Chateaubriand
(spr. schatohbriang), François René (nicht Auguste), Vicomte de, berühmter franz. Schriftsteller und Staatsmann, geb. 4. Sept. 1768 zu St.-Malo (Schloß Combourg) in der Bretagne aus altadliger Familie, besuchte die Collèges zu Dol und Rennes und wurde erst zum Seedienst, dann zum geistlichen Stand bestimmt, trat schließlich aber als Leutnant in das Regiment Navarra. Nach dem Tod seines Vaters ging er nach Paris, trat in Verbindung mit Parny, Ginguené, Le Brun, Chamfort u. a., unter deren Einfluß er Freidenker wurde, und schiffte sich 1791, um die nordwestliche Durchfahrt aufzufinden, nach Nordamerika ein. Hier im Urwald unter den Indianerstämmen fühlte er sich bald so heimisch, daß er jenen Zweck vergaß. Dafür befruchteten großartige Anschauungen sein Dichtergenie und gaben ihm einen reichen Stoff an die Hand, den er später in den Erzählungen: »Atala«, »René« und »Les Natchez« erfolgreich bearbeitete. Erst die Kunde von der Flucht seines Königs rief ihn 1792 zurück. Nach seiner schleunigen Vermählung mit einer reichen Erbin trat er in das Emigrantenheer, wurde bei Thionville schwer verwundet und floh nach London, wo er in großer Not lebte. Hier entstand sein »Essai historique, politique et moral sur les révolutions, etc.« (Lond. 1797, 2 Bde.), ein unreifes Gemisch von Vorurteilen, religiösen Zweifeln und philosophischen Betrachtungen nach J. J. Rousseau, noch bizarrer in der Form als in den Ideen. Die Nachricht von dem Tod seiner Mutter bewirkte in ihm eine vollständige Umkehr, er war von nun an eifriger Anhänger des positiven Christentums. In dieser Stimmung verfaßte er sein »Génie du christianisme« (1802, 5 Bde.; deutsch von Schneller, Freiburg 1856-57), eine vom Feuer der glänzendsten Beredsamkeit getragene Apologie des Christentums, die weder historisch noch dogmatisch, sondern lediglich poetisch und ästhetisch ist und sich nur an die Phantasie und an das Gefühl der Leser wendet. Um die Stimmung des Publikums zu erproben, hatte er ein Jahr vorher im »Mercure de France« den Roman »Atala«, eine Episode des »Génie du christianisme«, veröffentlicht, welcher die majestätische Schönheit der amerikanischen Natur mit der herben, entsagungsvollen Strenge des Christentums vereinigte und zwar mit solcher Pracht und Üppigkeit der Diktion, daß alle Welt entzückt war. Ähnlichen Erfolg hatte »René, ou les effets des passions«, eine Episode, welche Chateaubriand erst 1807 aus dem Hauptwerk loslöste, eine Art christlichen Werthers mit Byronschem Weltschmerz und Faustscher Genußsucht, das Abbild der Persönlichkeit des Autors selbst. Den Schluß zu »René«, der selbst eine Fortsetzung von »Atala« sein sollte, bildeten »Les Natchez«, die aber erst 1825 im Druck erschienen. Diese Dichtungen haben unzählige Nachahmungen hervorgerufen und sind in fast alle Sprachen Europas übersetzt worden. Als Chateaubriand 1800 nach Frankreich zurückkehrte, schloß er sich ernstlich dem Konsulat an (die Vorrede zum »Génie du christianisme« vergleicht Bonaparte mit Cyrus) und ging 1803 als Gesandter nach Rom; doch ward er dieser Stellung bald überdrüssig, und der am Herzog von Enghien (1804) verübte Justizmord bot ihm die erwünschte Gelegenheit, sein Amt niederzulegen. 1806 trat er seine bekannte Reise nach dem Orient an; er besuchte Griechenland, Palästina, Afrika und Spanien. Früchte derselben waren das große religiöse Epos in Prosa: »Les Martyrs, ou le triomphe de la religion chrétienne« (1809, 2 Bde.; deutsch von Fesenmair, Münch. 1864), an welchem er seit 1802 arbeitete, die Ausführung der Ästhetik des »Genie du christianisme«, indem es die Überlegenheit des Christentums über das Heidentum zur Anschauung bringen sollte; sodann das »Itinéraire de Paris à Jérusalem« (1811, 3 Bde.; deutsch von Haßler, Freiburg 1817), eine Reihe von interessanten poetischen Schilderungen der Örtlichkeiten, auf denen die »Martyrs« sich abspielen, beides Meisterwerke sorgfältiger Ausführung und harmonischen Stils. 