Cervantes
Saavedra (spr. sawedra), Miguel de, berühmter span. Dichter, wurde Anfang Oktober 1547 zu Alcala de Henares aus einem altadligen Geschlecht Galiciens geboren, studierte zwei Jahre in Salamanca, sodann um 1568 in Madrid [* 2] anfangs Theologie, später aus Neigung die schönen Wissenschaften. Aus Verdruß über die geringe Teilnahme, welche seine ersten dichterischen Versuche fanden, ging er 1569 nach ¶
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Italien, [* 4] wurde hier aus Not Kammerdiener des Kardinals Giulio Aquaviva in Rom und [* 5] nahm 1570 Dienste [* 6] bei den spanisch-neapolitanischen Truppen im Kriege gegen die Türken und afrikanischen Korsaren und kämpfte mit großer Tapferkeit in der Schlacht von Lepanto wo er drei Schußwunden erhielt, durch deren eine ihm der linke Arm für immer gelähmt ward. Nachdem er darauf bis Mai 1574 in Sardinien [* 7] gestanden, begab er sich von da über Genua [* 8] zum Heer des Juan d'Austria in der Lombardei und kehrte mit demselben nach Sizilien [* 9] zurück.
Endlich im Juni 1575 nahm er in Neapel [* 10] Urlaub zur Heimreise nach Spanien, [* 11] ward aber unterwegs von algierischen Seeräubern aufgegriffen und nach Algier in die Gefangenschaft geschleppt, in der er, erst als Sklave des grausamen Dali Mami, sodann des venezianischen Renegaten Hassan Pascha, der sich vom Ruderknecht zum Dei von Algier emporgeschwungen hatte, über fünf Jahre zubrachte. Mehrere ebenso verwegene wie abenteuerliche Versuche, sich und seine Leidensgefährten durch die Flucht zu befreien, scheiterten, worauf er den kühnen Plan faßte, sich mittels einer Sklavenverschwörung in den Besitz von Algier zu setzen.
Verraten, wurde er in Fesseln gelegt, doch zwang seine Kühnheit selbst den Mauren Achtung und Schonung seiner Person ab.
Endlich von seinen Verwandten und Freunden losgekauft, kehrte Cervantes
nach Spanien zurück, trat nochmals in sein Regiment
ein und machte die Expeditionen nach den Azoren mit, welche Philipp II. den Gehorsam verweigerten, kehrte aber Ende 1583 für
immer in die Heimat und zu den Musen
[* 12] zurück. Bald darauf vermählte er sich mit Donna Catalina de Palacios
Salazar aus einer angesehenen, aber armen Familie in Esquivias. Da er nun auf Erwerb denken mußte, schrieb er noch in den ersten
Flitterwochen seinen Schäferroman »Galatea« (Madr. 1584) und wandte sich der dramatischen Dichtung zu. Von den etwa 30 Dramen,
von denen manche mit Beifall aufgenommen wurden, ist jedoch außer dem Trauerspiel »Numancia«, das als
das beste galt, keins erhalten, und dieselben wurden von den Zeitgenossen im allgemeinen nicht hoch geschätzt.
Dann verließ er gegen eine kleine Anstellung in Sevilla
[* 13] die Stellung eines Bühnendichter und verfaßte wahrscheinlich hier
jene Reihe von Novellen, worin er das Treiben und die Laster dieser Stadt so trefflich zeichnet. Mit dem
Tod Philipps II. verschwindet er aus Sevilla, und wir sehen ihn erst einige Jahre später in Valladolid wieder auftauchen, wohin
ihn wahrscheinlich das Hoflager Philipps III. führte. Ein Gefecht, das einmal nachts in der Nähe seines
Hauses zwischen Hofleuten stattfand, brachte ihn, da Verdacht auf seine Hausgenossen fiel, auf mehrere Tage ins Gefängnis,
und hier war es, wo er sein unsterbliches Werk, den »Don Quijote«, begann, dessen erster Teil 1604 erschien. Da dieser nicht
sofort Anklang finden wollte, veröffentlichte Cervantes
eine kleine Broschüre: »Elhuscapie« (»der
Schwärmer, die Rakete«),
worin er dem Scheine nach eine Kritik des »Don Quijote« lieferte und darauf hindeutete, daß dieses
Werk eine versteckte Satire auf verschiedene angesehene Männer enthalte. Die Neugierde begründete nun den Ruf des »Don Quijote«;
zugleich aber wurden auch Kritik, Satire, Verleumdung, kurz, alle Hebel
[* 14] der Vernichtung gegen das Werk in
Bewegung gesetzt. Cervantes
, dadurch eingeschüchtert, wagte nun mehrere Jahre nicht, dem Publikum etwas darzubieten. Erst als 1614 ein
Aragonier unter dem Pseudonym Alonso Fernandez de Avellaneda eine geschmacklose Fortsetzung des »Don Quijote« herausgab (abgedruckt
in der »Biblioteca de
autores españoles«, Bd.
