(Kt. Bern
und Neuenburg).
Kette und Gebirgsgruppe des schweizerischen Faltenjura, an dessen sö. Randzone. Auf
Grund des innern
geologischen Baues, der Tektonik, unterscheidet man ausser dem gewöhnlich unter dem Namen Chasseral oder
Gestler bekannten
Kamm (arête) noch eine Chasseral-Kette und eine Chasseral-Gruppe.
Die Chasseral-Kette zweigt sich am
Grenchen-Stierenberg im Kanton Solothurn von der S.-Flanke der Weissensteinkette nach
W. ab und kann in eine Reihe von Einzelformen zerlegt werden. Zunächst unterscheidet man die
Haute Montagne (1196 m) und
die
Basse Montagne de
Plagne (950 m), die plötzlich an der bis zu den Argovienmergeln und zum Dogger eingeschnittenen
Klus
von
Rondchâtel abbricht. W. von dieser erhebt sich das in Form einer Hyperbel von zwei Sequan-Halbkreisen
begrenzte Gewölbe des
Saisseli (1196 m), von dessen w. Halbkreis zwei auf eine Länge von 18 km mit einander parallele Sequan-Kämme
abzweigen, die sich
am Wald von
Engollon, ö.
Paquier, im
Bogen wieder vereinigen.
Die beiden
Kämme, deren s., wie bereits bemerkt, allein den geographischen Namen des Chasseral trägt,
umrahmen zwei mergelige und an der Oberfläche oft sumpfige Argovien-Comben und ein langes Oolith- oder Doggergewölbe, das
mit Bergweiden und
Meierhöfen
(La Tscharner, Jobert, Walberg,
Métairies de
Diesse und de
Gléresse oder Ligerzberg,
Pierrefeu
etc.) bestanden ist. Dieses am
Graben oder Steinersberg wannenförmig bis zum Lias geöffnete Gewölbe
bildet seiner ganzen Länge nach die Axe der Chasseral-Kette; sein höchstgelegener Teil ist ein 4 km langer scharfer
Grat,
der sog. Petit Chasseral (1573 m). Schon bevor man den geologischen Bau des Gebietes erkannt hatte, unterschied man diese
zwischen den zwei Sequan-Kämmen und den ihnen anliegenden Argovien-Comben sich erstreckende Region als
die Gebirgsmitte, wie die Namen
Métairie deBienne du Milieu
(Mittler Bielberg) oder
Métairie deNeuveville du Milieu u. a.
zeigen. Im Gegensatz dazu liegen die
Meierhöfe des
Vorderbergs
(Métairies du
Devant) am
S.-Hang des s. Sequan-Kammes (des eigentlichen
Chasseral) und die
Höfe des
Hinterbergs
(Métairies de
DerrièreChasseral) jenseits des Doggergewölbes
der Mitte in der n.
Argovien-Combe (nicht aber am
N.-Hang des n. Sequan-Kammes, dem das Volk nie den Namen Chasseral beigelegt
hat). In geologischer u. orographischer Hinsicht ist dieser n.
Grat einer «Kette zweiter Ordnung» nach Thurmann (Essaisur lessoulèvements jurassiques dePorrentruy. 1832) mit dem
Hubel, der
Egasse etc. blos das n. Gegenstück des eigentlichen Chasseralkammes,
d. h. der stehen gebliebene N.-Schenkel
¶
mehr
des jetzt durch die Thätigkeit der Erosion geöffneten, einst aber einheitlichen Gewölbes der Chasseralfalte oder -kette.
Die Chasseral-Gruppe umfasst die ganze Faltenserie, d. h. das Gebirgsland zwischen den Thälern von St. Immer und Péry im
N. und dem Plateau der Montagne de Diesse im S. Man erkennt in der Sackgasse (impasse; unvollendete Klus
oder Erosionsquerthal) der sog. Combe Grède mindestens zwei Falten jurassischen Alters, die derjenigen des in der Gegend der
Métairie deNeuveville du Milieu selbst wieder doppelt ausgebildeten Chasseral parallel angelagert sind und die sich am Knoten
des Bec à l'Oiseau, s. Renan, zur Kette der Tête de Rang vereinigen. (Vergl. Rollier, Louis. Structureet histoire géolog. ... duJuracentral in Matériaux pour la carte géolog. de la Suisse. 8. livr., 1. supplém. 1893).
