Cancionero
(span.), Cancioneĭro (portug.),
d. i. Liederbuch, heißt eine Sammlung kunstmäßiger lyrischer Gedichte,
meist von mehrern Verfassern. Doch bezeichnete man anfänglich mit Cancionero
vorzugsweise die
eigentlichen höfischen Liederbücher. Als nach dem
Muster der ältern und jüngern Troubadourpoesie sich an den
Höfen von
Catalonien,
Portugal,
[* 2] Aragouien und
Castilien poet. Gesellschaften gebildet hatten, legte man hier Sammlungen der Produkte dieser
höfischen Kunst- und Konversationspoesie an und nannte sie Cancionero.
Ein solches höfisches
Liederbuch enthält daher die Produkte einer geschlossenen poet. Gesellschaft an einem bestimmten
Hofe, die einen gemeinsamen
konversationellen Charakter tragen und ein vollständiges abgerundetes
Bild nicht nur von der
Dichtkunst, sondern auch von
dem geselligen Leben und
Treiben dieses
¶
mehr
höfischen Kreises geben. Von solchen höfischen Liederbüchern im strengern Sinne ist auf uns gekommen: der galicisch-portug. Cancioneiro der Poet. Gesellschaft am Hofe der Könige Alfons III. und Dionysius, das einzige Liederbuch, das noch echten ritterlich-höfischen Minnegesang im Geiste und nach dem Muster der ältern Troubadourpoesie enthält. Von dieser Sammlung gab de Moura zuerst nur den Teil heraus, welcher die dem König Diniz selbst zugeschriebenen Lieder umfaßt («Cancioneiro d' el Rei D. Diniz», Par. 1847); nachdem später F. A. de Varnhagen einen Teil aus der in der Bibliothek des Vatikans befindlichen Handschrift «Cancioneirinho de trovas antigas» (Wien [* 4] 1870) veröffentlicht hatte, erschien 1875 der ganze Codex in diplomat.
Abdruck von Ernesto Monaci («Il Canzoniere portoghese della Biblioteca Vaticana»,
Halle)
[* 5] und 1878 in einer von Theophilo Braga kritisch veränderten Textgestalt zu Lissabon
[* 6] («Cancioneiro portuguez
da Vaticana»). Ein anderes Manuskript desselben Liederbuchs ward bald darauf entdeckt und 1880 wurden alle Inedita
desselben von Monaci herausgegeben («Il Canzoniere portoghese
Colocci-Brancuti», Halle 1880). Eine weitere Ergänzung dazu bildet der «Cancioneiro da Ajuda», von dem F. A. de Varnhagen 1849 einen
ganz unkritischen Abdruck besorgt hatte unter dem Titel «Trovas e Cantares ... ou antes o Livro das Cantigas do Conde de Barcellos»
(Madrid;
[* 7] kritische Ausgabe von Cancionero
Michaelis de Vasconcellos, Halle 1880). Ferner ist erhalten die Liedersammlung
vom Hofe der Könige Johann II. und Emanuel von Portugal (bekannt als «Cancioneiro general de Garcia de Resende», Almeirim und
Lissabon 1516; Abdruck von Kausler, 3 Bde., Stuttg. 1846 -
52). Von der der Toulouser Meistersingerschule nachgebildeten Poet.
Gesellschaft (Consistorio de la gaya ciencia) am Hofe von Aragonien unter König Ferdinand I. und seinen
unmittelbaren Nachfolgern haben sich nur handschriftlich erhalten der «Cançoner
d' amor» aus der Pariser Nationalbibliothek und ein ähnlicher aus der Universitätsbibliothek von Saragossa,
[* 8] beide fast durchaus
in catalon. Sprache
[* 9] und Lieder nach dem Muster der spätern zünftigen Troubadourpoesie von Toulouse
[* 10] enthaltend.
Das älteste castilische und einzige eigentliche höfische Liederbuch Castiliens ist der «Cancionero
de Baena,», der die Produkte
der poet.