1811 wurde Chateaubriand in die Akademie gewählt an die Stelle M. J. ^[Marie Joseph] Chéniers, des Revolutionärs und scharfen Kritikers seines »Genie du christianisme«. Da er aber statt der üblichen Lobrede eine höchst abfällige Beurteilung seines Vorgängers vorlegte, so verbot der Kaiser, die Rede zu halten. Dieser Vorgang wurde entscheidend für sein ferneres Verhalten: Chateaubriand tritt in Opposition zu Napoleon und wird nun eine politische Persönlichkeit. Sein Haß gegen den Kaiser macht sich am schärfsten geltend in dem unwürdigen Pamphlet »De Buonaparte, des Bourbons et de la nécessité de se rallier à nos princes légitimes pour le bonheur de la France et de l'Europe«, das 1814 nach dem Sturz des Kaisers erschien und für Ludwig XVIII. »eine Armee wert« gewesen ist. Während der Hundert Tage wurde er Minister, dann Pair von Frankreich; als solcher saß er auf der äußersten Rechten und war royalistischer als der König selbst, wie seine Schriften: »Réflexions politiques sur quelques écrits du jour et sur les intérèts de tous les Français« (1814), »Mélanges de politique« (1816, 2 Bde.), »De la monarchie selon la charte« (1816) beweisen. Seine Unbesonnenheit erregte den heftigsten Unwillen des Königs; erst seine »Mémoires, lettres et pièces authentiques touchant la vie et la mort du duc de Berri« (1820) brachten eine Versöhnung zu stande. Chateaubriand wurde 1820 Gesandter in Berlin, dann Minister, Gesandter in London, Bevollmächtigter auf dem Kongreß zu Verona und 28. Dez. 1822 Minister des Auswärtigen und als
mehr
solcher Haupturheber des spanischen Kriegs, welcher dieses unglückliche Land härter als je in Fesseln schlug. Seine unermeßliche Eitelkeit brachte ihn jedoch bald in Differenzen mit Villèle; er wurde ungnädigst entlassen und trat nun, voll Wut über den ihm angethanen Schimpf, in die liberale Opposition und bekämpfte als Pair mit allen Mitteln der entfesselten Presse die Villèleschen Institutionen. Seine meisterhaft geschriebene Flugschrift nach Ludwigs XVIII. Tod: »Le roi est mort; vive le roi!« wandte ihm zwar die Gunst des Hofs und insbesondere Karls X. Gnade von neuem zu, brachte ihn aber nicht ins Ministerium, daher er in seiner oppositionellen Stellung verharrte. Er schrieb nun in dem »Journal des Débats« seine glänzenden Artikel für Preßfreiheit und gegen die Zensur, für die Wiederherstellung Griechenlands (»Note sur la Grèce«) etc. und nahm unter dem liberalen Ministerium Martignac 1828 den Gesandtschaftsposten in Rom an, den er aber 1829 niederlegte, als der Herzog von Polignac Minister wurde. Mit der Julirevolution, an der er keinen Anteil nahm, trat er in die dritte Periode seines politischen Wirkens: er verweigerte dem Bürgerkönig den Eid der Treue, schied aus der Pairskammer und blieb den Bourbonen treu, unterhielt aber zu gleicher Zeit Verbindungen mit den Republikanern, besonders mit Carrel und Béranger. Die letzten bedeutenden Aktionen seines Lebens waren seine Reisen im Interesse der Bourbonen (1831 nach Prag, 1843 nach Belgrave Square); die übrige Zeit blieb er ruhig in der Abbaye aux Bois, mit der Abfassung seiner Memoiren beschäftigt, in der Nähe seiner Freundin Mad. Récamier, der er 20 Jahre lang treu geblieben ist, und in deren Salon er der Mittelpunkt und Abgott des jungen Frankreich war. Er starb 4. Juli 1848 in Paris. Die schriftstellerischen Erzeugnisse dieser Periode sind: »De la restauration et de la monarchie élective« (1831); »De la nouvelle proposition relative au bannissement de Charles X et de sa famille« (1831); »Mémoire sur la captivité de Mad. la duchesse de Berri« (1833) und eine Menge Berichte, Reden, Journalartikel meist polemischen Charakters. Ferner erschienen in diesem Zeitraum die schon erwähnten »Natchez« (1825) und »Les aventures du dernier des Abencérages«, die Erzählung eines Abenteuers in der Alhambra aus seiner Reise durch Spanien, vielleicht sein vollendetstes Werk (mit »Atala« und »René« übersetzt von M. v. Andechs, Hildburgh. 