Titel
Chaucer
(spr. tschahßer), Geoffrey, «der
Vater der engl.
Poesie», wurde, wie neuere Forschung dargethan hat, etwa 1340 (nach
der Grabschrift aus dem 16. Jahrh. 1328) zu
London
[* 2] als Sohn des Weinhändlers John Chaucer
geboren. Zuerst
wird
C.s 1357 im Haushaltungsbuchs der Elisabeth von
Ulster, Gemahlin Lionels, des
Sohnes Eduards III., gedacht, bei der er
Page war. Okt. 1386 bemerkt eine gerichtliche Aussage, Chaucer
sei zur Zeit 40 Jahre und darüber und trage seit 27 Jahren
Waffen;
[* 3] da nun im Herbst 1359 Lionel mit Eduard III. nach
Frankreich zog, so war gewiß auch Chaucer
dabei.
Chaucer
geriet in Gefangenschaft, wurde aber schon im nächsten März ausgelöst.
Daß der Dichter dann studierte, ist nicht nachzuweisen, obwohl nicht unglaublich; ein bestimmtes gelehrtes Fach trieb er kaum. Wohl bald nach Ende des Krieges unter die «Valets of the King’s chamber» aufgenommen, erhielt er 1367 als «dilectus valetus» ein Jahrgehalt. 1366 wird zuerst seiner Frau Philippa gedacht; Ehrendame der Königin bis an deren Tod, trat sie nachher in den Hofstaat der Konstanze von Castilien, der zweiten Frau Johanns von Gaunt, Herzogs von Lancaster (s. Plantagenet).
Auf den
Tod der ersten Frau
Johanns,
Blanche (1369), schrieb Chaucer
«The Dethe of Blaunche the Duchesse»
(meist
«Boke of the Duchesse» genannt). Wichtig für
C.s dichterische
Entwicklung ist die fast einjährige
Reise nach
Italien
[* 4] 1372, wo er mit über eine genuesische
Faktorei in England zu verhandeln hatte. 1374 bekam er den geisttötenden
und arbeitsvollen Versorgungsposten, den
Londoner Hafenzoll von
Wolle,
Häuten und
Wein zu überwachen.
In den nächsten Jahren
führte er mehrere polit.
Aufträge aus, z. B. 1377 nach Flandern und nach
Frankreich. Nachdem Richard II. König geworden, ging Chaucer
(1379) nach Mailand
[* 5] mit
Aufträgen an
Herzog
Bernardo Visconti. 1386 trat er für
Kent ins Parlament. Damals brach der allgemeine
Unwille gegen Richard sowie
Johann von Gaunt und alle seine
Anhänger, darunter los. Seines
Amtes entsetzt, lebte Chaucer
nun höchst
kümmerlich; auch starb 1387 seine Frau. An die Unglücksjahre nach 1386 knüpfen sich manche Sagen, z. B.
Chaucer
habe sich
Aufständen in der City von
London angeschlossen, sei gefangen gewesen u. s. w. Meist beruhen
diese auf Mißverständnis des sicher unechten
«Testament of Love».
Als 1389 Richard und die Partei
Johanns wieder
Gloucesters (s. d.)
Anhang zurückdrängte, wurde Chaucer
als Aufseher der öffentlichen
Bauten u. s. w. zu Westminster, dann zu Windsor und in ähnlichen
Stellungen verwendet. 1391 aber verlor
er aus unbekannten
Gründen diese
Ämter. Obgleich ihn der König noch öfters unterstützte, geriet er immer tiefer in
Not,
sodaß ihm fortwährend Schuldhaft drohte. Erst als 1399
Heinrich IV.,
Johanns Sohn, den
Thron
[* 6] bestieg, sah Chaucer
bessere
Tage,
starb aber schon wohl in einem Hause im
Garten
[* 7] der Marienkapelle zu Westminster, wo er im
«Poetenwinkel» der
Abtei als erster Dichter ruht.
C.s dichterisches Schaffen teilt man mit ten Brink am besten in drei Abschnitte:
1) bis 1372 (Nachahmung der Franzosen);
2) 1372-84 (Nachahmung der Italiener);
3) 1384-1400 (freies Schaffen). Erste Periode: «Klage ans Mitleid», die (jetzt verlorene) Übersetzung des «Romans von der Rose» (s. Guillaume de Lorris),
«Auf den Tod der Herzogin Blaunche», «A-B-C oder Gebet an Maria». Zweite Periode: «Leben der Cäcilie» (nach Jakobus de Voragine, s. d., in die «Canterbury Tales» aufgenommen),
«Versammlung der Vögel» [* 8] (nach Ciceros «Somnium Scipionis» und teilweise Dante),
«Palamon und Arcite» (nach Boccaccios «Teseide»),
«Troylus und Cryseyde» (nach Boccaccios «Filostrato»),
Übersetzung von Boëtius’ «Trostschrift», «Klage von Mars [* 9] und Venus»; wenn echt, der «Liebeshof» und das «Haus des Ruhms» (an die «Divina commedia» angelehnt). Dritte Periode: «Legende von guten Frauen», «Canterbury-Geschichten», kleinere Dichtungen und «Abhandlung über das Astrolabium, [* 10] an seinen Sohn Lewis»;
so auch wohl die verlorenen Dichtungen «Buch vom Löwen» [* 11] und «Origines über Magdalene».
