Titel
Chárkow.
1) Gouvernement in der südl. Hälfte des europ. Rußland, zu den kleinruss. oder ukrainischen Gouvernements gehörig, grenzt im N. an die Gouvernements Kursk und Woronesch, im O. an das Land der Donischen Kosaken, im S. an Jekaterinoslaw, im W. an Poltawa und hat 54495,2 qkm mit (1890) 2390433 E. (43,8 auf 1 qkm). Der Boden ist an der Nordgrenze erhöht, besonders aus der Wasserscheide zwischen Don und Dnjepr, und senkt sich allmählich nach Süden, doch ragen an der Südgrenze wieder Ausläufer des Donezkischen Höhenzugs herein. Im östl. Teil findet neben der Senkung nach S. auch eine terrassenförmige Abstufung nach O. statt. Die Höhenmessungen schwanken zwischen 136 und
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234 m. In geolog. Beziehung wiegt die Kreideformation [* 4] vor. An einzelnen Stellen finden sich Eisenerze und Steinkohlen. Die oberste Schicht ist fruchtbare Schwarzerde. Der Waldbestand ist gegen früher sehr gering. Die fließenden Gewässer geboren im W. zum Gebiet des Dnjepr (Sula, Psjol, Worskla) und im O. zu dem des Don (der Nördliche Donez mit seinen Nebenflüssen, besonders dem Oskol). Keiner der Flüsse [* 5] ist schiffbar. Das Klima ist gemäßigt, aber sehr schwankend.
Die Temperatur geht im Sommer bis 35°, im Winter bis -37,5°, und ist im Jahresmittel 6° C. Die Bevölkerung (zu 87,8 Proz.
Kleinrussen) gehört größtenteils der russ.-orthodoxen Kirche an und bildet in kirchlicher Beziehung die
Eparchie Charkow
-Achtyrka (gegründet 1799). Die Andersgläubigen, darunter 3500 Katholiken, 2800 Protestanten, 6500 Israeliten,
bilden nur 0,9 Proz. der Bevölkerung.
[* 6] Die Hauptbeschäftigung ist Ackerbau und Viehzucht,
[* 7] besonders Schafzucht. 1888 bestanden
im Gouvernement 536 Fabriken mit einer Produktion von nahezu 18 Mill. Rubel.
Von Bedeutung sind die Wollwäschereien, Mühlen
[* 8] und Branntweinbrennereien. Der Handel ist beträchtlich.
An Eisenbahnen liegen in Chárkow
die ganze Sumy-Bahn (Merefa-Woroshba), 242 km, ferner von den Linien Kursk-Chárkow
-Asow 233, Chárkow-Nikolajew
68, Kursk-Kiew 45, Koslow-Woronesch-Rostow 57, zusammen 645 km. Neben der Universität in der Stadt Chárkow
besteben (1890) 528 mittlere
und niedere Schulen mit rund 50000 Schülern, davon ein Fünftel Mädchen. Das Gouvernement zerfällt
in die 11 Kreise:
[* 9] Chárkow
, Achtyrka, Bogoduchow, Walki, Woltschansk, Smijew, Isjum, Kupjansk, Lebedin, Starobjelsk und Sumy. - Städteüberreste,
Kurgane, Baby (s. Baba 2), letztere nur im S., bilden Denkmäler vorhistor. Völker. Im 10. Jahrh. waren daselbst, zum Teil seßhaft,
Chasaren, Petschenegen, Polowzen u. a., im 13. Jahrh. drangen Tataren ein. Zu Anfang des 17. Jahrh. wanderten
Kosaken ein, gründeten Städte und Sloboden. Die Verfassung war eine militärische und das Land wurde bekannt unter dem Namen
der Slobodskischen Ukraine. Das Gouvernement Chárkow
in seinem heutigen Bestande wurde 1835 errichtet. - 2) Kreis
[* 10] im mittlern Teil des Gouvernements Chárkow
, hat 3306,2 qkm, 344762 E. (85 Proz. Kleinrussen), Ackerbau, Vieh-, auch Bienenzucht
[* 11] und 46 Fabriken.
- 3) Hauptstadt des Gouvernements und des Kreises Chárkow, an den Flüßchen Charkowka
, Netetscha und Lopanj,
die mit dem Udy zum Nördlichen Donez gehen, sowie an der Staatsbahn Kursk-Chárkow
-Asow-Rostow und an der Linie
Jelisawetgrad-Chárkow
der Staatsbahn Chárkow-Nikolajew, liegt auf welligem, stellenweise niedrigem, selbst sumpfigem Boden und wird
durch die Flüsse in drei Stadtteile geteilt.