Die Doppelfalte im Dogger der eigentlichen Chasseralkette entsteht ihrerseits aus der Verwachsung der Falte von La Joux du Plâne
mit derjenigen des Chasseral; diese letztere setzt sich in ähnlicher Weise weiterhin noch im Sapet (über
Dombresson) und Chaumont (über Neuenburg)
fort. Der Knotenpunkt dieser letztgenannten Falten liegt genau an der Stelle des MeierhofesChuffort, auf der Passhöhe des Weges von der Montagne de Diesse ins Val de Ruz. Wenn man den Chaumont als
selbständige Kette auffasst, muss man hier die Chasseralkette endigen lassen, deren Länge dann vom Grenchenstierenberg
an ca. 32 km beträgt. Man sieht somit, dass die Jurafalten genau gleich denjenigen eines zusammengeschobenen Tischtuches
sich gegenseitig ablösen, verzweigen und wieder zusammenfliessen. Einige bleiben auch isoliert, wie z. B. diejenige des
dem Chasseral vorgelagerten Spitzbergs (Mont Sujet). Im W. endigt die Chasseralkette mit den abgerundeten
Rücken des Rumont und der Waldungen von Aigremont und Engollon.
(Le), deutsch Gestler (Kt. Bern
und Neuenburg).
Gipfel und Bergzug des Jura, an dessen SO.-Rand; n. vom Bielersee und s. vom Thal
von St. Immer. Bildet einen langen Sequan-Kamm. Höchster Punkt 1609 m (trigonometrisches Signal),
14 km
w. Biel und 5,1 km sö. St. Immer, 18 km nö. Neuenburg
und 8,1 km n. Le Landeron. Von hier führt ein guter Fahrweg zum Gipfel; Fussgänger
ersteigen den Berg längs der Grashalden in bequem 2-3 Stunden. Von St. Immer erfordert die Besteigung
weniger als 2 Stunden; Wagen auf der Poststrasse St. Immer-Val de Ruz bis Le Bugnenet. Auf dem Kamm, 2 km w. vom Gipfel, 1878 erbautes
Hôtel-Restaurant. Aussichtspunkt ersten Ranges mit einem der umfassendsten und grossartigsten Panoramen der Alpen; gegenüber
Jungfrau, Mönch, Eiger und Finsteraarhorn (dieses etwas von der Seite gesehen).
Der Chasseral ist der vollendete Typus eines Sequan-Kammes (crêt séquanien); die aufgerichteten Kalkbänke brechen nach
N. mit den Schichtköpfen in steiler Wand ab, während die Schichtflächen am S.-Hang eine einheitlich geneigte, dachförmig
schiefe Ebene bilden. Von der Métairie de l'Isle im W. bis oberhalb Orvin im O., d. h. auf eine Länge
von mehr als 10 km, zieht sich über einem untern Waldgürtel (Wald von Neuenstadt und Nods, ca. 950 ha) eine breite Zone von
Bergweiden hin. Gerade unterhalb des Gipfels fällt nach N. eine schuttbedeckte Felshalde ab, der Standort einer Reihe von
alpinen Pflanzen.
Flora.
Obwohl in dieser Hinsicht der Chasseral gegenüber den Höhen des w. und s. Jura im Nachteil ist, weist er doch eine ganze
Anzahl von für die jurassische Flora bemerkenswerten Pflanzen auf: Alpen-Windröschen(Anemone alpina) und narcissenblütiges
Windröschen (Anemone narcissiflora), die beide hier ihren nördlichsten Standpunkt erreichen;
minima, Tozzia alpina, Androsace lactea, Salix retusa, S. reticulata, Herminium monorchis, Epipogium aphyllum, Allium victorialis,Phleum alpinum, P. Micheli, Festuca pumila, Lycopodium selago, Blechnum spicant, Veronica aphylla etc. Von allen am Chasseral
wachsenden Arten sind aber die für den Jura interessantesten Rhododendron hirsutum (Vorkommen zu verschiedenen Malen bestritten,
aber von glaubwürdigen Botanikern wirklich gefunden; seither leider ausgerottet) und Arctostaphylosalpina. Verschiedene Mitglieder des S. A. C. geben sich viele Mühe, um das Hôtel einen kleinen Garten anderer alpinen Pflanzen
anzulegen.
