Chinagras
- Nesselfaser - Ramee oder Ramie-Rhea (frz. ramie oder ramié; engl. China grass). Die Bastschicht der meisten Nesselarten (mit dem bot. Namen Urtica oder Böhmeria) liefert bei gehöriger Kultur ein ganz vorzügliches Fasermaterial, welches seit den ältesten Zeiten in Asien in ausgedehntem Maße verarbeitet worden ist. China und die den Himalaya umgebenden Länder waren in alter Zeit die Hauptkulturstätten für die Nesselfaser. Von da verirrten sich in früheren Jahrhunderten zuweilen Gewebe von großer Feinheit nach Europa und waren hier sehr geschätzt.
Aus China stammende Nesselgewebe oder Grasleinen (engl. Chingrass cloth) zeigten zuweilen eine solche Feinheit, daß Zweifel laut wurden darüber, ob die dazu verwendeten Fäden wirklich Gespinste seien. Mikroskopische Untersuchung hat denn auch gezeigt, daß diese Fäden durch Zusammendrehen der Enden langer Fasern entstanden sind. Diese Fäden sind flach, wie ein Bändchen von äußerst geringer Breite und nicht rund wie gesponnene Garne. Jahrhunderte hindurch ist die Nesselfaser auch in Europa (Deutschland, Schweden, Frankreich) bereitet, versponnen und verwebt worden. (Der Name Nesseltuch, welcher jetzt für ein Baumwollgewebe gilt, stammt noch aus jener Zeit.) Im Anfang des vorigen Jahrhunderts waren Gewebe aus Nesselfasern in den genannten Ländern noch ziemlich bekannt.
Die sich fortwährend steigernde Einfuhr von Baumwollgeweben aus Indien, das Emporblühen der Baumwollindustrie in England und auf dem europäischen Festlande drängte das Nesselgewebe vollständig zurück, ja ließ dies vorzügliche Material beinahe ganz in Vergessenheit geraten. Am längsten hat sich die Gewinnung und Verarbeitung der Nesselfaser noch in der Picardie gehalten. Mit dem Ende des vorigen Jahrhunderts verschwindet dieser Industriezweig aber auch dort.
Seit dem Anfange des vorigen Jahrhunderts hat es nun keineswegs an Hinweisen gefehlt, welch schätzenswertes Material im Baste der Nesselstengel enthalten ist. Männer der Wissenschaft und der Praxis haben sich wiederholt mit diesem Gegenstande beschäftigt; mehrfach sind Preise ausgesetzt worden für die besten Verfahren und Hilfsmittel zur Gewinnung und Verarbeitung der Nesselfaser. Eine größere Bedeutung hat diese Industrie aber erst wieder in der neuesten Zeit erlangt und steht für die Zukunft zu erwarten, daß dieselbe bei dem ihr von vielen Seiten gezollten Interesse eine bedeutende Steigerung erfährt.
Von nicht zu unterschätzendem Einfluß auf die Nesselfaserindustrie sind die mit dem Jahre 1851 beginnenden Weltausstellungen gewesen. Lenkten die ersten Ausstellungen durch die von den Kulturländern Asiens zur Ansicht gebrachten vortrefflichen Produkte die Aufmerksamkeit wieder auf die Nesselfaser, so zeigten die letzten zu Philadelphia 1876 und Paris 1878 bereits, welchen Aufschwung die Nesselkultur auf der ganzen Erde genommen hat und was noch weiter zu erwarten ist. - Eigenschaften der Nesselfaser: Die Nesselfaser ist bei gehöriger Pflege sehr zart, fein und besitzt grosse Festigkeit. Versuche haben ergeben, daß die Festigkeit 1½-2mal größer sein kann als die des russischen Hanfes. Die Faser besitzt weiter einen hohen, fast seidenartigen Glanz, läßt sich leicht bleichen und wird dann blendend weiß. Ungebleichte Fasern zeigen zuweilen einen Stich in's Gelbe oder Grüne, welcher von noch vorhandenem aber leicht zu entfernendem Blattgrün (Chlorophyll) herrührt. Schwierigkeiten verursachte früher das Färben
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der Nesselfaser, doch sind auch darin in neuester Zeit bedeutende Fortschritte gemacht worden. Der Anbau der Nessel ist jetzt beinahe über die ganze Erde mit Ausnahme der nördlicheren Gegenden verbreitet. Im Stammlande China wird vorwiegend Urtica oder Boehmeria nivea gezogen und gestaltet sich dort Kultur und Fasergewinnung folgendermaßen. Die Anlage einer Plantage erfolgt mit Stecklingen oder durch Wurzelteilung, nicht durch Aussaat. Das Land wird gut bearbeitet und mit Bewässerung versehen.
Die Pflanzen treiben von der Wurzel aus lange gerade, fast gar nicht verästelte Schößlinge, welche, wenn sie 1-1,2 m lang geworden sind, jedenfalls aber vor der Samenreife geschnitten werden. Die Pflanzungen bleiben 7-8 Jahre ertragsfähig und ergeben jährlich 4-5 Schnitte. Von den grünen Stengeln streift man sogleich Blätter und Oberhaut ab und gewinnt die Fasern durch leichtes Rösten und vielfach wiederholtes Waschen. Sie sind hiernach 0,5-1,0 und 1,2 m lang, rein weiß, weich und haben seidenartigen Glanz.
