Christentum
,
die von Jesus von Nazareth als dem »Christ«, d. h. Messias, gestiftete Religion, im weitern Sinn auch die ganze geschichtbildende Macht, die sich in jenem Namen verkörpert hat, mit der ganzen Summe ihrer innern Antriebe und äußern gesellschaftlichen Wirkungen, mit der gesamten Gedankenwelt, die sie heraufgeführt, und mit allen neuen Ordnungen und Sitten des Völker- und Menschheitslebens, die in ihrem Gefolge einhergehen. Die Geburtsverhältnisse dieser weltbewegenden Macht sind schwer bis ins einzelne zu durchschauen und zu beschreiben, zumal da zu den Schwierigkeiten, die in der Sache selbst liegen, sofort noch die mancherlei Unklarheiten und Mißverständnisse hinzutreten, welche aus der Einmischung religiöser Interessen mit Notwendigkeit sich ergeben mußten.
Noch jetzt wird ein erbitterter
Kampf darüber geführt, ob das Christentum
als ein »neuer Anfang«
zu betrachten, d. h. übernatürliche
Eigenschaften von seinem
Stifter auszusagen, übernatürliche
Wirkungen an sein Auftreten
zu knüpfen seien, oder ob es vielmehr in der Gesamtentwickelung des religiösen
Geistes einen
Glanz- und
Höhepunkt darstelle, der aber seine geschichtliche Bedingtheit in den vorausgegangenen Stadien des Gottesbewußtseins erkennen
lasse. Anerkannt wird immerhin von beiden Seiten, daß das Christentum
zunächst aus dem alttestamentlichen Gottesglauben
herausgewachsen ist, dessen Vollendung es darstellt.
Derjenige Teil der Menschheit, welchem die Lösung der religiösen Fragen vorzugsweise angelegen war, das hebräische als das eigentliche Religionsvolk der Alten Welt, hatte den Glauben an den Einen Gott als Ergebnis seiner eignen Entwickelung durch den Sturm und Drang der Jahrhunderte gerettet; es hatte im Verlauf des prophetischen Zeitalters diesen Glauben sittlich vertieft und vergeistigt und den Dienst des »Heiligen in Israel« immer bewußter in Reinigung des Herzens und Lebens gesetzt.
Freilich stellt das gesetzlich verfestigte
Judentum der nachexilischen und neutestamentlichen Zeit mit seinem pharisäischen
Äußerlichkeitsgeist einen
auffallenden
Rückschritt gegenüber den prophetischen Errungenschaften dar. Eine um so unmittelbarere
Fortsetzung und Vollendung fanden die letztern dort, wo der erste und letzte Erklärungsgrund für die
eigentümliche Lebensfülle und schöpferische
Kraft
[* 2] liegt, die das Christentum
offenbarte, im
Selbstbewußtsein Jesu.
Denn nicht die Verhältnisse haben das Christentum
zu dem gemacht, was es geworden ist, sondern
Christus selbst; an der
Person seines
Stifters hängt schließlich vorzugsweise die geschichtliche Bedeutung des Christentums.
Eine originale
Persönlichkeit aber, ein religiös-schöpferischer
Geist zumal, behält immer für eine die
Erscheinungen in ihre
Elemente
auflösende und auf ihre Herkunft befragende
Wissenschaft etwas Undurchdringliches und Geheimnisvolles.
Thatsache ist, daß
in dem religiösen
Bewußtsein Jesu das
Verhältnis von
Gottheit und Menschheit eine von allem Unreinen so durchgängig geläuterte,
für die
Lösung der sittlichen Aufgabe des ganzen
Geschlechts so eminent fruchtbare Auffassung und zugleich
auch, trotz aller unumgänglichen Bildlichkeit und sonstigen Unzulänglichkeit der zu
Gebote stehenden sprachlichen
Mittel,
einen so reinen, unmittelbaren, ewig wahren
Ausdruck gewonnen hat, wie ein zweites
Beispiel in der Geschichte des fortschreitenden
Gottesbewußtseins nicht wieder vorliegt.
Über das Eigentümliche und Durchschlagende im religiösen Bewußtsein des Stifters s. Jesus Christus. Was aber er ist, das sollen alle, zu denen sein Evangelium dringt, werden: »Kinder« oder, wie es im neutestamentlichen Text eigentlich heißt, »Söhne Gottes«. Ein solcher Übergang des eignen Reichtums in das Bewußtsein andrer setzt aber voraus, daß der ideale Inhalt eine ihm entsprechende, geschichtlich gegebene Form vorfindet, in welcher er sowohl schon dem Bahnbrecher selbst sich darbietet, als auch für die Zeitgenossen greifbar und faßlich wird.
