ist die geschlechtliche (sexual selection). Bei denjenigen Tieren, deren Männchen miteinander um die Weibchen kämpfen, bleiben die stärkern Männchen Sieger und ihnen fällt die Fortpflanzung der Gattung zu; sie vererben ihre Stärke [* 46] auf die männliche Nachkommenschaft. Hieraus erklärt Darwin die ansehnliche Größe der Männchen bei vielen Tieren und ihre Ausstattung mit Schutz- und Trutzwaffen (Löwe mit Mähne, Stier mit mächtigem Nacken, Hirsch [* 47] mit Geweih, Eber mit Hauzahn, Hahn [* 48] mit besporntem Fuß). Die Männchen vieler Tiere wirken auch durch musikalische Leistung (Vögel, Frösche, Grillen u. s. w.), durch Farbenpracht (Vögel, Insekten), durch Gerüche (besonders Säugetiere), durch Tänze (Vögel) u. s. w. auf die Sinne (Auge, Ohr, [* 49] Geruch) und damit auf die Sinnlichkeit der Weibchen, sodaß das in dieser Hinsicht am besten ausgestattete Männchen die meisten Chancen der Fortpflanzung und damit für Vererbung seiner Eigenschaften hat.
Eine wichtige Stütze für seine Lehre findet Darwin in den Erscheinungen der Entwicklungsgeschichte. Vielfach durchläuft ein und dasselbe Tier dieselben Entwicklungsstufen (Metamorphosen), welche nach Darwin die Tiergattungen bei ihrer Entstehung aus tiefer stehenden Ordnungen und Klassen zu durchlaufen hatten. Der Frosch [* 50] in seinem Bildungsgange von der Kaulquappe mit Kiemenatmung und Ruderschwanz bis zum entwickelten Tiere mit Lungenatmung stellt fast die ganze Reihe der definitiven Formen dar, welcke sich in der Ordnung der Batrachier überhaupt vorfinden, und es ist ein Lehrsatz der Darwinianer, daß die Natur bei der Schaffung von Gattungen, Ordnungen, Klassen, denselben Gang [* 51] einschlage, welchen sie bei der Entwicklung des einzelnen Tiers aus seinem Ei [* 52] verfolgt.
Embryonen sehr verschiedener Tierarten sind in den frühern Entwicklungsstadien einander gleich oder sehr ähnlich; Organe, welche im reifen Zustande des Tiers sehr verschieden gebildet sind und ganz verschiedenen Leistungen dienen, sind in der embryonalen Zeit einander völlig gleich. In derselben Weise, wie sie an demselben Individuum in seinen verschiedenen Entwicklungsepochen sich verwandeln, so bei den Individuen verschiedener Generationen, und hierdurch vollzieht sich die Bildung der verschiedenen Klassen.
Hierauf beruht das Biogenetische Grundgesetz (s. d.). Eine fernere Stütze findet Darwin in gewissen Erscheinungen der Vererbung im Atavismus oder im Rückschlag, dem plötzlichen Wiederauftauchen von Eigentümlichkeiten fernster Ahnen, welche in der Descendenz verschwunden waren, z. B. das Auftreten von Streifenbildungen am Rücken des Pferdes, doppelten Schulterstreifen, sowie Querbinden an den Beinen des Esels, denen des Zebras ähnlich, als Erbteil eines gemeinsamen Stammvaters der Pferdesippe, welcher gestreift war.
Untersucht man die organischen Reste sehr alter Versteinerungen führender Schichten, so findet man nur wenige und sehr einfache Formen von Pflanzen und Tieren. Die Theorie Darwins nimmt an, daß aus solchen die höhern Formen mit allmählicher Steigerung der Mannigfaltigkeit der Organisation entstanden sind. Diese allmähliche Entstehung und ¶
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Umwandlung der Organismen läßt sich mit der Entwicklung eines Baums vergleichen; die Urformen bilden den Stamm, die Ordnungen, Gattungen und Arten die Äste und Zweige, und ein natürliches System kann daher nicht anders als in Form eines Stammbaums dargestellt werden. Dieser Baum erstreckt sich gleichzeitig durch alle Gebirgsformationen aus der Tiefe herauf, mit bald einfachern, bald vielverzweigten, hier abgestorbenen, dort ausdauernden Ästen. Da dieser Stamm aber bereits in der Silurzeit in viele Äste auseinander läuft, so muß der Urstamm in noch viel ältern und tiefern Schichten stecken, welche man noch nicht entdeckt hat.
Die hier skizzierte Lehre hat Charles Rob. Darwin zuerst veröffentlicht 1859 in seinem Werke «On the origin of species by means of natural selection» (Lond. 1859). Dies Buch ist die Frucht zwanzigjähriger, der Erforschung der Natur wie der Litteratur gewidmeter Studien und enthält eine staunenerregende Fülle feinster Beobachtungen und Schlußfolgerungen sowie eine strenge Selbstkritik hinsichtlich der in ihm aufgestellten Sätze. Die Darwinsche Lehre ist aber keineswegs ihrem ganzen Inhalte nach neu. Die Lehre, daß die unendliche Mannigfaltigkeit organischer Formen sich aus einer spärlichen Anzahl ursprünglicher Typen herausgebildet habe, wurde bereits von Kasp. Friedr. Wolf in seiner Dissertation «Theoria generationis» (Halle [* 54] 1759; neue Aufl. 1774) und in der «Theorie der Generationen» (Berl. 1764) aufgestellt. Im Gegensatz zu Linné, welcher mit der Mosaischen Lehre annahm, daß alle einzelnen Tier- und Pflanzenarten von Anfang an von Gott erschaffen seien, und entgegen seinem großen Zeitgenossen Cuvier, welcher die Arten unabhängig voneinander in verschiedenen Epochen entstehen ließ und an der absoluten Unveränderlichkeit derselben festhielt, erklärte Jean Lamarck die Arten, die Gattungen, Ordnungen u. s. w. für willkürliche Bezeichnungen und ward durch sein Werk: «Philosophie zoologique» (2 Bde., Par. 1809), ein Hauptbegründer der Descendenztheorie oder des Lamarckismus.