Die andern Chaucer
zugeschriebenen Gedichte sind wahrscheinlich unecht.
Sein Meisterwerk, die «Canterbury-Geschichten», bildet einen Cyklus von (24) Novellen (bis auf zwei prosaische in den seitdem beliebten zehn- oder achtsilbigen Reimversen); der Dichter legt sie Pilgern aus verschiedenen Ständen in den Mund, die nach dem Grabe des heil. Thomas von Canterbury wallfahrten. Wie das Werk (seit Caxtons Druck um
^[Artikel, die man unter C vermißt, sind unter K aufzusuchen.] ¶
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1475) vorliegt, ist es unvollendet. Die einzelnen Fabeln sind mittelalterlichen lat. Sammlungen, wie den «Gesta Romanorum» und altfranz. Volksbüchern, auch dem Boccaccio entlehnt. Trotzdem kennzeichnet C.s gesamtes Dichten von Anfang an ein nationaler und volkstümlicher Zug. Daher rühren die Lebendigkeit seiner Sittenschilderungen, die derbe Satire, der Humor, den er zuerst in der modernen Litteratur würdig zur Geltung bringt.
W. Tynne gab 1532 (London) die erste Gesamtausgabe der Werke C.s heraus. Nach Urry (Lond. 1721) und Bell (14 Bde., Edinb. 1782) galt die Ausgabe der Canterbury Tales von Tyrwhitt (5 Bde., Lond. 1775-78, oft aufgelegt) als die beste bis zu Nicolas (6 Bde., 1845; 8 Bde., 1870), Wright (3 Bde., Lond. 1847-51), Morris (6 Bde., ebd. ohne Jahr), Furnivalls «Six-text-edition of C.s Canterbury Tales» (1868). Skeat, der R. Bells Gesamtausgabe (4 Bde., Lond. 1878) einen «Preliminary essay» beifügte, gab C.s «Kleinere Gedichte» und die «Legende von guten Frauen» (Oxford [* 13] 1888 u. 1889) heraus, erstere auch J. ^[John] Koch (Berl. 1883), der sie auch übertrug (Lpz. 1880).
Vgl. M. Kaluza, The Romant of the Rose from the unique Glasgow [* 14] Ms.
Parallel
[* 15] with its original Le
[* 16] Roman de la Rose (Lond. 1891): ders., Chaucer
und der Rosenroman (Berl.
1893).
Eine Gesamtverdeutschung lieferte A. von Düring (Bd. 1-3, Straßb. 1883-87), Übersetzungen der «Canterbury-Geschichten» Kannegießer (Zwickau [* 17] 1827), Fiedler (Bd. 1, Dessau [* 18] 1844), eine vollständige Hertzberg (3 Tle., Hildburgh. 1866).
Über C.s Leben schrieben Godwin, History of the life and age of Chaucer
(2 Bde.,
Lond. 1803);
Todd, Illustrations of the lives and writings of Gower and Chaucer
(ebd. 1810);
Nicolas, Life
of Chaucer
(ebd. 1844);
Bond, New facts in the life of Chaucer
(in der «Fortnightly Review»,
1866);
Kißner, Chaucer
in seinen Beziehungen zur ital. Litteratur (Bonn
[* 19] 1867);
ten Brink, Chaucer Studien zur Geschichte seiner Entwicklung und zur Chronologie seiner Schriften (Bd. 1, Münster [* 20] 1870);
ders., C.s Sprache [* 21] und Verskunst (Lpz. 1884).
Vgl. auch desselben Geschichte der engl. Litteratur, Bd. 2 (Berl. 1889);
ferner: Mamroth, G. Chaucer, seine Zeit und seine Abhängigkeit von Boccaccio (ebd. 1872);
Ward, G. Chaucer (Lond. 1879);
auch Hertzbergs Einleitung zu seiner Übersetzung und Pauli, Bilder aus Altengland; Lounsbury, Studies in Chaucer, his life and writings (3 Bde., ebd. 1891);