Diese Form, dieses Losungs- und Schlagwort, vermöge dessen das neue Gottesbewußtsein eine geschichtliche Macht zu werden vermochte, bot die alttestamentliche Messiasidee, welche Jesus sittlich und geistig neu belebte und zum Bekenntnis seiner Jüngergemeinde machte (Matth. 16, 15-17). Jesus wußte sich, weil als »Sohn« im Verhältnis zu Gott überhaupt, so auch als den von den Propheten vor Jahrhunderten dem jüdischen Volk verheißenen Messias (s. d.),
der herkömmlicherweise »Sohn Gottes« hieß. Darin lag das geschichtlich Bedingte, das Nationale und Zeitliche in seinem Selbstbewußtsein, denn die Messiasidee war ein durchaus hebräisches Gewächs. Daran hielten sich, während jenes erste, rein menschliche Moment mehr zurücktrat, die ältesten, aus dem Judentum hervorgegangenen Gemeinden, die Stiftungen der zwölf Apostel, überhaupt die Judenchristen. Was diese von den gewöhnlichen Juden unterschied, war lediglich der Glaube an den nicht mehr bloß zu erwartenden, sondern schon gekommenen Messias.
Das erste Christentum
ist einfach messiasgläubiges
Judentum, genauer die
Gemeinschaft des erfüllten
Messianismus. Aber in der
Thatsache,
daß dieser
Messias nicht in der erwarteten Gestalt eines theokratischen Herrschers und Heidenbezwingers aufgetreten war,
sondern in der
Demut und Niedrigkeit eines anspruchslosen
Lehrers und
Hirten, eines Befreiers nicht unterworfener
Nationen, sondern geknechteter Willenskräfte, und ebendeshalb verachtet und verworfen von den Obersten seines
Volkes, war
ein
Impuls gegeben, welcher nach einer andern
Richtung treiben mußte. In der nachwirkenden
Kraft dieses
¶
mehr
von Jesus selbst so stark betonten Gegensatzes zum jüdischen Ideal lag der wirksamste Grund für die Ablösung der neuen Religion von der alten, die sich zunächst in der Form des Paulinismus vollziehen sollte. Infolge des starken Anstoßes, welchen das »Ärgernis des Kreuzes« (Gal. 5, 11). für die rechtgläubige Messiasidee und für die einfachsten Folgerungen aus dem jüdischen Gottesglauben darbot, kam es christlicherseits zu einer Weiterbildung des Messiasbegriffs, in deren Verlauf der Kreuzestod als gottgewollter, notwendiger Durchgangspunkt, der Messias selbst als ein gottähnliches, zum Zweck der Erlösung und Versöhnung der schuldbeladenen Menschheit auf Erden erschienenes Wesen zur Geltung kam, welches gerade im Tod nur die sinnliche Hülle abstreift, um sofort vermöge seiner Auferstehung und Erhöhung göttliche Würde und Hoheit anzutreten.
Der nähere Verlauf dieser für die christliche Weltanschauung entscheidenden Gedankengänge gehört nicht hierher (s. Christologie).
Von selbst erhellt übrigens, wie dem der Geschichte verfallenen dogmatischen zugleich religiöse Ideen und sittliche Wahrheiten
zu Grunde liegen, die von allgemeiner Bedeutung und Tragweite sind und dem Christentum
seine bleibende, weltgeschichtliche
Signatur gegeben haben. So ist nicht bloß dem ganzen religiösen Verhältnis dadurch, daß der Zweck des Auftretens des Messias
in die Erlösung und Heiligung seines Volkes gesetzt wird, eine entschiedene Wendung und Richtung auf das
Gebiet des sittlichen Lebens, auf die Zubereitung eines in Gott befreiten Willens, gegeben; es ist zugleich dadurch, daß dieser
Erlöser trotz seiner göttlichen Würde erst »durch Leiden
[* 4] des Todes vollendet«
(Hebr. 2, 9. 10) werden mußte, nicht etwa bloß
der Schmerz verklärt, das Leid und Wehe des Lebens mit einer selbst der tragischen Kunst des klassischen
Altertums unerreichbaren Weihe geheiligt, sondern es ist dieses Dulden und Leiden geradezu zum Gegengift wider Sünde und Schuld,
zur Existenzbedingung für alles erhoben worden, was sich im endlichen Leben als gereifter und bleibender Gehalt, was sich
im menschlichen Dasein als göttlicher Kern bewähren soll.
Zugleich ist mit dieser Lehre
[* 5] vom leidenden Sohn Gottes und von der durch sein Leiden versöhnten Welt der Gottesbegriff selbst
der starren Einheit und überweltlichen Ferne, welche seine Merkmale im Judentum ausmachen, entkleidet worden, und diese durch
die Lehre von Christus als seinem Sohn bedingte Veränderung in dem Begriff und Bild Gottes, welche innerhalb
der christlichen Theologie sich besonders in den Dogmen von der Dreieinigkeit und Menschwerdung Gottes abspiegelt, deutet bei
allen logischen Unmöglichkeiten dieser Dogmen selbst doch einen bleibenden Gewinn an, welchen das Gottesbewußtsein der Menschheit
dem Christentum
verdankt.
Dazu kommt nun aber noch ein Weiteres. Nächster Zweck der Erscheinung des Messias war die Herstellung und Aufrichtung des »Gottesreichs«, der Herrschaft des Volkes Gottes auf Erden. Wenn die Idee Gottes als des Vaters und das Selbstbekenntnis zur Sohnschaft (s. auch Menschensohn) zwei leitende Gedanken des Auftretens Jesu bilden, so darf man ihnen getrost die Idee des Reichs Gottes als einen dritten, jene unter sich verbindenden Gedanken zur Seite stellen. Dieses »Reich Gottes« (s. d.) stellt den nächsten Kreis [* 6] dar, welcher sich um den in der Person Jesu gegebenen Mittelpunkt bildet.
