Cherson
(spr. -sson), Gouvernement im südlichen Rußland, welches den größten Teil der frühern russischen Provinz Neuserbien (zwischen Dnjepr und Bug) und die westliche Nogaier oder Otschakowsche Steppe in sich begreift und gegen N. an die Gouvernements Podolien, Kiew [* 2] und Poltawa, gegen O. an Jekaterinoslaw und Taurien (die westliche Nogaier Steppe), gegen S. an das Schwarze Meer und gegen W. an Bessarabien grenzt, mit 71,282,3 qkm (1294,6 QM.). Das Land ist großenteils Steppenland, am Meer einförmig und unfruchtbar, je weiter ins Innere hinein, wo es sich an die Region der schwarzen Erde anschließt, um so ergiebiger.
Die Flüsse [* 3] des Landes sind der Dnjepr und Dnjestr, welche auf den Grenzen [* 4] im O. und W. fließen, der Bug, Ingul und Inguletz, welche mit ihren Nebenflüssen die Mitte des Landes durchströmen, wo sie im Frühjahr austreten und fruchtbaren Humus und Schlamm zurücklassen. An ihrer Mündung bilden sie Binnenseen oder Limane, welche salziges Wasser haben, für die Schiffahrt jedoch von zu geringer Tiefe sind. An einzelnen Orten hat man der Natur durch künstliche Hafenbauten nachgeholfen.
Das Klima [* 5] ist wechselvoll, im Sommer trocken und heiß, im Winter kalt und stürmisch. Sehr verrufen sind die Januarstürme (Mjatjelje), die von NO. her oft mit ungeheurer Gewalt über die Steppe brausen und von Schneefällen begleitet sind. Die mittlere Jahrestemperatur ist 7,5-10° C. Die Bevölkerung [* 6] beträgt (1881) 1,803,155 (25 auf 1 qkm) Seelen und gehört größtenteils (ca. 84 Proz.) zur griechisch-orthodoxen Kirche; außer dieser gab es 1870: 47,703 Katholiken, 60,413 Protestanten, 3332 gregorianische Armenier und 131,916 Juden.
Das
Gouvernement hat nächst dem
Petersburger und
Moskauer die relativ zahlreichste städtische
Bevölkerung (25,9 Proz. der
Gesamtbevölkerung). Cherson
bildet in Bezug auf die herrschende
Kirche eine eigne Eparchie, an deren
Spitze
ein
Erzbischof steht, der sich
»Erzbischof von Cherson
und
Taurien« nennt. Die evangelischen Bewohner des
Gouvernements gehören zum
Petersburger Konsistorialbezirk, während die römischen Katholiken einen
Bischof in
Tiraspol haben. Der
Nationalität nach zerfällt
die
Bevölkerung in Groß- und
Kleinrussen, welche das
Gros bilden, in
Romanen (Moldo-Walachen),
Bulgaren,
Serben,
Polen, Griechen, Armenier, Deutsche,
[* 7]
Schweden,
[* 8] talmudische und karaitische
Juden und
Zigeuner.
In C. befindet sich der größte Teil der deutschen Ansiedelungen Südrußlands, ca. 70 an der Zahl, mit ca. 50,000 Kolonisten. Besonders zahlreich sind dieselben in der Nähe von Odessa; [* 9] hier finden wir Groß-Fontan, Groß-Lustdorf, Groß- und Klein-Liebenthal, Franzfeld, Straßburg, [* 10] Leipzig [* 11] u. a., deren Bewohner, meist Schwaben, Odessa mit Produkten der Landwirtschaft versorgen. Weiter nordwestlich liegen Baden, [* 12] Hoffnungsthal, Glücksthal u. a. An Fruchtbäumen gibt es Pfirsich-, Aprikosen-, Kirsch-, Pflaumen-, Maulbeerbäume; auch zieht man Wein.
Die Gartenkultur ist überhaupt hier sehr in Aufschwung gekommen.
Tabak
[* 13] (jährlich
ca. 20,000
Pud),
Senf,
Flachs,
Hanf und
alle
Sorten
Getreide,
[* 14] worunter arnautischer
Weizen,
Mais und
Hirse,
[* 15] gedeihen vortrefflich, und Cherson
gehört zu den eigentlichen
Getreidekulturländern des russischen
Staats. Sehr beträchtlich ist die
Viehzucht
[* 16] in Cherson
, und besonders in Beziehung auf veredelte
Schafe
[* 17] ist das
Gouvernement die Pflanzschule für das
russische Reich. Es gibt hier Gutsbesitzer, welche
Herden
bis zu
31,000
Merinos besitzen.
Der Herzog von Richelieu, unter Kaiser Alexander I., hat sich das Verdienst der Züchtung und Veredelung der Schafe erworben. Man zählte 1881: 1,413,088 Merinos und 856,353 gemeine Schafe. Die Gesamtzahl der Pferde [* 18] betrug 1876: 283,000, des Rindviehs 761,000, der Schweine [* 19] 311,000. Die Federviehzucht, Bienen- und Seidenzucht sind im Aufschwung, und der Fischfang im Schwarzen Meer und in den Limanen sowie in den großen Strömen des Landes liefert schon längst bedeutsame Resultate.
Die Jagd geht auf Hasen und Springhasen, wilde Katzen [* 20] und auf Federwild, besonders Trappen, Rebhühner, Schnepfen, wilde Enten [* 21] und Wasserhühner. Hummern und Schildkröten [* 22] liefert das Meer in Menge. An Mineralien [* 23] gibt es Thon, Kreide, [* 24] Sandstein, Salpeter, Salz [* 25] und einen aus einem Konglomerat von Versteinerungen bestehenden Kalkstein. Da es an Holz [* 26] fehlt, muß man Dünger, Schilf, Stroh etc. als Feuerungsmittel verwenden. Die Industrie macht in dem aufblühenden, durch die Nähe des Meers, durch gute Wasserstraßen und durch Eisenbahnen sowie durch zahlreiche Märkte begünstigten Land schnelle Fortschritte.