Hinter dem Grat des Chasseral, in der feuchten und kalten Gegend des Bois Raiguel, stocken zahlreiche Lärchen, welcher Baum
im Jura nicht einheimisch ist. Hier ausserdem noch eine grosse Menge von sehr schönen Heidelbeeren (Vacciniummyrtillus). Einer der allerbeachtenswertesten botanischen Standorte des Jura sind die am Fuss der Roche (S.-Flanke, ö. vom
Signal) angehäuften Schutthalden. Hier gedeihen Linaria alpina;
die schönen Büschel von Erysimum ochroleucum (schon Abraham
Gagnebin aus La Ferrière und Haller bekannt), des blassgelben Schotendotters, dessen Wohlgeruch ganz demjenigen
des an den Felsen des Schlossbergs wachsenden Goldlacks (Cheiranthus cheiri) gleichkommt;
Bupleurum longifolium und B. ranunculoides.
An den Steinhalden der Combe Biosse: Centranthus angustifolius, Pedicularis foliosa var. jurana Steininger;
Die auf frischen Waldlichtungen massenhaft gesammelten Erd- und Himbeeren
kommen in den benachbarten Städten auf den Markt.
Den Hauptreichtum der Bürgergemeinden bilden, wie überhaupt im ganzen Jura, die die Berghänge (Joux) bedeckenden Fichten-
oder Rottannenwälder. Die Weisstanne zieht den Schattenhang (Envers) vor und steigt nicht sehr hoch an. Ueberall streitet
die Buche mit den Nadelhölzern um ihre Existenz. Die Waldföhre oder Kiefer (Pinus silvestris) ist selten
und bevorzugt sandigen und warmen Boden, während umgekehrt ihre var. hamata, gleichwie die Birke, die kalten und feuchten
Gegenden (Pontins etc.) liebt.
Die Stieleiche steigt nicht über den S.-Fuss des Chasseral (La Praye); der Ahorn umgibt in grossen, oft
durch den Blitz gespaltenen Exemplaren alle Meierhöfe der Berggegend. Das Holz der Eberesche und des Mehlbeerbaums ist ein
gesuchter Artikel für Drechsler. Das früher zum grossen Schaden der Bäume betriebene Harzsammeln (Burgunder Terpentin)
ist heute verboten; überall zeigen die alten Baumstämme noch die Spuren der vor mehr als einem halben
Jahrhundert dadurch erlittenen Verstümmelungen.
Fauna.
Bis jetzt sind die Höhlen des Chasseral noch nicht untersucht worden; es ist aber wahrscheinlich, dass vor der bis in die
keltische Zeit hinaufreichenden Besiedelung der ThälerBär und Luchs nicht selten gewesen sind. In strengen Wintern verirrt
sich heute noch der Wolf aus den Vogesen bis hierher. Wildschweine sind nie beobachtet worden, sie gehen
nicht weiter als bis zum Doubs und ins Thal von Delsberg. Hoch oben am Berg an stark bewaldeten Hängen finden noch Wildkatze
und Auerwild (Tetrao urogallus) einen Zufluchtsort; die Auerhenne wählt zur Aufzucht ihrer Nachkommenschaft mit Vorliebe
die Busch- und Felswildnisse der abgelegensten Tannendickichte (Bois Raiguel, Forêt de Chuffort, etc.). Der Nusshäher (Nucifragacaryocatactes) nistet im Februar bis März in jenen Gehölzen.
Geologie.
Natürliche Merkwürdigkeiten am Chasseral sind eine noch nicht untersuchte senkrechte Kluft (taue) etwas ö. unter dem Signal,
in der schon Vieh verunglückt ist; eine grosse Höhle auf halber Bergeshöhe im Wald von Nods; eine natürliche
Eisgrotte, der Creux de Glace, am N.-Hang (Fussweg Courtelary-MittlerBielberg), wo durch die starke nächtliche Strahlung die
feuchte Luft derart abgekühlt wird, dass sich am Boden eine Eisschicht gebildet hat und sich in der Höhle befindliche Gegenstände
mit einer Eiskruste überziehen. Zudem wird der Eingang bis spät im Jahr von einem durch die Winterstürme
zusammengewehten Schneehaufen verdeckt.