Aber es konnte auch ganz ebenso unter einem doppelten Gesichtspunkt betrachtet werden wie der »Sohn Gottes«. An sich war es auf eine Neubelebung aller gesellschaftlichen Zustände vermöge der übergreifenden Triebkraft des neuen Gottesbewußtseins, auf Herstellung eines Gesamtlebens, in dem sich nur göttliche Zwecke realisieren, abgesehen. Im vierten Evangelium, welches die christlichen Ideen zwar schon mit zum Teil griechischen Ausdrucksmitteln, aber ebendeshalb auch in ihrer allgemein menschlichen Bedeutung, in ihrer durchsichtigsten Reinheit und Klarheit zur Darstellung bringt, erscheint das Reich Gottes geradezu als die Gemeinschaft der aus dem Fleisch in den Geist umgeschaffenen Menschheit (Joh. 3, 3),. als das nicht von dieser Welt stammende, aber in dieser Welt sich verwirklichende Reich der sittlichen Zwecke, der religiösen Wahrheit (Joh. 18, 37). Freilich konnte diese Idee in das Bewußtsein der Menschheit nur eintreten, indem sie an die jüdisch-volkstümlichen Begriffe von Gottesherrschaft und politischem Königtum anknüpfte.
Indem sich Jesus als Messias erklärte, erstrebte er allerdings zunächst eine Umgestaltung des ihn unmittelbar umgebenden Volkslebens nach den Idealen der Propheten. Noch viel entschiedener aber bewegte sich das Bewußtsein seiner ersten Jünger und Gemeinden innerhalb dieses volkstümlich gefärbten Kreises, ja sie gingen merklich hinter den vorgeschobenen Standpunkt zurück, welchen Jesus selbst eingenommen hatte. Während er als Messias sich kühn über alles »Kleine am Gesetz« stellen konnte, fand innerhalb seiner ersten Anhängerschaft zunächst geradezu eine auch äußerliche Vereinigung mit der jüdischen Theokratie statt.
Man nahm am nationalen Gottesdienst in Jerusalem
[* 7] teil, brachte levitische Opfer, beobachtete die väterliche Kultussitte und
hatte davon, daß das Christentum
etwas grundsatzmäßig Neues sei, kaum eine Ahnung
(Apostelgesch. 2, 46;. 3, 1; 5, 20. 42; 21, 20-27).
Es war überhaupt nicht das Judentum im Mutterland Palästina,
[* 8] sondern es war das hellenistische Judentum
der Diaspora (s. d.), welches schon längst einen griechisch-philosophischen
Zug
mit dem hebräischen Glaubensgehalt verbunden hatte, worin nunmehr auch das Christentum
den Weg ins Freie finden sollte. Hier erst
gelangte die Überzeugung, daß dasselbe bestimmt sei zur Zusammenfassung der bisher getrennten Teile
der Menschheit, der Heiden und der Juden, zum Durchbruch und zum Ausdruck. Aus den Synagogen Kleinasiens, Griechenlands und Roms,
um welche sich Proselyten aus dem Heidentum schon zuvor in großer Menge gesammelt hatten, ging endlich die vom Judentum abgelöste
Heiden- und Weltkirche hervor.
Hier ist nun der Ort, daran zu erinnern, daß das Christentum
, abgesehen von dem Stammkapital, welches ihm im Gottes-
und Selbstbewußtsein seines Stifters zugewachsen war, keineswegs lediglich von hebräischen Bildungselementen lebt. Schwerlich
wäre es im Verlauf weniger Jahrhunderte die Religion des Morgen- und Abendlandes geworden, wenn nicht auch der griechische Geist
auf die Gestaltung seiner Weltanschauung mächtig eingewirkt hätte. Schon vor der Zeit Jesu hatte das
Judentum in Alexandria angefangen, in der Nachfolge der griechischen Philosophen den Gottesbegriff der eignen heiligen Bücher
nach den Normen der Platonischen und der stoischen Philosophie umzubilden und zu vergeistigen (s. Alexandrinische Schule). Im C.
fand sowohl die mythologisierende als die philosophierende Richtung des religiösen Griechentums, die
Arbeit der Phantasie und diejenige des Gedankens, unmittelbare Fortsetzung: jene, insofern die ursprünglich
¶
mehr
theokratischmessianische, von Jesus verinnerlichte und versittlichte Idee des »Sohnes Gottes« erklärt wurde als eine physische
Gottessohnschaft, welche auf direkter Erzeugung nach Analogie der griechischen Halbgötter und Heroen beruhte; diese, insofern
die Platonisch-stoische Unterscheidung des »Wortes« Gottes, des sogen. Logos (s. d.), von Gott selbst wie von den alexandrinischen
Juden, so nunmehr auch von den philosophierenden Christen, erstmalig im Johanneischen Evangelium, aufgenommen
und auf ihrem Grund eine Lehre von dem Verhältnis des Vaters zum Sohn erbaut wurde, welche sich dann unter Hinzutritt eines
dritten zu berücksichtigenden Faktors, des Heiligen Geistes, im Trinität
sdogma abrundete.