1866); »Études ou discours historiques sur la chute de l'empire romain, etc.« (1831, 4 Bde.); »Voyages en Amérique, en France et en Italie« (1834, 2 Bde.); »Essai sur la littérature anglaise« (1836, 2 Bde.); eine Übersetzung von Miltons »Paradise lost« (1836); »Le congrès de Vérone« (1838); »Vie de Rancé« (1844) u. a. Am meisten jedoch beschäftigte ihn in dieser Zeit die Vollendung seiner »Mémoires d'outre-tombe«, an denen er 1811-33 geschrieben hat. Wegen der vielen persönlichen Anspielungen, welche das Werk enthielt, sollte es erst lange nach seinem Tod veröffentlicht werden; aber die Geldnot, in der sich Chateaubriand immer befand, zwang ihn, das Manuskript um einen hohen Preis zu verkaufen, und kaum hatte er die Augen geschlossen, da begann der Verleger unter dem Druck der ungeheuern Erwartung die Publikation als Feuilleton in der »Presse«, dann in 12 Bänden (1849-50). Die Enttäuschung aber war eine allgemeine; man fand nur einen Wust von Gedanken und Gefühlen, von einander widersprechenden Urteilen und falschen Behauptungen, und man ärgerte sich über die lächerliche Eitelkeit und naive Selbstüberschätzung des Autors und über die bittern und ungerechten Urteile gegen seine Zeitgenossen. Wie die »Memoiren« aber trotzdem von großer Wichtigkeit sind für die Kenntnis der Zeitgeschichte, so haben sie auch am meisten dazu beigetragen, die ungeheure Überschätzung Chateaubriands auf das richtige Maß zurückzuführen. Ein Schriftsteller ersten Ranges in der Behandlung der Sprache, ein Dichter durch seinen Reichtum an schöpferischer Phantasie, obwohl er nie einen Vers geschrieben, als Naturmaler von einer Kraft und Üppigkeit, an welche selbst Bernardin de Saint-Pierre nicht heranreicht, durch und durch Original, steht er mit Recht an der Spitze dieses Jahrhunderts. Er ist zugleich Vorkämpfer und oberstes Haupt der Romantik in Frankreich und der Hauptvertreter der poetischen Prosa, über deren Fundgruben er mit mächtigem Zauberstab gebietet, und deren funkelnde Schätze er mit solcher Virtuosität zu bearbeiten versteht, daß das trunkene Auge neben dem blendenden Schein die Fehler der Gattung kaum gewahr wird. Der Höhepunkt seiner litterarischen Wirksamkeit sind die »Martyrs« und das »Itinéraire«, seiner politischen die Polemik gegen Villèle im »Journal des Débats« (1824 bis 1827). Und wenn in einer großen Menge seiner Schriften, besonders in seinen »Mémoires«, sich bedeutende Mängel finden in der Komposition, in Geschmack und Urteil, so darf man nicht vergessen, daß in seiner besten Zeit zwei treue Berater ihm zur Seite standen und helfend und bessernd auf seine Schriften einwirkten: für die litterarischen Werke Fontanes, für die politischen der ältere Bertin, deren Hilfe er bei den »Mémoires« entbehren mußte. Auf seine politische Thätigkeit wirft das beste Licht sein Glaubensbekenntnis in »De la restauration et de la monarchie élective« (1831): »Ich bin Anhänger der Bourbonen aus Ehrgefühl, Royalist aus Überzeugung, Republikaner aus Neigung«. Unter den zahlreichen Ausgaben seiner »Œuvres complètes« sind die von Chateaubriand selbst besorgte (1826-31, 31 Bde.) und die von Sainte-Beuve (1859-61, 12 Bde.) hervorzuheben; eine deutsche Gesamtausgabe erschien in 66 Bänden (Freiburg i. Br. 1827-28). Die einzelnen Werke sind oft aufgelegt worden, z. B. »Atala« 1862, mit Zeichnungen von G. Doré; die »Mémoires« 1856 in 8 Bänden mit Lebensbeschreibung von Ancelot. Vgl. Villemain, Chateaubriand, sa vie, ses écrits (Par. 1858, 2 Bde.); Sainte-Beuve, Chateaubriand et son groupe littéraire sous l'empire (das. 1860, 2 Bde.); L. Nadeau, Chateaubriand et le romantisme (das. 1874).