Die in paläontologischer Hinsicht bemerkenswerteste Stufe der Juraschichten am Chasseral ist das
die beiden Gräte der Kette
aufbauende Sequan. Der Fundort Chasseralles oder Chesseralles von fossilen Seeigeln und Korallen findet sich
schon in alten Verzeichnissen von Versteinerungen (Bourguet 1742). Man findet solche Fossilien an den verschiedensten der
Verwitterung zugänglichen Stellen, so besonders zwischen den einzelnen Kalkbänken, längs der Fusswege und an den Schutthalden.
In dieser Hinsicht sind namentlich die Umgebungen des Egasse schon öfters abgesucht worden; die hier gemachte, sehr vollständige
Ausbeute wird im Museum Schwab in Biel aufbewahrt. Es sind Cidaris philastarte, Hemicidaris stramonium und H. intermedia,Acrocidaris nobilis etc. An der Basis der Sequanstufe liegen ganze Bänke voller Stöcke und Bruchstücke der Korallenbauten
des jurassischen Meeres.
Auf dem Gipfel weisse Oolithe (mit Diceras und Nerinaeen) gleichen Alters wie die bekannten Fundstellen
von St. Verena bei Solothurn
und Valfin. Auch die Schichten des Dogger (Mittler Bielberg) sind reich an interessanten Faunen. Dagegen
fehlt fast vollständig die Oxfordstufe mit ihrer Fauna von pyritischen Ammoniten. Die Mergel der Argovien-Comben an der
Basis des Malm liefern Ammoniten und Schwämme. Zu nennen sind endlich noch die in den Mulden der Métairie
du Plâne, s. St. Immer, und von Unter Graffenried, sö. Villeret, eingeklemmten fossilführenden Neocomfetzen, sowie die auf
dem Doggergewölbe des Jobert und unter dem Grat des Chasseral in mehr als 1300 m Höhe liegenden erratischen Blöcke.
Bevölkerung und Wirtschaftliches.
Einige der Höfe und Meiereien am Chasseral gehören Wiedertäufern, die zusammen eine gemeinschaftliche
Winterschule mit Unterricht in deutscher Sprache unterhalten; deutsch sprechen auch sonst die Mehrzahl der Pächter und Sennen
dieses Berglandes. Die ausgezeichnete Butter vom Chasseral wird in die benachbarten Städte (Biel, Neuenburg)
verkauft; auf dem Berg
und in einzelnen der umliegenden Dörfern wird der harte und etwas magere sogenannte Greierzerkäse (fromage
de Gruyère), sowie während der ersten Wochen des sommerlichen Viehauftriebes der geräucherte und ungesalzene sogen. «séret»
hergestellt. Zu Beginn des Winters brennt man überall aus den gegohrenen Wurzeln des dann auf den Bergweiden reichlich wachsenden
gelben Enzians (Gentiana lutea) einen bitter schmeckenden Branntwein von hohem Alkoholgehalt, der als
Kräftigungs- und Erfrischungsmittel gilt.
Einige Bauern und Sennen, besonders die der kleinem Höfe auf magerem Boden, treiben Viehzucht; auf den Allmenden, den den
umliegenden Bürgergemeinden gehörenden grossen Bergweiden, sömmert das Jungvieh wie in den Alpen, und dem Gipfel des Chasseral
statten zeitweise Ziegenheerden ihre Besuche ab. Das Halten von Schafen ist dagegen wegen der von diesen
in den Waldungen angerichteten beklagenswerten Schädigungen verboten worden. In einer Anzahl von Meierhöfen wird das Vieh
auch überwintert.
Quellen finden sich im allgemeinen nur spärlich und nur solche von geringem Ertrag, weshalb auch hier, wie überall
im Jura, das Regenwasser von den Dächern in einer Cisterne oder Kufe aufgefangen wird. Einigen kleinen Wasseradern begegnet
man hie und da in den Argovien-Comben und am Fusse der Schutthalden des Sequan.
Die Luft auf dem Berge ist meist trocken, ausgenommen während der wenigen Nebeltage im Frühjahr oder nach lange
andauerndem Regen. Die Sommertage können oft recht warm sein, doch wirkt die Hitze nie drückend; die an den Abenden stets
bewegte Luft erzeugt einen kalten absteigenden Wind, den Joran; die Nächte sind kühl. Von ganz besonderem Reiz ist der Sonnenaufgang,
und es ist am Chasseral ein alter Brauch die Nacht und den anbrechenden Morgen der sommerlichen Sonnenwende
zu feiern.