Aber nicht bloß auf religiösem, auch auf sittlichem Gebiet hatte der griechische Geist eine gewaltige
Vorarbeit geliefert. Schon Sokrates bedurfte zur Begründung seiner Sittenlehre keiner von außen oder von oben kommenden Gebote
mehr, da er dieselbe echt griechisch aus den Tiefen des gottverwandten Geistes ableitete, weshalb man von ihm gesagt hat,
daß er die Philosophie vom Himmel
[* 10] auf die Erde gebracht habe. Er lieferte damit wenigstens einen allgemeinen
Typus für das, was später das Christentum
, indem es den Geist freier Sittlichkeit von der Beschränktheit alttestamentlicher Gesetzlichkeit
entband, was insonderheit der Protestantismus leistete.
Das unvergleichlich Größte aber hat Platon gethan, um die hellenische Gedankenwelt auf eine Stufe zu heben, auf
welcher sie fähig war, sich mit den religiösen Erträgnissen des semitischen Orients, insonderheit mit dem Hebraismus, zu
berühren und eine aus beiden bisher sich fliehenden Elementen gemischte Weltanschauung zu erzeugen. Als eine solche aber
muß diejenige des Christentums
, wie es sich in der Geschichte ausbreitete, bezeichnet werden. Semitisch und hebräisch
ist das Gewebe
[* 11] historischer Fäden, an welchem es seine Gottes- und Weltanschauung zur Darstellung bringt; griechisch und Platonisch
ist der metaphysische Hintergrund, welchen es der geschichtlichen Fortbewegung seiner Ideen verleiht, jene ganze Grundanschauung,
wonach eine höhere, übersinnliche Welt als ein dem endlichen Verstand überlegenes, nur mit dem Glauben zu fassendes
Etwas in unser Sinnenleben hereinspielt, so daß, was von geistigem Reiz und göttlichem Gehalt in diesem letztern vorkommt,
was von sittlichen Aufgaben sich stellt, aus solchem Hereinleuchten sich erklärt.
Ganz besonders brauchbar, wo es galt, die Verluste, die man durch Preisgeben des ursprünglichen Idealismus erlitten hatte, durch neubezogene Gewinne zu decken, fand man die Umbildung, welche die Gedanken Platons in dem nachgebornen System des Neuplatonismus erfuhren. Auf Grund dieses Systems also in seinen alten und neuen Formen haben Kirchenväter und Scholastiker ein Jahrtausend lang die christlichen Dogmen zuerst gebildet und bearbeitet, dann erklärt und bewiesen.
Nächst dem Platonismus war es endlich noch die Stoa, welche mit ihrer Lehre von der Gottverwandtheit und Gleichheit der menschlichen Natur Einfluß ausübte. Alle Menschen sind schon nach Chrysipp als Mitgenossen und Mitbürger zu betrachten, damit die Welt erscheine »wie Eine verbundene Herde, die durch Ein gemeinsames Gesetz geleitet wird« (Joh. 10, 16). Eine Menge direkter Parallelen zu Paulus ist aus Seneca zusammenzulesen. Auch das Wort, daß alle Menschen Brüder sind, hat man zuerst in der Stoa gehört.
Wie schon das Altertum solchen Aussprüchen eine weltgeschichtliche Bedeutung beimaß, zeigt Plutarch, welcher meint, was Zenon gewollt, habe Alexander vollbracht. Alexanders Gedanke aber wurde im Grund erst durch das römische Weltreich verwirklicht, und als dieses eben unter dem ersten Kaiser seinen dauernden Zusammenschluß gefunden hatte, entstand in einem seiner entlegenen Winkel [* 12] auch diejenige Religion, welche unter allen dagewesenen Religionen allein eine solche Unabhängigkeit von jedweder national-partikularistischen Bedingtheit erlangen konnte und sollte, daß sie fähig wurde, den ungeheuern Riesenleib jenes Reichs gleichmäßig zu beseelen, ja sogar, als derselbe allmählich abstarb und zerfiel, ihn als europäische Weltreligion zu überdauern und eine neue, weltgeschichtlich noch verheißungsvollere Verbindung mit dem germanischen Element einzugehen.
Eine solche Dauerhaftigkeit, wie sie das Christentum
unter dem Zusammensturz aller Kultur- und Staatsmächte der Alten Welt an den
Tag legte, setzt freilich voraus, daß dasselbe sich zuvor schon in bestimmt gegliederten Verfassungsformen verfestigt
hatte, daß es Kirche (s. d.) geworden war. Das aber ist es keineswegs etwa von vornherein
schon gewesen. Vielmehr hatte man ursprünglich mit der gesamten Wirklichkeit und mit jeder Zuversicht auf die Entwickelungsfähigkeit
derselben so gründlich gebrochen, daß der urchristlichen Phantasie zunächst auch die durch den Glauben
an Jesu Messianität gebildete Gemeinde nur durch das direkte Wunder der Wiederkunft ihres Stifters zur Erbin der alten Weltreiche
erhoben werden zu können schien.
