Titel
Chénier
(spr. schenjeh), 1)
André
Marie de, franz. Dichter, geb. zu
Konstantinopel,
[* 2] Sohn von
Louis de Chénier
, einem historischen Schriftsteller, der damals
Generalkonsul daselbst war (gest. 1796 in
Paris)
[* 3] und einer schönen und geistreichen Griechin aus dem
Hause
Santi-l'Homaka, kam 1765 nach
Frankreich zurück und trat,
nachdem er 1773-81 das
Collège de Navarre besucht hatte, als Cadetgentilhomme in das
Heer, entsagte aber
diesem
Beruf bald aus
Liebe zur
Poesie.
Eine mit seinen
Freunden unternommene
Reise nach
Italien
[* 4] und
Griechenland
[* 5] mußte er aus Kränklichkeit in
Italien abbrechen; nach
einjähriger
Abwesenheit kehrten die
Freunde nach
Paris zurück. Hier verlebte Chénier
drei glückliche Jahre, nur dem
Studium, der
Poesie und dem
Vergnügen gewidmet. 1787 versuchte er es noch einmal mit einer Berufsthätigkeit, indem
er
Herrn v.
Luzerne als Gesandtschaftssekretär nach
London
[* 6] begleitete. Allein er fühlte sich dort nicht glücklich und kehrte 1790 in
die
Heimat zurück.
Hier trat er in den Klub der Gemäßigten und verfaßte die berühmte Schrift »Avis aux Français sur leurs véritables ennemis«, in der sich seine leidenschaftliche Liebe zur Freiheit und zu den Prinzipien der Revolution, aber auch seine heftige Abneigung gegen ihre Schandthaten und Exzesse aussprach. Bei seinen Angriffen auf die Jakobiner im »Journal de Paris« (1792) geriet er mit seinem Bruder Marie Joseph, einem wütenden Jakobiner, in eine peinliche Differenz, die indessen bald beigelegt wurde.
Seit 1793 war auch sein Leben in Gefahr; er verbarg sich im stillen Versailles [* 7] und erholte sich nur durch fast tägliche Besuche im nahen Lucienne bei Frau Pourrat, für deren Tochter, Frau v. Lecoulteux (die »Fanny« seiner Oden), er eine tiefe Neigung empfand. 1794 wagte er es, nach Paris zurückzukehren; allein ein Zufall führte seine Verhaftung herbei, und 25. Juli fiel sein Haupt, drei Tage vor dem Sturz Robespierres. Die Mythen, welche sich um seine Gefangenschaft und seinen Tod bildeten, sind erst durch Becq de Fouquières endgültig beseitigt worden.
Chéniers
Bildung beruht ganz und gar auf dem klassischen
Altertum. Seine Lieblingsdichter sind die griechischen
und römischen
Lyriker, vor allen Tibull, Properz, Theokrit; mit seltener Reinheit und Tiefe spiegelt sich die
Harmonie und
Schönheit seiner Vorbilder in seinen
Poesien wider. Aber auch französische, englische, italienische, deutsche Dichter studierte
er und beschäftigte sich viel mit geographischen, historischen und astronomischen Forschungen, die er
für seine beiden großen
Lehrgedichte:
»Hermès« und »L'Amérique« zu verwerten gedachte. Leider sind
von diesen
Epen nur geringe Bruchstücke vorhanden; doch geben dieselben im
Verein mit den
Entwürfen immerhin ein ziemlich
deutsches
Bild von der Großartigkeit der
¶
mehr
Auffassung und dem ernsten Streben des Dichters. Seine bukolischen Gedichte sind zarte, graziöse Genremalereien, meist im
Spiegel
[* 9] antiken Lebens; die Elegien schildern die Freuden und Leiden
[* 10] des Poeten, sein Bedürfnis nach Freundschaft und Liebe, seine
Sehnsucht nach der Natur und seine Befriedigung im Studium; in den Episteln spricht er von dem hohen Flug,
den sein Genius zu nehmen gedachte. Die schönsten Blüten seiner Poesie finden sich in seinen Oden (»À Fanny«, »À Charlotte
Corday«, »La jeune captive«, »Versailles«) und in den Iamben (»Comme un dernier rayon«); hier ist Harmonie und Präzision der Form
mit Innigkeit und Wahrheit des Gefühls aufs glücklichste verbunden. So tritt Chénier
in scharfen Gegensatz
zu der trocknen Verstandespoesie des 18. Jahrh., wird aber doch mit Unrecht von den Romantikern
zu den Ihrigen gerechnet.
Mit größerm Recht nennt ihn Sainte-Beuve »notre plus grand classique en vers depuis Racine et Boileau«. Zu seinen Lebzeiten
sind nur zwei seiner Gedichte gedruckt worden: das »Jeu de paume« und der Hymnus auf die revoltierenden
Schweizer. Seine hinterlassenen Gedichte, meist Fragmente, wurden teilweise 1819 von Latouche veröffentlicht und mit Begeisterung
aufgenommen. Jede neue Ausgabe brachte mehr Material; allein vollständig liegen die Poesien erst vor seit der Ausgabe Gabriel
de Chéniers
(1874), eines Neffen von André Chénier.