Gesellschaft am Hofe der Könige Johann I., Heinrich III. und vorzüglich Johann II. von Castilien enthält, teils noch in galicischer,
zum größten Teile aber schon in castilian. Sprache nach dem Muster der spätern Troubadourpoesie abgefaßt,
aber in volkstümlichen Rhythmen und Maßen (hg. von Gayangos und Pidal, Madr. 1851; von Michel, 2 Bde., Lpz. 1860). Von
derselben Art, doch bedeutend weniger reichhaltig, ist der am Hofe Alfons' V. von Neapel
[* 11] um dieselbe Zeit entstandene «Cancionero
de Lope de Stúñiga» (Madr. 1872).
Als sich diese Art Kunstpoesie später in immer weitern Kreisen verbreitete, begannen Liebhaber derselben ähnliche Sammlungen
anzulegen, die sie auch Cancionero
nannten. Sie benutzten dabei wohl die ältern eigentlichen höfischen Liederbücher,
beschränkten sich aber nicht bloß auf einen bestimmten poet. Kreis,
[* 12] ja nicht einmal auf eine strenger
abgegrenzte Periode, sondern nahmen ohne Rücksicht der Zeit und des Ortes und ohne strenge Sonderung alles auf, was von dem
Frühern noch gangbar und beliebt war, sowie auch
das, was von den neuesten Erzeugnissen allgemeinen oder ihren besondern
Beifall gefunden hatte.
Daher tragen die Cancionero
dieser Art einen rein litterar. Charakter und sind oft sehr bunte
Mischsammlungen, die sich über mehr als ein Jahrhundert erstrecken. Solcher Cancionero
sind mehrere handschriftlich
vorhanden aus der zweiten Hälfte des 15. und dem Anfang des 16. Jahrh. auf den Bibliotheken von Madrid, Paris
[* 13] u. s. w. (Auszüge
daraus in Gallardos «Ensayo de una Biblioteca española»,
Bd. 1, Madr. 1863); viele sind gedruckt.
Die älteste derartige Mischsammlung ist der «Cancionero
general», der
zuerst von Juan Fernandez de Constantina angelegt, seit Ende des 15. Jahrh. gedruckt und dann durch
Hernando de Castillo vermehrt und weiter geführt ward.
Das Werk des letztern erschien zuerst 1511 zu Valencia
[* 14] im Druck und wurde im Laufe des Jahrhunderts mehrfach
in Spanien und Antwerpen
[* 15] aufgelegt. Dieser bekannte, von allen Litterarhistorikern erwähnte «Cancionero
general» enthält in bunter Mischung Produkte der castilian. Kunstpoesie von den Zeiten Johanns II. bis zu denen Karls V. Der von
den verschiedensten Seiten gefaßte Plan, aus all den alten «Cancioneros
generales»
einen großen neuen zusammenzustellen, ist einstweilen teilweise und befriedigend ausgeführt in der Ausgabe der «Soc. de
Bibl. Españ.» (2 Bde., Madr.
1882). Da die «Cancioneros
generales» wie die «Romanceros generales» dicke teure Bücher waren, so veranstaltete man für den
Volksgebrauch kleinere, billige Sammlungen, wie z. B. den kürzlich neu
aufgefundenen kleinen «Cancionero
Vergel de Amores» (1551) u. a. m. Zuweilen führen auch die Sammlungen der Werke eines
einzelnen Dichters den Titel «Cancionero»
, wie z. B. von Enzina,
Montesino u. s. w. Das älteste Beispiel solcher «Cancioneros»
ist das große Liederbuch des Königs
Alfons X. des Gelehrten von Castilien. Manchmal nennt man auch Sammlungen von Kunstliedern mehrerer Dichter
über einen bestimmten Gegenstand «Cancionero»
, wie die «Vita
Christi» (Sarag. 1492),
den «Cancionero
de Ramon Dellavia» (ebd. 1489). Fälschlich aber nennt
sich eine der ältesten Romanzensammlungen «Cancionero
de romances». -
Vgl. Bellermann, Die alten Liederbücher der Portugiesen (Berl. 1840);
Wolf, Über die Liederbücher der Spanier (im Anhang zu Ticknors «Geschichte der schönen Litteratur in Spanien», Bd. 2, Lpz. 1852);
ders., Studien zur Geschichte der span. und portug. Nationallitteratur (Berl. 1859);
Diez, Über die erste portug. Kunst- und Hofpoesie (Bonn [* 16] 1863).