Der Schwerpunkt [* 13] der urchristlichen Zukunftsgedanken fiel noch ganz in das sogen. Tausendjährige Reich (s. Chiliasmus). Erst allmählich übte die in den Paulinischen und Johanneischen Schriften angelegte Auffassung, wonach Christus als göttliches Prinzip in der Gemeinde seiner Gläubigen waltet und diese letztere zur Trägerin seines Bewußtseins, zur Fortsetzerin seines Willens wird, einen umgestaltenden und versöhnenden Einfluß, während die Kirche sich zugleich immer unumgänglicher auf einen längern irdischen Bestand einrichten mußte.
Schon die Ausscheidung der Montanisten (s. d.) bedeutete im Grunde den Entschluß der Kirche, unter Verzicht auf ihre ursprüngliche Ausstattung und Kraft eine Weltmission im großen zu beginnen und die Völker zu erziehen. Diese Art von Realismus gewann dem ursprünglichen Idealismus im Verlauf des 3. Jahrh. massenhaftes Terrain ab. Die Kirche wurde ein Staat im Staat; sie unternahm es, den Weltstaat zu christianisieren, indem sie zugleich seine Bildung und Philosophie, seine Rechtsordnung und seine Kulte in den eignen Dienst nahm, bez. sich ihnen akkommodierte.
Vollends seitdem sie Staatskirche geworden war (s. Konstantin d. Gr.), schiebt sich der Schwerpunkt des christlich-frommen Bewußtseins von der apokalyptischen Zukunftshoffnung hinweg in den gegenwärtigen, von der Kirche verbürgten und in ihr gegebenen Heilsbesitz. Das Band, [* 14] welches jetzt die Christenheit zusammenhält, ist nicht mehr die selbst von Heiden der frühern Jahrhunderte gepriesene Bruderliebe und die gemeinsame Hoffnung auf die große Endkatastrophe, sondern eine hierarchische Ordnung, welche mit der christlichen Mündigkeit und Freiheit leicht auch die brüderliche Gesinnung ersticken konnte. Das höchste und umfassendste aller sittlichen Ideale des Stifters, das Reich Gottes, fiel diesem Katholizismus (s. d.) eben schon in Eins zusammen mit der empirischen Kirche, während der Protestantismus (s. d.) als ein neuer Versuch zur Realisierung des christlichen Prinzips beide Gedanken wieder voneinander zu scheiden unternahm. Die gegenwärtige Zahl ¶
Im Brockhaus` Konversationslexikon, 1902-1910
Christentum
,
die Religion, die in Jesus von Nazareth den Christus (s. d.), d. h. den Gesalbten Gottes erkennt. Da auch
die Juden einen «Christus» (Messias) erwarteten, so beruht der ursprüngliche Unterschied des Christentum
vom Judentume zunächst
in der Anerkennung oder Nichtanerkennung Jesu als des den Vätern verheißenen Messias. Dagegen ist der Name Christen (Christianer)
zunächst in heidn. Kreisen aufgekommen, nach der Angabe der Apostelgeschichte bei den Griechen in Antiochia, und wurde später
von den Bekennern Jesu als Ehrenname ausgenommen.
Von den Juden wurden die stammverwandten Christen lange Zeit nur als «Nazaräer» oder «Minäer» (d. h. Ketzer)
bezeichnet, die Heidenchristen galten
ihnen einfach als «Heiden». Die röm. Obrigkeit behandelte die Christen bis ins 2. Jahrh.
hinein nur als jüd. Sekte. Indessen trug das Christentum
von Anfang an eine die Schranken
des Judentums durchbrechende geistige Macht in sich, und es sammelten sich schon ein Menschenalter nach
Jesu Tod seine Bekenner fast ausschließlich aus der Masse der Heiden.
Während das Judenchristentum (s. d.) sich nach wie vor an das Gesetz Israels gebunden
erachtete, lehrte Paulus (s. d.) zuerst, daß durch den Sühntod des Messias das Gesetz aufgehoben
und die Scheidewand zwischen Juden und Heiden niedergerissen sei. Ungeachtet der Anerkennung der alttestamentlichen
Offenbarung als der Vorbereitung der mit Christus gekommenen Erfüllung trat das Christentum
immer bestimmter als eine selbständige
Religion auf. Zum Heidentum stand es von vornherein vermöge des Glaubens an den Einen Gott im Gegensatze. Aber schon um die
Mitte des 2. Jahrh. erkannten philosophisch gebildete Christen an, daß auch im Heidentum auf Christus vorbereitende
Elemente vorhanden waren. Die neuere Philosophie der Geschichte hat diesen Sachverhalt geradezu dahin bestimmen wollen, daß
das Christentum das Gesamterzeugnis sowohl des jüd. als des heidn. Geistes sei.
Das eigentümliche Wesen des Christentum ist aber nur aus der geschichtlichen Persönlichkeit des Stifters und aus seiner Bedeutung für das Glaubensleben zu erklären. Das Christentum hat die Frage nach der Bedeutung dieser Person von Anfang an entschieden hervorgehoben, zu der eigentlich religiösen Kardinalfrage gemacht. Gegenüber dieser Thatsache kann die moderne Anschauungsweise, die zwischen Idee und Geschichte sorgfältig zu scheiden und das bleibende Wesen des Christentum auch abgesehen von der Person seines Stifters zu ermitteln sucht, nicht in Betracht kommen.
