Chariten
[* 1] (griech., ungut: Charitinnen, lat.
Gratiae,
Grazien), die Göttinen ^[richtig: Göttinnen] der
Anmut.
Schon
bei
Homer erscheint
Charis
(»Anmut«) als
Gattin des
Hephästos
[* 2] im
Kreis
[* 3] der
Göttin der
Schönheit. Jedenfalls aber hat sich die
Idee schon sehr früh zu einer
Mehrzahl von
Wesen erweitert, welche die
Anmut überhaupt repräsentieren, wie sie in den geselligen
Verhältnissen hervortreten soll. So nennt Hesiod als Gemahlin des
Hephästos
Aglaia, »die jüngste der
Chariten«
, und
Homer Pasithea, »der jüngern Chariten
eine«, als bestimmt zur
Ehegemahlin des
Schlafes, sowie die Chariten
als die Dienerinnen der
Aphrodite.
[* 4]
Wie aber ihre
Namen verschieden angegeben werden, so auch ihre
Genealogie. In
Böotien sollen von alters her drei Chariten
verehrt
worden sein, die schon bei Hesiod die
Namen
Aglaia,
Euphrosyne und
Thalia führen. Ihr
Vater ist nach ihm
Zeus,
[* 5] die
Mutter die Okeanostochter
Eurynome; nach andern stammen sie von
Helios
[* 6] und
Ägle
(»Glanz«). In
Athen
[* 7] und
Sparta (wo sich
ein berühmtes Heiligtum der Göttinnen am
Fluß Tiasa befand) kannte man nach
Pausanias nur zwei Chariten
, dort
Auxo (»Wachstumbeförderin«) und
Hegemone (»Führerin«),
hier
Kleta
(»Schall«)
[* 8] und
Phaenna (»Schimmer«) genannt. Übrigens war
es nicht ausgelassene Lust, welche die Chariten
spendeten, sondern vielmehr durch die
Reize der
Anmut verklärte
Freude, und nicht
sowohl das Gebiet des sinnlichen
Lebens war es, auf welchem sie sich bewegten, als die geistigern Genüsse
der
Musik, des
Tanzes, der
Kunst,
Poesie und
Beredsamkeit, welche durch sie erst die rechte
Weihe der
Schönheit empfingen, so daß
der eine Dichter erklärt, er wolle keine
Aphrodite, der andre, er wolle keine
Musen
[* 9] ohne die Chariten
sehen.
Darum ist schon bei
Homer
Charis dem kunstverständigen
Hephästos beigesellt und sind die
Meister der
Kunst
die Lieblinge der Chariten
In der spätern mehr reflektierenden Zeit galten sie außerdem noch als
Sinnbilder des Wohlthuns, des
dankbaren Hinnehmens und der
Vergeltung. Ein uralter Kult war ihnen in
Böotien gewidmet, wo
Eteokles denselben eingeführt
haben soll; in
Orchomenos ward ihnen am
Kephisos ein
Fest (Charisia oder Charitesia) gefeiert, wobei
Sänger
und Dichter um den
Preis kämpften.
Die
Bilder der Chariten
waren im Anfang, wie die der meisten
Gottheiten, nur rohe
Steine. Die fortgeschrittene
Kunst stellte sie zuerst
bekleidet dar; so befanden sich goldene
Statuen der Chariten
zu
Smyrna (im
Tempel
[* 10] der
Eumeniden) und ein Marmorrelief,
welches in
Nachbildungen
(Vatikan,
[* 11]
Athen etc.) noch vorhanden ist, angeblich von dem
Philosophen
Sokrates gearbeitet, vor dem
Eingang der
Akropolis
[* 12] in
Athen. Im weitern Fortgang der Kunstentwickelung nahm man die Bekleidung immer leichter, bis man sie
zur Zeit des
Skopas und des
Praxiteles, wo das
Nackte mehr und mehr Eingang in die
Kunst fand, ganz fallen
ließ. Bestimmte
Attribute fehlen den Chariten
meistens, nur ist für sie das gegenseitige sich Anfassen und Umarmen charakteristisch
(vgl. Abbildung). Die bekannte Gruppierung, welche auch
Canova seinem berühmten Werk gegeben, ist eine
Erfindung der jüngern
attischen
Kunst, welcher die herrliche
Gruppe in der
Libreria zu
Siena, die aus
Rom
[* 13] stammt, angehört.
Vgl. Krause, Die Musen, Grazien, Horen [* 14] (Halle [* 15] 1871);
[* 1]
^[Abb.: Die Chariten
(»drei
Grazien«).
Relief des kapitolinischen
Museums in
Rom.]
¶
mehr
Robert, De Gratiis atticis (in den »Commentationes in honorem Mommseni«, Berl. 1877).