Bereits nach Lamarcks Meinung sind die höhern Tierformen durch allmähliche Umbildung aus niedersten und einfachsten, durch Urzeugung entstandenen Formen hervorgegangen, innerhalb welcher Entwicklung der Mensch zunächst von einem affenartigen Säugetiere abstammt. Das Umbildende, Varietäten und Arten Schaffende ist für Lamarck neben der Verschiedenheit der äußern Lebensbedingungen wesentlich der Gebrauch und der Nichtgebrauch der Organe (die Anpassung).
Geoffroy St. Hilaire suchte die Ursache der auch von ihm angenommenen Umbildung der Arten in Veränderungen der Außenwelt, namentlich der Atmosphäre. Aus den eidechsenartigen Reptilien wurden Vögel durch den infolge des verminderten Kohlensäuregehalts der Luft gesteigerten Atmungsprozeß. Die Hypothesen dieser Forscher waren ohne nachhaltige Wirkung, da ihnen die empirische Begründung fehlte und überdies die Autorität Cuviers entgegenstand. Erst durch Darwins Werk gewann die von seinen Vorgängern im Princip ausgesprochene Descendenztheorie, indem er dieselbe nach allen Seiten tiefer begründete und in dem Kampfe ums Dasein das wichtigste Mittel kennen lehrte, dessen die Natur sich zur Steigerung und Fixierung der auftretenden Variationen bedient, ihre mechan. Basis und einen mächtigen Einfluß auf die gesamte Naturwissenschaft. Ein naturphilos. Vorläufer Darwins ist Oken, der in den Infusorien die Urform alles Lebens sah, und teilweise Goethe, der eine ursprüngliche Gemeinschaft aller Organisation und eine fortschreitende Umbildung annahm. Übrigens ist in dem Suchen nach Vorläufern Darwins viel Schiefes und Schielendes behauptet worden. Was Darwin so groß und seinen Namen zum Träger einer ganz besondern Richtung gemacht hat, ist durchaus sein eigen.
Es ist eine Konsequenz von Darwins Lehre, daß die wenigen niedern Formen, aus welchen die höhern hervorgingen, selbst wieder einer niedrigsten und ursprünglichen Lebensform, etwa einer Zelle oder einem belebten Klümpchen Eiweiß entstammten, wie dies auch Nachfolger Darwins mit Bestimmtheit ausgesprochen haben. Eine fernere Konsequenz, welche Darwin in seiner ersten Schrift, um die gegen seine Lehre sich erhebenden Vorurteile nicht noch weiter zu vermehren, nicht ziehen mochte, läßt auch den Menschen als ein Glied der angenommenen Entwicklungsreihe erscheinen, ja eine oberflächliche Beurteilung hat in der angeblich behaupteten Abstammung des Menschen von den Affen [* 55] den Kern der Darwinschen Lehre gesucht. Nachdem zuerst Haeckel die Ahnenreihe des Menschen, mit einem niedersten, gehirnlosen, fischartigen Wirbeltiere der Antesilurzeit beginnend, bis zu dem Menschen und seinen Seitenlinien: Schimpanse und Gorilla, entworfen, hat sich später auch Darwin («The descent of man and selection in relation to sex», Lond. 1871) für den Ursprung des Menschen von den katarrhinen (schmalnasigen oder echten) Affen erklärt. Über die spätern Schriften Darwins, welche für weitere Begründung und Ausbau der Selektionstheorie wichtig sind, s. Darwin, Charles Robert.
Die Darwinsche Lehre, über deren Wert die Meinungen berufener Sachverständiger weit auseinandergehen, ist für die Wissenschaften, welche sich mit dem Studium der organischen Welt befassen, namentlich für die Tierkunde zu einer großartigen Untersuchungshypothese geworden, deren Einfluß die Wissenschaft nicht nur eine Reihe der wichtigsten Entdeckungen verdankt, sondern die auch zuerst gezeigt hat, nicht bloß wie die untersuchten Organismen beschaffen sind, sondern warum sie mit logischer Notwendigkeit gerade so beschaffen sein müssen, wie sie sind. So haben Ausgangspunkte und Ziele in der Wissenschaft unter ihrem Einflüsse eine ganz andere Gestalt gewonnen. An Stelle der teleolog. und vitalistischen Beurteilung, welche die Erscheinungen durch Annahme eines Zweckmäßigkeitsbestrebens der Natur zu erklären suchte, führte Darwins System sämtliche biolog.
Vorgänge auf mechanisch wirkende Ursachen, auf Kräfte zurück, welche der Materie selbst eingeprägt sind, womit der alte Streit über den Wert und die Berechtigung der Teleologie von selbst zusammenfällt. Der große Reiz, welchen das Studium der Entwicklungsgeschichte gewährt, verbreitet sich unter diesen Gesichtspunkten auch auf die beschreibende Naturwissenschaft; die verwandten Tiere sind verwandt im eigentlichen Sinne des Wortes, und statt einer bloßen Beschreibung und Erforschung einzelner Tiergattungen hat man es mit der Entwicklungsgeschichte der ganzen Tier- und Pflanzenwelt zu thun. Die Vorgänge dort des Verschwindens von Lebensformen, hier die Vervollkommnung und ¶