Titel
Chasles
(spr. schahl), 1)
Michel,
Mathematiker und
Physiker, geb. zu
Epernon, besuchte 1812-14 die polytechnische
Schule in
Paris,
[* 2] lebte dann in
Chartres als
Wechselagent, mit geometrischen
Studien beschäftigt, erhielt dort 1825 eine Professur,
ging 1841 als
Professor der
Geodäsie und Maschinenkunde an der polytechnischen
Schule nach
Paris, erhielt 1846 den
für ihn errichteten Lehrstuhl der höhern
Geometrie an der
Fakultät der
Wissenschaften und starb daselbst. Chasles
war
einer der bedeutendsten
Mathematiker der Gegenwart, er löste nach eignen
Methoden mehrere der schwierigsten
Probleme der höhern
Geometrie und begründete die sogen. neuere
Geometrie.
Auch für
Physik und
Astronomie
[* 3] lieferte er wichtige
Arbeiten, und namentlich haben seine Untersuchungen alter Nachrichten über
Sternschnuppen für die
Wissenschaft wertvolle
Resultate geliefert. Seit 1867 erregte er großes Aufsehen durch die
Publikation
angeblicher
Autographen
Pascals, woraus hervorging, daß dieser und nicht
Newton der Entdecker der Gravitationsgesetze sei.
Chasles
war nämlich 1861 in den
Besitz einer
Autographensammlung ohnegleichen gelangt und brachte für seine Behauptungen immer
neue
Belege bei.
Schließlich mußte er aber 1869 bekennen, daß alle diese Autographen gefälscht und er selbst das Opfer einer Mystifikation geworden sei. Er schrieb: »Apercu historique sur l'origine et le développement des méthodes en géometrie« (2. Aufl., Par. 1876; deutsch von Sohncke, Halle [* 4] 1839);
»Traité de géometrie supérieure« (Par. 1852; deutsch von Schnuse, Braunschw. 1856);
»Traité des sections coniques« (Par. 1865, Bd. 1);
»Rapport sur les progrès de la géometrie« (das. 1871).
2)
Philarète, franz.
Kritiker, geb. zu Mainvilliers bei
Chartres, ward von seinem
Vater, einem
alten
Jakobiner, nach Rousseauschen
Ideen erzogen und kam im
Alter von 15
Jahren in die
Lehre
[* 5] zu einem
Buchdrucker, einem eifrigen
Jakobiner, mit
dem er nach der
Restauration verhaftet wurde. Auf Verwendung
Chateaubriands freigelassen, ging er nach
England,
wo er in einer Buchdruckerei beschäftigt war und sich eine gründliche Kenntnis der englischen Litteratur
erwarb. Nach einem siebenjährigen Aufenthalt in
England (1819-1826) verweilte er kurze Zeit in
Deutschland
[* 6] (die
Frucht dieses
Aufenthalts war eine freilich ziemlich mangelhafte Übersetzung des
Jean Paulschen
»Titan«) und kehrte hierauf nach
Frankreich
zurück, wo er sich durch seine
Aufsätze über die
englische Litteratur in der
»Revue encyclopédie« bald
bekannt machte. 1824 wurde sein
»Discours sur la vie et les ouvrages de
Jacques
Auguste de
Thou« (Par. 1824) und vier Jahre später
sein
»Tableau de la marche et des progrès de la langue et de la littérature française depuis le commencement
du XVI. siècle jusqu'en 1610« (das. 1828) zugleich mit
Saint-Marc
Girardins
Arbeit von der
Akademie gekrönt. 1837 wurde Chasles
zum
Bibliothekar an der Bibliothèque
Mazarin und 1841 zum
Professor der nordischen
Sprachen und
Litteraturen am
Collège de
France
ernannt, welche
Stelle er bis an seinen
Tod
¶
mehr
bekleidete. Er starb in Venedig.
[* 8] Chasles
war ein ungemein fruchtbarer Schriftsteller. Außer mehreren Geschichtswerken:
»Révolution d'Angleterre; Charles I., sa cour, son peuple et son parlement« (1844; deutsch, Mainz
[* 9] 1845),
»Olivier Cromwell, sa vie privée, ses discours publics, sa correspondance particuljère« (1847) u. a., schrieb er Romane, Novellen, Erzählungen von allen Farben, Sittenschilderungen, Reisebilder, hauptsächlich aber (für das »Journal des Débats«, die »Revue de Paris«, »Revue des Deux Mondes« etc.) litterarische Abhandlungen und Feuilletons, die durchgängig geistreich geschrieben sind, aber mit allzu deutlicher Absicht auf gesuchte Wendungen, Paradoxen, Überraschungen aller Art ausgehen.
Die wichtigsten dieser Aufsätze gab E. unter dem Titel: »Études de littérature comparée«, später »Œuvres« (1847-77) gesammelt heraus. Wir erwähnen davon: »Études sur le moyen-âge«;
»Études sur le XVI. siècle en France«;
»Études sur l'Espagne«;
»Études sur le XVIII. siècle en Angleterre«;
»Études sur les hommes et les moeurs au XIX. siècle«;
»Études sur W. Shakespeare, Marie Stuart et l'Arétin«;
»Études sur l'Allemagne ancienne et moderne«;
»Voyages d'un critique à travers la vie et les livres«;
»Études contemporaines«;
»L'antiquité« und »La psychologie sociale des nouveaux peuples« (aus dem Nachlaß, 1875).
Auch Übersetzungen aus dem Lateinischen und Englischen
hat Chasles
geliefert. Seine »Mémoires« erschienen 1876-78 in 2 Bänden, befriedigten aber die daran geknüpften
Erwartungen nicht. - Sein Sohn Emile Chasles
, geb. 1827, nacheinander Lehrer zu St.-Menehould, Mâcon und Douai, dann an den Fakultäten
zu Dijon
[* 10] und Paris, seit 1873 Generalinspekteur für den Unterricht in neuern Sprachen, veröffentlichte eine »Étude sur la
comédie au XVI. siècle« (1856); »Michel de Cervantes, sa vie, son temps, son œuvre« (2. Aufl. 1866)
u. a.