17),
vollendete und veröffentlichte Cervantes
den zweiten Teil des »Don Quijote« (1615),
der dem ersten an satirischer Kraft [* 15] nachsteht, ihn aber an philosophischem Geist übertrifft. Sodann arbeitete er an dem Roman »Trabajos de Persiles y Sigismonda« (»Leiden [* 16] des Persiles und der Sigismunda«),
an welchen er zu Anfang des Aprils 1616 die letzte Hand
[* 17] legte. Cervantes
starb
fast gleichzeitig mit Shakespeare, in Madrid, wo er seit 1606 mit wenigen Unterbrechungen gelebt hatte. Seine Büste, von Don
Antonio Sola verfertigt, wurde 1835 an dem von ihm bewohnten Haus in der Calle de Cervantes
(Ecke der Calle de Leon) zu Madrid aufgestellt.
Was die bereits genannten Werke des Cervantes
betrifft, so sind unter den Novellen (»Novelas ejemplares«) besonders
vier hervorzuheben: »Der freche Neugierige«, welchen er in den »Don Quijote« verwebt hat, »Rinconet und Cortadilla«, ein zwar
stark aufgetragenes, aber wahres Gemälde von sevillanischen Gaunern, »Die Macht des Bluts«, das interessanteste und am besten
ausgeführte Stück, und »Das Zwiegespräch der bei den Hunde«,
[* 18] eine ergötzliche Kritik voll von Philosophie
und Munterkeit.
Sie tragen, dem reichen Boden des Volkscharakters entsprossen, die ganze Fülle echt spanischer Lebendigkeit und Anmut der Sprache
[* 19] an sich, wodurch sie noch heute unerreicht sind. Höher geschätzt als seine großen Dramen waren die acht kleinern,
»Entremeses« (»Zwischenspiele«) genannten Stücke, die sich vielfach durch phantastische Komik bei oft drastischer Natürlichkeit
auszeichnen. »Die Leiden des Persiles und der Sigismunda«, Cervantes'
letztes Werk, sind ein langer, mit Abenteuern überladener Roman,
der für uns, obschon ihn der Dichter selbst für seine beste Schöpfung hielt, nur noch litterarhistorische Interesse hat.
Auch der unvollendet gebliebene Schäferroman, die »Galatea«, ist ein jetzt ungenießbares, spanischen und italienischen Mustern
nachgebildete Produkt, dessen Wert nur in den darein verwebten lyrischen Gedichten besteht. Dagegen ist Cervantes'
Hauptwerk:
»El ingenioso hidalgo Don Quijote de la Mancha«, ein europäisches Buch geworden und wird es bleiben, solange überhaupt die
Lust an sinnreicher Erfindung und lebendiger Darstellung poetischer Wahrheit bleibt. Er bildet zunächst eine gegen den Unsinn
der Ritterromane gerichtete und diese vernichtende Satire, in höherm Sinn aber eine großartige Allegorie, welche die Gegensätze
zwischen Geist und Materie, Ideal und Wirklichkeit, Poesie und Prosa zur Darstellung bringt.
Treffende und konsequente Charakterzeichnung, unversiegliche Ursprünglichkeit und tiefhumoristische Lebensansicht, aus dem edelsten und mitleidigsten Gemüt entspringend, die rascheste Auffassung des komischen Elements selbst auf der Nachtseite menschlicher Erscheinungen und wiederum ein stets durchscheinendes Gefühl der Liebe offenbaren sich hier auf das innigste verbunden mit dem höchsten Zauber der Darstellung, in einer der edelsten Sprachen, deren sich je ein Volk bediente, voll Würde und Naivität.