Am meisten zum Verständnis des Dichters beigetragen haben
die geistvollen Studien Sainte-Beuves (in der »Revue des Deux Mondes« 1839, 1851) und die kritischen Ausgaben von Becq de Fouquières
(1862, 1872, 1882); dieser hat auch die prosaischen Schriften Chéniers
von neuem herausgegeben (1872). Die neuesten Pariser
Ausgaben (von Joubert 1883, Moland 1883, Manuel 1884) bieten nichts Neues; doch ist die erste empfehlenswert.
Vgl. Becq de Fouquières, Lettres critiques sur la vie, les œuvres, les manuscrits d'André Chénier
(Par. 1881).
2) Marie Joseph de, franz. Dichter, der Hauptdramatiker der französischen Revolution, geb. zu Konstantinopel, Bruder des vorigen, kam mit diesem sehr jung nach Paris und trat als Dragoneroffizier in das Heer, schied jedoch bald wieder aus, um sich ungestört der Dichtkunst zu widmen. Mit seinen ersten Tragödien fiel er gänzlich durch; dagegen fand »Charles IX« (1789) rauschenden Beifall, mehr jedoch wegen des revolutionären Inhalts und des Appells an die Leidenschaften des Volkes als wegen seines poetischen Werts.
Mit der Titelrolle dieses Stücks begründete Talma seinen Ruhm. Es folgten darauf die Tragödien: »Henri VIII«, »Calas«, »Cajus Gracchus«, »Fénelon«, »Timoléon«, die indessen weniger Beifall fanden;
ja »Gracchus« und »Timoléon« wurden streng unterdrückt, weil man in ihnen mißbilligende Anspielungen auf Robespierre argwöhnte.
Nachdem Chénier
schon Mitglied des
Konvents gewesen, trat er auch in den Rat der Fünfhundert und in das Tribunal; auf seinen Antrag wurde 1792 die Einrichtung
der Primärschulen beschlossen. Er war einer der ersten Mitglieder des Instituts, das er hatte errichten helfen, und übernahm 1803 das
Amt eines Generalinspektors des Unterrichts. Sein zur Krönung Napoleons aufgeführtes Drama »Cyrus« gefiel
weder dem Publikum noch dem Kaiser und erlebte nur eine Aufführung; gar nicht aufgeführt wurden die Tragödien: »Philippe II«,
»Brutus et Cassius, ou les derniers Romains«, »Tibère«, »Oedipe roi«, »Oedipea
Colone«, »Nathan le Sage« etc., deren Titel zumeist schon zeigen, woher sie genommen sind.
Durch den »Tibère« und
vollends durch die »Épître à Voltaire« machte Chénier
sich den Kaiser direkt zum Feind; er mußte sein
Amt als Generalinspektor niederlegen, hielt 1806-1807 am Athenäum Vorlesungen über die französischen Litteraturgeschichte
und starb Seine Tragödien enthalten mehr hohle Phrasen als Handlung, mehr Rhetorik als Poesie;
die Charaktere sind mehr skizziert als ausgeführt, es fehlte seiner eiteln, selbstgefälligen Natur die Energie der Arbeit.
Derselben Art sind seine Oden und Gesänge, welche er zur Verherrlichung der Revolution dichtete, wie die »Hymne à la Raison«,
»Hymne à l'Être suprème« etc.; dagegen ist der »Chant du départ« nächst der Marseillaise das berühmteste
Volkslied geworden. Am glänzendsten zeigt sich Chéniers
Talenten den Episteln und satirischen Gedichten; seine »Épître sur
la calomnie« (1795),
die Antwort auf den Vorwurf seiner Gegner, er habe die Hinrichtung seines Bruders mit herbeiführen helfen, ist unbestritten sein bestes Werk. Gut sind auch: »Le [* 11] docteur Pancrace«, »Les nouveaux saints« (1801),
zum Teil gegen Chateaubriand gerichtet, »La petite épître à Jacques Delille«, »L'épître à Voltaire« u. a. Unter seinen prosaischen Werken ist das wichtigste das »Tableau de la litterature française depuis 1789 jusqu' à 1808«, eine ziemlich oberflächliche Zusammenstellung, welche jedoch neben manchen Ungerechtigkeiten (z. B. gegen Chateaubriand) auch viele treffende Urteile enthält. Sein »Théâtre complet« ist herausgegeben von Daunou (Par. 1818, 3 Bde.); seine »Œuvres complètes« von Arnault (1823-26, 8 Bde.),
mit Einleitung und Untersuchungen von Daunou und Lemercier.