Sie hat im allgemeinen ein hübsches Aussehen, nur die Straßen der Vorstadt sind nicht gepflastert. Die Bevölkerung betrug
1856: 30600, 1866: 60798, 1879: 102049, 1888: 194702 E., darunter etwa 60 Proz.
Großrussen, 29 Proz. Kleinrussen, 5 Proz. Juden und 2 Proz. Deutsche.
[* 12] Chárkow
ist Sitz des Gouverneurs und des Erzbischofs,
der Kommandos des 10. Armeekorps, der 31. Infanteriedivision und der beiden Brigaden derselben, der 10. Kavalleriedivision;
in Garnison liegt das 121. und 122. Infanterieregiment, das 1. Orenburg-Kosakenregiment und das 61. Reservebataillon.
Chárkow
hat 1 Kathedrale mit Glockenturm, 26 andere russ. Kirchen, 1 kath., 1 prot.
Kirche, 1 Synagoge. Von den Unterrichtsanstalten steht obenan die kaiserl. Universität (gegründet 1803) mit histor.-philol., physik.-mathem., jurist. und mediz. Fakultät, botan. Garten [* 13] und (1890) 96 Docenten und 1300 Studenten und einem Budget von 537213 Rubel. Dann folgen 1 Technologisches Institut (500 Studenten), 1 Veterinärinstitut, 1 Stift für adlige Fräulein (seit 1818), 3 Knaben-, 2 Mädchen-Gymnasien, 1 Knaben-, 1 Mädchen-Progymnasium, Realschule, Kreisschule, Geistlichen-Seminar, Hebammenschule, 2 Feldscherschulen (darunter 1 für Frauen), zahlreiche Elementar- und Privatschulen.
Ferner giebt es eine Naturforscher-, eine mediz., eine agronom., eine histor.-philol. Gesellschaft, eine
Abteilung der Russischen Musikgesellschaft mit Musikklassen, 2 Theater,
[* 14] 2 Tageblätter und 8 Fachzeitschriften. An Kreditinstituten
sind vorhanden: eine Abteilung der Russischen Staatsbank, die städtische Kommunalbank, die Charkower
Handelsbank, die Charkower
Aktien-Landesbank, eine Filiale der Wolga-Kama-Kommerzbank, eine Agentur der Landesbank von Poltawa und drei gegenseitige
Kreditgesellschaften.
Ferner giebt es eine 1838 gegründete Wollhandelscompagnie, eine Charkower
Zuckerraffinade-Gesellschaft, eine Feuer-Versicherungsgesellschaft
auf Gegenseitigkeit und gegen 100 Fabriken mit einer Produktion von 6 Mill. Rubel, darunter Wollwäschereien, Equipagen-,
Lack-, Tabak- und Cigarrenfabriken. In Bezug auf Handel ist Chárkow
einer der bedeutendsten Plätze Rußlands; es vermittelt den Verkehr
zwischen dem Norden
[* 15] und dem Süden. Aus dem Auslande eingeführt werden (zumeist durch die Ostseehäfen,
namentlich Libau;
[* 16] die Einfuhr durchs Schwarze Meer ist im Abnehmen) Maschinen (namentlich landwirtschaftliche) und Maschinenteile,
Manufakturen, Thee, Tabak
[* 17] und Wein. Von den 4 Jahrmärkten in Chárkow
ist der kreschtschenskische (vom 10. Dez. a. St. bis 27. Jan.; Umsatz 34 Mill.
Rubel) der bedeutendste. - Der Sage nach wurde Chárkow
von dem Kosaken Chariton oder Charko gegründet, 1556 mit hölzerner Befestigung
versehen, später war es der Bezirksort des Charkowschen und Tscherkassischen Regiments. 1708 gehörte es zum Gouvernement
Kiew,
[* 18] 1732 zum Gouvernement Bjelgorod, 1765 wurde es Hauptstadt des Slobodsko-Ukrainischen Gouvernements, 1780 der
Statthalterschaft Chárkow, 1796 wieder des Slobodsko-Ukrainischen Gouvernements und 1835 des Gouvernements Chárkow.