Denn unzweifelhaft hat die christl. Religion von dieser Beziehung des religiösen Glaubens auf die Geschichte und die geschichtliche Persönlichkeit Jesu ihren eigentümlichen Charakter erhalten. Alles, was die christl. Frömmigkeit von der Offenbarung des göttlichen Willens, von der Vollendung alles religiösen Lebens im C. aussagen wollte, hat sie von vornherein in ihrer Vorstellung von der Person Christi niedergelegt. Die im C. einfach die «Vollendung des Gesetzes und der Propheten» sahen, betrachteten Christum als den «Sohn Gottes» im Sinne der jüd. Messiasidee, also als eine wesentlich menschliche, aber mit dem Geiste Gottes gesalbte Persönlichkeit, als den vollkommenen Gerechten, den «Knecht Gottes» und den Propheten der Wahrheit; die es mit Paulus als einen neuen Gottesbund mit den Menschen, als eine Botschaft von der sündenvergebenden Gnade und der Befreiung vom Gesetzesfluche betrachteten, erkannten in ihm das persönliche Abbild des himmlischen Vaters, den «Sohn Gottes» vom Himmel her, der die Menschen durch seinen Kreuzestod von den Sünden befreit, mit dem Vater versöhnt und aus dem Stande der Knechtschaft zur Freiheit der Kinder Gottes erhoben habe. Je tiefer man sich des Christentum als der schlechthin vollkommenen Offenbarung Gottes bewußt wurde, desto unabweisbarer suchte die Frömmigkeit ihren höchsten Ausdruck in der Lehre von der wesentlichen Gottheit Christi zu gewinnen.
Als Voraussetzung für die Vorstellungen sämtlicher christl. Parteien von der Person Jesu Christi galt der Glaube an die schlechthin übernatürliche Entstehung des Christentum. So bildete sich schon in den
^[Artikel, die man unter C vermißt, sind unter K aufzusuchen.] ¶
mehr
ersten fünf Jahrhunderten unter dem mitbestimmenden Einflusse der griech. Philosophie diejenige dogmatische Form des Christentum heraus, die noch heute der orthodoxen Lehre aller christl. Hauptkonfessionen zu Grunde liegt. Hiernach ist es die durch die Gottesoffenbarung im Alten Testament vorbereitete, von den Propheten geweissagte, von den Aposteln gepredigte Botschaft, daß Jesus Christus des ewigen Vaters ewiger Sohn, wahrhaftiger Gott und seit seiner irdischen Geburt auch wahrhaftiger Mensch, vom Himmel auf die Erde herabgestiegen, um durch sein Leiden und Sterben die sündige Menschheit mit dem Vater zu versöhnen, nach vollbrachtem Werk aber von den Toten wieder auferstanden und leiblich gen Himmel gefahren ist, um von dort aus zur Rechten des Vaters seine Gläubigen und die ganze Welt zu regieren.
Die Reformation hat daran nichts geändert, stellt sich vielmehr ausdrücklich auf den Boden der altkirchlichen Glaubensbekenntnisse und sucht das überlieferte Dogma sogar noch bestimmter auszubilden. Erst unter dem allmählich erstarkenden Einflusse einer weltlichen Bildung ist im 18. Jahrh. ein mächtiger Widerstand gegen die überlieferten Lehren [* 16] erwacht. Wie das Aufklärungszeitalter überhaupt das geschichtliche Christentum auf eine allgemeine Vernunftreligion zurückzuführen suchte, so bekämpfte es auch die kirchlichen Vorstellungen von Christi Person, welche der Supranaturalismus (s. d.) immer schwächer verteidigte.
Die neuere Philosophie seit Kant war hierauf bestrebt, den Ursprung des Christentum immer folgerechter auf die Gesetze aller geschichtlichen Entwicklung zurückzuführen, konnte daher auch für die Person seines Stifters keine andere als eine wahrhaft menschliche Auffassung gelten lassen. Um so eifriger hat sie dagegen sich bemüht, die allgemeinen Wahrheiten festzustellen, die dem religiösen Bewußtsein zuerst in und an der Person Jesu aufgegangen und durch ausschließliche Übertragung auf diese Person dem christl. Glauben zuerst anschaulich geworden seien. Am geistvollsten hat dies die Hegelsche Schule ausgeführt, indem sie die Lehren von der Dreieinigkeit, der Menschwerdung Gottes, von der Erniedrigung und der Erhöhung des Gottmenschen, seinem Tode und seiner Auferstehung, von dem durch ihn vollbrachten Versöhnungswerke als tiefsinnige Symbole des ewigen Verhältnisses Gottes zu den Menschen, seiner Selbstoffenbarung im Menschengeiste und der Erhebung des Menschen zur bewußten Einheit mit seinem ewigen göttlichen Wesen erkannte.