Während man 1822: 12, 1830: 77
Fabriken in Cherson
zählte, besaß das Land 1879 ihrer 128 mit 2345 Arbeitern und einem Produktionswert
von 6,428,000
Rubel, nämlich 8 Wollwäschereien (3,885,000
Rub.), 2 Seilereien (331,000
Rub.), 5
Eisengießereien (30,000
Rub.), 24
Mahlmühlen
(1,748,700
Rub.), 14 Maschinenfabriken (2 Mill.
Rub.), 12 Equipagenfabriken (120,000
Rub.), 17
Gerbereien (66,000
Rub.). Die
Branntweinbrennereien
des
Gouvernements, mit Ausschluß
Odessas, produzierten 1883: 23 ⅓ Mill.
Grad
Spiritus.
[* 27]
Der
Absatz sämtlicher
Märkte betrug 1871: 8,996,464
Rub., woran
Jelissawetgrad allein mit der Hälfte beteiligt war.
Große
Geschäfte werden besonders gemacht in
Wolle,
Fellen,
Flachs und
Hanf,
Getreide,
Mehl
[* 28] und Vieh. An
See-,
Hafen-,
Werft- und Handelsstädten besitzt das
Gouvernement vornehmlich vier: Cherson
,
Nikolajew,
Otschakow,
Odessa; der
Binnenhandel konzentriert
sich in den
Städten
Berislaw,
Alexandria,
Jelissawetgrad,
Wosnessensk,
Olwiopol und
Tiraspol.
Das
Gouvernement besitzt vortreffliche Lehranstalten, unter denen die 1865 errichtete
Universität zu
Odessa
(s. d.) obenan steht. Es zerfällt in sechs
Kreise:
[* 29]
Alexandria,
Ananjew, Cherson
,
Jelissawetgrad,
Odessa,
Tiraspol. Das Land, vor 100
Jahren
noch eine Einöde, verdankt sein Emporkommen der Kolonisationsthätigkeit der
Kaiserin
Katharina II., welche die
Städte Cherson
(1778),
Nikolajew (1789),
Odessa (1792) u. a. gründete. Als dann die russische
Grenze bis zum
Pruth vorrückte,
nahm die
Kolonisation noch größern
Umfang an, indem sich auch Deutsche,
Serben und
Bulgaren (vom Donaudelta),
Moldauer u.
Walachen
am
Dnjestr,
Ingul,
Bug und
Dnjepr niederließen.
Die gleichnamige Hauptstadt des Gouvernements, Hafenstadt und Werfte, früher auch Festung [* 30] und Sitz der Admiralität, am Dnjepr, 30 km vor seiner Mündung, liegt malerisch an einem Hügel am rechten Ufer des Stroms, der hier etwa 7 km breit ist, aber eine Menge schilfbewachsener Eilande trägt, die im Frühling unter Wasser stehen. Die den Kais zunächst liegenden Straßen und Plätze sind durch Dämme und Brustwehren gegen die früher verheerenden Überschwemmungen des Flusses geschützt. Die Stadt ist regelmäßig gebaut, hat 12 griechisch-katholische, eine römisch-katholische und eine luther. Kirche, 2 Synagogen und 10 jüdische Betstuben. Die Bevölkerung belief sich 1880 auf 52,782 Seelen. An Lehranstalten bestehen 2 Gymnasien, 2 höhere ¶
mehr
Töchterschulen, eine Kreisschule mit pädagogischem Kursus, ein Seminar und eine israelitische Kronschule nebst mehreren Pensionaten.
Die Industrie der Stadt erstreckt sich hauptsächlich auf Talg- und Seifensiederei, Wollwäscherei, Bierbrauerei,
[* 32] Tabaks- und
Zigarrenfabrikation und Dampfmühlenbetrieb. Der Handel Chersons
, namentlich der Export von Getreide, hat in den letzten Jahren
infolge mehrerer aufeinander folgender Mißernten eine starke Einbuße erlitten; dagegen hat sich der
Holzhandel in sehr bedeutendem Maß entwickelt.
Der Import- und Außenhandel ist von geringer Bedeutung, da das Fahrwasser im Hafen so seicht ist, daß alle Kauffahrteischiffe 40 km
weit von der Stadt, bei dem Dorf Stanislawskoje, Anker
[* 33] werfen müssen. Die frühern Befestigungen (½ km
von Cherson
), von denen nur noch zwei Thore und einige Wälle leidlich erhalten sind, umschließen große Kasernen und Magazine nebst
einer Kirche mit dem Grabmal Potemkins. Cherson
ist Sitz der meisten Gouvernementsbehörden sowie eines Kriminal- und Waisengerichts.
Früher befand sich hier auch die Admiralität, welche aber der ungünstigen Seelage Chersons
wegen nach
der Bugmündung verlegt worden ist, wo sie gegenwärtig als »Tschernomorische
Admiralitätsansiedelung« eine eigne Ortschaft bildet.
In der Umgegend von Cherson
hat man ähnliche Versuche mit dem Anbau der Baumwollstaude angestellt wie bei Odessa, jedoch keine Erfolge
erzielt. Cherson
ist 1778 vom Fürsten Potemkin angelegt. 1787 kamen in Cherson
der Kaiser Joseph II. und die Kaiserin
Katharina II. zusammen.