Cervantes
Saavēdra,
Miguel de, einer der größten span. Dichter, wurde wahrscheinlich zu
Alcala de Henares
geboren. Seine Eltern, Rodrigo de Cervantes
(gest. 1579) und Leonor de Cortinas, gehörten
dem kleinen
Adel an und lebten in beschränkten Verhältnissen. Die Familie siedelte bald nach Madrid
[* 2] über. 1568 veröffentlichte dort der
Humanist Lopez de Hoyos einen
Band
[* 3] Epicedien auf den
Tod der Königin Elisabeth, an denen
sein
Schüler
Miguel de Cervantes
mit sechs kleinen Gedichten beteiligt war; im selben Jahre wurde dieser wegen eines Streithandels
ausgewiesen. 1569 begleitete er den spätern Kardinal
Aquaviva als Kämmerling nach
Italien,
[* 4] 1570 befand
er sich auf der Flotte, die Nikosia entsetzen sollte, 1571 als freiwilliger Gemeiner an
Bord der Marquesa in der Seeschlacht
von
Lepanto.
Schwere Verwundungen, deren eine ihm die linke
Hand
[* 5] verstümmelte und den
Arm lähmte, hielten ihn nicht ab,
Don Juan 1572 vor
Tunis,
[* 6] 1573 vor Goleta und 1574 bei dem Zug
nach Genua
[* 7] zu folgen, bis er sich Ende 1575 wieder nach
Spanien
[* 8] einschiffte.
Die Galeere wurde von einem algier. Kreuzer nach hartnäckigem
Widerstand genommen; den Empfehlungsschreiben
Don
Juans und des
Herzogs von Sessa, die Cervantes
bei sich führte, verdankte er die
Erhaltung seines Lebens; zugleich aber knüpfte
sich daran die Forderung eines unmäßigen
Lösegeldes.
Eine erste, zu geringe
Summe, welche die Familie aufbrachte, diente zur
Befreiung seines
Bruders Rodrigo, während er selbst
mit außerordentlicher Kühnheit und
Beharrlichkeit Pläne zur Flucht, ja zur Überrumpelung der Stadt ins Werk
zu setzen versuchte. Erst am gelang die
Auslösung. Cervantes
diente nun in
Portugal und gegen die
Azoren, fand dann zeitweilige
Verwendung in Rentengeschäften des Ritterordens von Santiago. Derartige
Kommissionen schafften ihm von da ab seinen Lebensunterhalt
neben seiner litterar.
Thätigkeit. Diese eröffnete er jetzt mit dem Schäferroman «Galatea»,
der Febr. 1584 die Druckerlaubnis erhielt, 1585 erschien. Cervantes
begann in einem
Alter zu schreiben, in dem die früh entwickelten
südl.
Talente meist schon auf ihrem Höhepunkt stehen. Wo er sich gegebenen
Mustern anschließt, hemmt ihm der
Mangel an
Technik
die
Freiheit der
Bewegung und er bleibt hinter dem zurück, was wir, auch in einer seinem Wesen nicht entsprechenden
Form, von seiner Begabung und Erfahrungsfülle erwarten könnten. Sein Schäferroman zeigt alle Mängel der Stilgattung und
entschädigt kaum in Einzelheiten den heutigen
Leser. Die der Vermutung nach darin gefeierte Hirtin Catalina de Palacios (gest.
1626) war seine Gattin geworden.
Von Esquivias, ihrem Heimatsort, wandte Cervantes
sich bald nach Madrid und brachte dort, nicht ohne Beifall, eine
Reihe von Schauspielen zur Aufführung, von denen «Los tratos de
Argel» und die bedeutende «Numancia» erhalten, von sieben
weitern nur die
Titel bekannt sind, der Rest spurlos verschwunden ist. Das alles überglänzende Auftreten
Lopes de
Vega ließ ihn die Feder niederlegen, zumal nun auch die
Sorge für
Mutter und Schwestern auf ihm lag. 1588-93 diente
er in Sevilla
[* 9] als
Kommissar unter den Proveedoren der ind. Flotte,
^[Artikel, die man unter C vermißt, sind unter K aufzusuchen.] ¶
mehr
erhielt dann den königl. Auftrag, rückständige Abgaben von Städten des Königreichs Granada
[* 11] einzuziehen - die einzige Gnade,
welche Philipp II. seinen Verdiensten, Wunden, Bitten und Empfehlungen gewährt hat. Als im folgenden Jahre die wenig dankbare
Aufgabe beendet war, blieb ein verhältnismäßig unbedeutender Fehlbetrag, allem Anschein nach erwachsen aus der erheblichen
Differenz zwischen der vorausgesetzten und der wirklichen Dauer des Mandats. Cervantes
wurde deshalb von der Rechnungskammer bei jeder
neuen Revision angefochten, 1597 selbst gefänglich eingezogen.