Je mehr aber durch die spekulative Idealisierung des Dogmas nicht nur dieses selbst in seinem ursprünglichen Sinne verändert, sondern auch die geschichtliche Bedeutung des Christentum und seines Stifters verflüchtigt wurde, desto mehr regte sich das Bedürfnis, das Christentum auch in seinem ursprünglichen geschichtlichen Wesen, nicht nur in seinem bleibenden religiösen Gehalte wiederzuerkennen. Seit Schleiermacher das Wesen des Christentum nicht als Lehre, sondern als ein neues göttliches Leben, Jesu Person als den urbildlichen Träger [* 17] und Begründer dieses Lebens betrachten gelehrt hatte, hat die neuere Theologie immer angestrengtere Versuche gemacht, die eigentümliche Bedeutung von Jesu Person nicht sowohl in irgend welchen dogmatischen oder spekulativen Theorien über ihn, als vielmehr in der Einzigartigkeit seiner sittlich-religiösen Persönlichkeit und des Verhältnisses derselben zu Gott zu erkennen.
Sie erblickt daher in der Person Jesu Christi ebensowohl den persönlichen Träger der göttlichen Offenbarung an die Menschen, wie die thatsächliche Verkörperung und lebenskräftige Verwirklichung des vollkommenen religiösen Verhältnisses der Menschen zu Gott. Als eigentümlichen Gehalt dieses religiösen Verhältnisses aber betrachtet sie das in der Person Jesu Christi verkörperte Bewußtsein der Sohnschaft bei Gott. So ist es ihr möglich geworden, der Forderung echt geschichtlichen, also menschlich wahren Verständnisses des Christentum und der Person Jesu Christi gerecht zu werden, ohne doch das eigentümlich christl. Bewußtsein selbst zu verleugnen.
Wie sie aber der metaphysischen Betrachtungsweise gegenüber die geschichtliche geltend machte, so suchte sie auch den kirchlich-dogmatischen Begriff des Christentum durch den sittlich-religiösen zu ersetzen und in ihm die denkbar höchste Form des religiös-sittlichen Lebens der Menschheit nachzuweisen. Wenn dieser Auffassung des Christentum gegenüber der kirchlich-dogmatische Begriff sich wieder mit erneuter Entschiedenheit geltend macht, so sieht sich die wissenschaftliche Theologie nur immer nachdrücklicher zur rein geschichtlichen Erforschung des ursprünglichen Christentum genötigt, da diese allein eine zuverlässige Grundlage auch für die theol.
Würdigung des bleibenden Gehalts der christl. Religion zu bieten vermag. Hieraus erklärt sich die hohe Bedeutung der in neuerer Zeit so gründlich und scharfsinnig geführten histor.-kritischen Untersuchungen über das Urchristentum und das geschichtliche Lebensbild Jesu Christi. Unzweifelhaft ist, daß sich dadurch das ursprüngliche Wesen des Christentum ungleich reiner und treuer erkennen läßt, als dies noch zur Zeit des ältern Rationalismus möglich war. Die darauf gerichtete Forschung hat schon jetzt dazu geführt, den eigentlichen Lebensmittelpunkt der christl. Religion immer entschiedener in der Persönlichkeit Jesu selbst oder in dem in ihm offenbarten gotteinigen Leben zu erkennen. (S. Jesus.)
Auf Grund ihrer Forschungen kann die heutige Wissenschaft das geschichtliche Wesen des Christentum nicht in einer dogmatischen Lehre über seine Entstehung, auch nicht in einem bestimmten Dogma über Christi Person und Werk, sondern nur in dem wesentlich neuen religiösen Verhältnisse der Menschheit zu Gott finden, das von Jesus als Ausdruck des göttlichen Liebewillens offenbart und in seiner Person grundlegend verwirklicht worden ist. Dieses eigentümliche Wesen des Christentum ist zusammengefaßt in dem Begriffe der vollkommenen Erlösungs- oder Versöhnungsreligion.
Der alttestamentliche Gottesbegriff ist zu der Idee des «himmlischen Vaters» gesteigert, die jüd. Äußerlichkeit des Verhältnisses Gottes zur Welt ebenso wie die pantheistische Verendlichung Gottes im Heidentume überwunden, da Gott aufgefaßt wird als die allumfassende Liebe oder als der schlechthin vollkommene, von der Welt und Menschheit schlechthin unterschiedene, aber zugleich ihr allgegenwärtig innewohnende, im sittlich-religiösen Bewußtsein und Leben des Menschen sich unmittelbar offenbarende und zu seiner Gemeinschaft, dem höchsten Heile, heranziehende Geist. Da dies Verhältnis ein rein ethisches ist, das alle Unterschiede der Abstammung und der Geburt ausschließt, so kann es auch durch kein äußeres Verdienst oder Werk zu stande kommen, sondern nur dadurch, daß sich der Mensch empfänglich verhält zu der in Christus offenbarten göttlichen Liebe, in selbstverleugnender Entäußerung alles eigenen Willens vertrauensvoll der göttlichen Führung sich hingiebt und, durch die ¶
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innerlich erfahrene göttliche Liebe zu freier Gegenliebe getrieben, in der sittlichen Gemeinschaft, in der er steht, den ewigen Liebeszweck Gottes zu verwirklichen trachtet, also auch in allen seinen besondern sittlichen Pflichten ebenso viele Aufgaben des höchsten Willens an ihn sieht. Die unerläßliche Bedingung aber für den Eintritt in die neue Gottesgemeinschaft oder ins «Gottesreich» ist die Demut, als das tiefste Gefühl der eigenen sittlichen Ohnmacht und Hilfsbedürftigkeit, das sich im Bewußtsein persönlicher sittlicher Verschuldung zur Ruhe oder zu dem reumütigen Eingeständnisse der eigenen Sünde gestaltet.