»Don Quijote« war der erste Roman und ist zugleich einer der vollendetsten, ein Meisterwerk aller Zeiten und Völker. Wie die spanische Bibliographie in neuester Zeit behauptete, wurden vom »Don Quijote« in den Jahren 1605-1857 in Spanien selbst nicht weniger als 400 Ausgaben veranstaltet, und von Übersetzungen erschienen 200 ins Englische, [* 20] 168 ins Französische, 96 ins Italienische, 80 ins Portugiesische, 70 ins Deutsche, [* 21] 13 ins Schwedische, 8 ins Polnische, 6 ins Dänische, 2 ins Russische [* 22] und 1 ins Lateinische. Außer der Prachtausgabe ¶
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(Madr. 1780, 4 Bde.) und der von Pellicer (das. 1798, 9 Bde.) sind als die besten neuern Ausgaben zu nennen die der Akademie mit dem Leben des Dichters von Navarrete (das. 1819, 5 Bde.), die mit dem vollständigen Kommentar von Clemencin (das. 1833-39, 6 Bde.), die von Hartzenbusch (Argamacilla 1863, 4 Bde.) und die von L. Ramon Mainez (mit Anmerkungen, Cadiz [* 24] 1875, 2 Bde.). Eine Reproduktion der ersten Ausgabe veranstaltete Lopez Fabra (Barcelona [* 25] 1872, 2 Bde.). Gute Handausgaben sind die zu Leipzig [* 26] (1800-1807, 6 Bde., und 1882, 2 Bde.) erschienenen Editionen.
Gesamtausgaben von Cervantes'
Werken ohne die Komödien erschienen zu Madrid 1803-1805 (16 Bde.) und ohne die
»Reise nach dem Parnaß« daselbst 1820 (11 Bde.).
Einen Wiederabdruck sämtlicher Werke ohne die Komödien enthalten auch die »Coleccion de los mejores autores españoles« (Par.
1840-41) und Ribadeneyras »Biblioteca de autores españoles« (Madr. 1853). Eine Auswahl gab Don Aug. Garcia de Arrieta heraus
(Par. 1826-32, 10 Bde.),
einen Band
[* 27] noch unveröffentlichter Werke (»Varias obras inéditas de Cervantes«
) Adolso de Castro (Madr. 1874).
Neuerlich erschien eine Auswahl von Novellen in Brockhaus' »Coleccion de autores españoles« (Leipz.
1869). Unter den deutschen Übersetzungen des »Don Quijote« sind hervorzuheben die von Bertuch (Leipz. 1780, 6 Bde.),
Tieck (Berl. 1799-1801, 4 Bde.; 3. Aufl.
1853, 2 Bde.; mit den Zeichnungen von Doré, das. 1875),
Soltau (Königsb. 1800, 6 Bde.; 2. Aufl., Leipz. 1837, 4 Bde.),
Zoller (Hildburgh. 1867, 2 Bde.), Braunfels (Stuttg. 1884, 4 Bde.). Der Roman »Persiles und Sigismunda« wurde von Butenschön (Heidelb. 1798; Leipz. 1837, 2 Bde.),
die »Zwischenspiele« von H. Kurz (Hildburgh. 1867) ins Deutsche übertragen. Eine Übersetzung sämtlicher Romane und Novellen lieferten Förster (Quedlinb. 1825, 12 Bde.), Keller und Notter (Stuttg. 1840-42, 10 Bde.); in Auswahl Baumstark (Regensb. 1868, 2 Bde.).
Vgl. E. Chasles, Michel de Cervantes
, sa vie, son temps, son œuvre (2. Aufl., Par.
1866);
Diaz de Benjumea, La verdad sobre el Don Quijote (Madr. 1878);
L. Ramon Mainez, Vida de Cervantes
(Cadiz 1878);
Baumstark, Cervantes
(Freiburg
[* 28] 1875);
Dorer, Cervantes
und seine Werke nach deutschen Urteilen (Leipz. 1881).