Sein Aufenthalt blieb 1596-1600 und vielleicht bis 1603 fortdauernd Sevilla, wo er, wie auch später in Valladolid und Madrid, als Sachwalter für Private thätig gewesen zu sein scheint. Was über ein längeres Verweilen in der Mancha, eine Gefangenhaltung in Argamasilla erzählt wird, sind Konjekturen und Fabeln. Seine Übersiedelung nach Valladolid (1601-6 Residenz) dürfte 1603 zum Zweck persönlicher Verantwortung vor der Rechnungskammer erfolgt sein. 1604 erhielt er dort die Druckerlaubnis für den 1. Teil des «Don Quixote», der wahrscheinlich schon 1597 im Kerker von Sevilla begonnen war, 1605 herausgegeben und im selben Jahre dreimal nachgedruckt wurde.
Die mißgünstige Haltung Lopes de Vega, der sich durch eine gemäßigte Kritik gewisser Schwächen des span. Theaters gekränkt
fühlte, trug jedenfalls dazu bei, daß der Dichter die materiellen Früchte seines großen Erfolges nicht
erntete. In den nächsten Jahren hören wir sehr wenig von Cervantes.
Die Akten eines Prozesses, worin ihn das span. Rechtsverfahren
mit aller ihm eigenen Brutalität verwickelte, weil er einen im Duell tödlich Verwundeten aufgenommen hatte, gewährt interessante
Einblicke in sein Haus und dessen beschränkte Verhältnisse.
Die Erwähnung einer natürlichen Tochter Isabella hat zu einer Reihe von Fabeln Veranlassung gegeben. 1608 forderte ihn die Rechnungskammer neuerdings vor sich und veranlaßte so vielleicht seine Übersiedelung nach Madrid, wo er 1609 einer frommen Bruderschaft beitrat. 1613 erschienen seine Novellen («Novelas ejemplares»); die Approbation datiert von 1612, einzelne sind jedenfalls schon Jahre vorher niedergeschrieben. Ihre Aufnahme stand der des «Don Quixote» wenig nach. 1614 folgte «El viage del Parnaso», eine poet.
Darstellung der zeitgenössischen Litteraturverhältnisse; 1615 eine Sammlung von acht neuen, Lope nachgeahmten Schauspielen und acht höchst lebendigen Zwischenspielen; in demselben Jahre, beschleunigt durch die Usurpation Avellanedas, eines pseudonymen Schriftstellers, der 1614 eine Fortsetzung des «Don Quixote» veröffentlicht hatte, erschien der 2. Teil dieses Romans. Im Vorwort dazu spricht er von seiner wankenden Gesundheit. Die Wassersucht führte ihn langsam der Auflösung entgegen. Am empfing er die Letzte Ölung, schrieb am folgenden Tage die rührende Widmung des Reiseromans «Persiles y Segismunda» an den Grafen von Lemos, am 23. April trat der Tod ein. Die Beisetzung erfolgte, nach seinem Wunsch, im Konvent der Trinitarianerinnen. Den «Persiles» veröffentlichte seine Gattin im folgenden Jahre; von einigen Werken, die noch seine letzten Tage beschäftigten, dem zweiten Teil der «Galaatea» und «El famoso Bernardo», ist nichts erhalten, vielleicht aber ein Bruchstück der «Semanas del Jardin» in der in unserm Jahrhundert ans Licht [* 12] gekommenen Novelle «La tia fingida».
Die Unterstützungen, die der Dichter in den letzten Jahren von dem Grafen von Lemos und dem Erzbischof von Toledo [* 13] erhielt, waren von bescheidener Art. Manche der durch die neuere Forschung ans Licht geförderten Daten erzählen von Sorge und Bedrängnis, erhöhen aber alle zugleich die Achtung vor dem Seelenadel des Dichters, vor der Großherzigkeit und dem Mut, die ihn in keiner Lebenslage verlassen, seiner ungetrübten Milde und Heiterkeit, tiefen Gerechtigkeit und der edlen Einfalt seiner Selbstbeurteilung.