Nicht als die, wenn auch noch so vollkommene Lehre von dem wahren religiösen Verhältnisse des Menschen zu Gott, sondern als geschichtliche Offenbarung einer neuen göttlichen Lebensmacht, als ein sittlich erneuendes und befreiendes Lebensprincip, welches von innen heraus alle sittlichen Lebensverhältnisse umgestaltete, ist das Christentum in die Welt getreten. Durch diesen rein sittlichen Charakter ist zugleich der universelle Charakter der christl. Religion als einer für alle Menschen und alle Völker bestimmten bezeichnet, welche allen menschlichen Lebenslagen und Lebensbedürfnissen gleicherweise entspricht und darum auch geeignet ist, die bleibende Grundlage und das zureichende Princip alles sittlichen Strebens und Arbeitens in der Gemeinschaft zu bilden.
Von einer Stiftung der christl. «Kirche» durch Jesus kann aber nur sehr bedingterweise gesprochen werden. Das, was er als nahe herbeigekommen verkündigte, war vielmehr das «Reich Gottes» (s. d.) oder das «Himmelreich». Es konnte aber die Idee dieses Gottesreichs zunächst nur in Form einer besondern Religionsgemeinschaft verwirklicht werden, und es war nur die innere Notwendigkeit der Sache selbst, daß die ersten Christen zur lebendigen Vertiefung in die höchste religiöse Idee sich von aller Zerstreuung durch die «Welthändel» und weltlichen Beschäftigungen zurückziehen mußten.
Darum ist die «Weltflucht» allerdings die Signatur des geschichtlichen Christentum in seiner ältesten Gestalt. Aber wie schon Jesus selbst in den großen Gleichnisreden über das göttliche Reich deutlich eine weit umfassendere Aufgabe gezeichnet hatte, so war es eben die Allgemeingültigkeit des christl. Princips selbst, die es immer mehr dazu drängen mußte, aus der Stille des Privatlebens und der engsten Kreise [* 19] frommer Gemeinschaft herauszutreten und alle menschlichen Lebensverhältnisse mit dem neuen Geiste zu durchdringen.
Schon nach drei Jahrhunderten begann das Christentum seine civilisatorische Aufgabe in der Welt zu erfüllen. Es ist eine Thatsache, die kein Historiker verkennen kann, daß die geistige und sittliche Umgestaltung des Völkerlebens im Gefolge des Evangeliums Jesu Christi einhergeschritten ist, und daß noch heute die christl. Welt und Menschheit die Wiege aller durch wissenschaftliche und humanitäre Kultur bedingten Fortschritte in Kunst und Wissenschaft, im bürgerlichen, polit. und häuslichen Leben ist. Es war geschichtlich begründet, daß das Christentum diese seine welterneuernde Mission zunächst nur in kirchlich-dogmatischer Fassung übte; für die heutige Menschheit ist es notwendig, Kirche und Christentum sorgfältig zu scheiden, und jene nur als die allerdings unentbehrliche Pflanzstätte des specifisch religiösen Lebens zu betrachten, das als das lebendige Princip in alle sittlichen Lebensverhältnisse überzugehen die Bestimmung hat, doch ohne daß diese darum selbst
in kirchliche Formen gegossen würden. Die Zeit einer kirchlichen Universalmonarchie als alleiniger Trägerin des christl. Geistes ist vorüber, ebenso die Zeit eines dogmatisch beengten Lehrkirchentums oder einer exklusiv religiösen, die ganze Fülle sittlicher Lebensgebiete und Kulturinteressen als profane, unheilige Welt von sich ausstoßenden Praxis. Die hierarchisch gegliederte Theokratie des mittelalterlichen Katholicismus, der luth. Dogmatismus und der pietistische Prakticismus haben ihre geschichtliche Aufgabe erfüllt, und derselbe christl. Geist, der sich jene Formen schuf, sucht sich heute in der ganzen Breite [* 20] des sittlichen Menschen- und Völkerlebene eine neue Stätte seiner welterneuernden und weltversöhnenden Wirksamkeit. Die Gesamtzahl der Bekenner des Christentum beträgt etwa 495 Millionen.
Litteratur: Châteaubriand, Le [* 21] génie du Christianisme (5 Bde., Par. 1802 u. ö.; deutsch von Schneller, 2. Aufl., 2 Bde., Freib. i. Br. 1856-57);
Ludw. Andr. Feuerbach, Das Wesen des Christentum (Lpz. 1841);
Ullmann, Das Wesen des Christentum (Hamb. 1845; 5. Aufl., 2. Bd. der Werke, Gotha [* 22] 1865);
Bruch, Das Wesen des Christentum (in Schenkels «Allgemeiner kirchlichen Zeitschrift», 1867);
Kaftan, Das Wesen der christl. Religion (2. Aufl., Basel [* 23] 1888);
Bender, Das Wesen der Religion (4. Aufl., Bonn [* 24] 1888);
Dreyer, Undogmatisches Christentum (2. Aufl., Braunschw. 1888);
Lipsius, Die Hauptpunkte der christl. Glaubenslehre (2. Aufl., ebd. 1891).