Durch mit großer Sorgfalt ausgeführtes Zusammendrehen entstehen Fäden, welche zu den chinesischen Grasleinen verwebt werden. Wie bedeutend die Kultur der Nesseln in China ist, ergibt sich daraus, daß die Ausfuhr an rohen Fasern 1872 bereits 3500000 kg, an Grass-cloth 10992250 k betrug. Man schätzt die ganze Produktion Chinas jetzt auf jährlich 100000000 kg; die Ausfuhr an rohen Fasern auf 4000000 kg. In Japan wird für die feinsten Gewebe ebenfalls U. nivea, daneben auch U. japonica angebaut. In Indien finden wir fast alle verschiedenen Urticeen vertreten, doch scheint man sich in neurer Zeit in ausgedehnterem Maße ebenfalls auf U. nivea zu werfen. U. tenacissima liefert das unter dem Namen Rhea im Handel bekannte Material.
Dieselbe Species ist auch in Java, Borneo, Sumatra heimisch und führen die Fasern den malaiischen Namen Ramee oder Ramie. In allen diesen Ländern ist der Anbau der Nessel seit langer Zeit und ohne Unterbrechung getrieben worden. Neu in die Kultur eingetreten sind Nordamerika, Mexico, Cuba, wo vorwiegend U. postulata gebaut wird, die mittelamerikanischen Länder, Brasilien, Australien. Große und gegenwärtig von Erfolg gekrönte Bestrebungen hat Frankreich gemacht, um den Anbau von U. nivea in den südlichen Provinzen und in Algier heimisch zu machen. Die Plantagen in letzterer Kolonie ergeben bei drei Schnitten im Jahre eine sehr gute Faser. In Deutschland sind auch einige Versuche mit dem Anbau von U. dioica und urens unternommen worden. - U. nivea eignet sich nicht, da die Wurzelstöcke den Frost nicht aushalten - doch ist die Produktion z. Z. für den Weltmarkt ohne jede Bedeutung.
Der Anbau der Nessel dürfte sich aber in Zukunft heben, da seit Entstehung der «Ersten deutschen Chinagrasmanufaktur» (F. E. Seidel u. Co.) in Zittau auf einen sicheren Absatz der gewonnenen Faser gerechnet werden kann und die Rentabilität der Kultur eine sehr gute sein soll. Es wird von verschiedenen Seiten angegeben, daß der Ertrag für 1 Hektare jährlich 500-600 Mk. beträgt. Die Pflanzung bleibt 6-8 Jahre ertragsfähig und erfordert während dieser Zeit sehr wenig Auslagen für die Unterhaltung, keine für Samen. Dadurch dürfte sich die Kultur der Nessel rentabler erweisen, als Getreidebau. - Die Qualität der Faser ist wesentlich abhängig von der größeren oder geringeren Sorgfalt bei der Kultur der Pflanze und von dem richtigen Zeitpunkte des Schnittes der Stengel. Ein und dieselbe Nesselart liefert bei verschiedener Pflege sehr verschiedenwertige Fasern. Die Unterschiede werden durch die Handelsklassifikation bereits berücksichtigt. Vor der Samenreife geschnittne Stengel liefern ein besseres Material als nachher geschnittne. Die Fasern ausgereifter Stengel sind weit spröder. - Die Verarbeitung der Nesselfaser mit Maschinen hat bisher noch ziemlich viele Schwierigkeiten verursacht; die Nesselspinnerei ist auch heute noch nicht aus dem Versuchsstadium heraus.
Die größte Schwierigkeit bietet die Isolierung der Fasern; doch scheint die Aufgabe einem Berichte der französischen Regierung zufolge nunmehr durch ein in Algier verwendetes, durch ein in Belgien übliches und durch ein der obengenannten Manufaktur im Deutschen Reiche patentiertes Verfahren gelöst. Das Verspinnen geschah anfänglich wie bei Flachs. Da aber die erzielten Resultate nicht sehr befriedigend waren, so versuchte man Nessel wie Baumwolle und später wie Kammgarn zu verspinnen.
Der letztere Weg scheint der beste zu sein. England, das Mutterland der mechanischen Spinnerei, steht auch bezüglich der Versuche mit Chinagras in erster Linie. Doch haben sich auch Frankreich und Deutschland, neuerdings auch Amerika bemüht, Verbesserungen in dem Spinnverfahren und an den einzelnen Maschinen zu schaffen. In Deutschland sind Versuche, die Nesselfaser zu verspinnen, schon früher verschiedentlich gemacht worden (Erdmannsdorfer Flachsspinnerei; H. Lindenberg in Crimmitschau; H. Kohlhase, Chemnitz; Oldenburger Spinnerei; Jutespinnerei Vechelde) aber meist Versuche geblieben.
Die erste deutsche Chinagrasmanufaktur spinnt gegenwärtig bereits Garne Nr. 40-50; bald dürfte auch Nr. 100 erreicht werden. (Nummerierung wie bei Flachsgarn.) Hauptsitz der Fabrikation ist gegenwärtig Leeds in England. Verwendung findet die Nesselfaser jetzt zu Posamentierarbeiten (Franzen, Schnuren, Borden etc.) als Verzierungsmaterial bei Geweben, denn die Weiße und der außerordentliche Glanz der Faser läßt sie selbst auf weißem Grund noch vollkommen hervortreten. (Chales von D. S. Lehmann mit Chinalancé; Damastgewebe von Girardowo in Polen mit Nesselgarneinschlag.) Dann werden auch Gewebe aus Nesselgarn allein, ebenso gewirkte Waren, Strümpfe, Leibchen etc. hergestellt. Die Engländer fertigen sogar Plüsch und Samte nach Art der baumwollnen Samte daraus an. - Verzollung: Chinagras zollfrei;
Gespinste je nach Gattung und Feinheit gemäß Zolltarif im Anhang Nr. 22 a oder b;
Gewebe und zwar Damast Nr. 22 g;
Plüsche, Samt, Posamentierwaren, gewirkte Waren Nr. 22 h;
andere Gewebe Nr. 22 e und f.