Die Tragödie «Numancia», die reizenden Zwischenspiele und «Die
Reise zum Parnaß» würden für sich Cervantes
einen Namen in der span. Litteraturgeschichte geben; auch der «Persiles»
wird nur deshalb gering geachtet, weil man von Cervantes
etwas Besseres erwartet. Auf «Don Quixote» und den Novellen beruht seine
Stellung in der Weltlitteratur, auf ihnen baute sich die Prosadichtung auf; als Vorbilder nehmen
sie noch heute die erste Stelle in der Gattung ein. Zu Beginn des «Don Quixote» war nur die Verspottung der Ritterbücher beabsichtigt.
Dann gewann Cervantes
seinen Helden lieb, vertiefte den Charakter und die Handlung und erschuf in der Darstellung des Gegensatzes
zwischen Idealismus und Wirklichkeit den humoristischen Roman. Den Realismus hatte der Schelmenroman in
die Prosaerzählung eingeführt, bei Cervantes
wurde er durch die Verbindung mit dem Ethos und dem Seelenleiden des Dichters geadelt.
Butlers «Hudibras», Wielands «Don Sylvio» sind direkte Nachbildungen, beide in ihren Ländern die Ausgangspunkte einer langen
Reihe ähnlicher Werke. Nicht weniger weittragend ist der Einfluß der Musternovellen gewesen. Unter
ihrer unmittelbaren Einwirkung steht z. B. E. T. A. Hoffmann und L. Tieck.
Von den Ausgaben und Übersetzungen können nur die wichtigsten genannt werden, als Gesamtausgabe die von Argamasilla (12 Bde., 1864); in der «Biblioteca de autores españoles» fehlt das Theater. [* 14] Von den unzähligen des «Don Quixote» die Londoner (1738, mit Biographie von Mayans);
die der Akademie (4 Bde., Madr. 1780; mit der «Vida» Navarretes, 5 Bde., ebd. 1819);
diejenigen Pellicers (5 Bde., ebd. 1797, und 9 Bde., ebd. 1798-1800, mit fleißiger Biographie);
die kommentierte Clemencins (6 Bde., ebd. 1833-39),
die phototypische Reproduktion der 1. Ausgabe (2 Bde., Barcel. 1872);
als Handausgabe die der Leipziger «Coleccion de autores españoles» (2 Bde., 1891).
Die älteste unter den Übersetzungen war die englische Sheltons (Lond. 1612-20);
ihr folgt die französische Oudins 1616 (1681 die Filleaus de Samt Martin);
die italienische Franciosinis 1622-25;
eine deutsche Bearbeitung «Don Kichote de la Mantscha, das ist Juncker Harnisch aus Fleckenlandt» (Köthen [* 15] 1621, Hofgeismar 1648 und Frankf. 1669);
eine andere nach der franz. Übersetzung Filleaus (1682 u. ö.);
deutsche Übersetzungen nach dem Original von Bertuch (1776),
Tieck (zuerst 1799),
Soltau (1800) u. a. m.;
die beste von Braunfels in der «Collection Speemann» (4 Bde., Lpz. 1883).
Die Musternovellen u. a. ebenda von Keller und Notter (1881),
von Baumstark (1868). Die «Numancia» im «Span. Theater» von A. W. von Schlegel (1803-9; 2. Aufl. 1845); die Zwischenspiele von Kurz in Rapps «Span. Theater» (Bd. 2, 1868); vier derselben in Schacks «Span. Theater» (Tl. 1, 1845). -
Vgl. Dorer, Die Cervantes
-Litteratur in Deutschland
[* 16] (Lpz. 1877);
ders., Cervantes
und seine Werke nach deutschen Urteilen.
Mit einem Anhang: Die Cervantes
-Bibliographie (1881).
Ein
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mehr
echtes Bild des Dichters existiert nicht. Als letzte Zusammenstellung fast aller Nachrichten ist Mainez' «Vida
de Cervantes»
(Cadiz
[* 18] 1876) zu empfehlen; neueste Biographien von Watts (Lond. 1891) und Kelly (ebd. 1892).