Byron
(spr. beir’n),
George Noel
Gordon, Lord, Englands größter Dichter seit
Shakespeare und
Milton, Enkel des
Admirals John Byron
(s. d.), stammte aus einer altengl. Adelsfamilie,
die
bis in die Zeit Wilhelms des Eroberers hinaufreicht und deren Haupt 1643 wegen Anhänglichkeit an
Karl
I. den
Titel Lord
Byron
von Rochdale erhielt. B.s
Vater, John Byron
, des
Admirals ältester Sohn, Gardekapitän und wegen wilden
Lebenswandels als toller Jack Byron
berüchtigt, war zuerst mit der Marquise von
Carmarthen, geborene Amelia D’Arcy, verheiratet,
die von ihm entführt und von ihrem Gatten geschieden wurde, dann mit
Katharina, Tochter und Erbin
George
Gordons von Gight,
des Hauptes einer mit dem schott. Königshause verwandten hochländischen
Familie. Aus seiner ersten
Ehe entsprang
Augusta Byron
, später
Mrs. Leigh, aus der zweiten in
London
[* 2] Lord Byron.
Die
Ehe
der Eltern B.s war
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mehr
unglücklich. Sein Vater verschwendete fast das ganze Vermögen der Mutter, verließ sie und den Sohn und starb 1791 in Valenciennes.
Die Mutter, eine stolze Frau von leidenschaftlichem Temperament, ging 1790 mit ihrem Sohn nach Aberdeen,
[* 4] wo sie von dem Rest
ihres Vermögens zurückgezogen lebte. Die Erziehung durch die launenhafte Mutter war wenig geeignet,
in den Knabenjahren einen festen Grund für die spätere Entwicklung zu legen. Acht Jahre alt, wurde er zur Stärkung der Gesundheit
in die Hochlande geschickt. In jenen romantischen Gegenden erwachte in ihm der Sinn für die Natur, der alle seine Dichtungen
durchzieht. 1798 machte der Tod seines Großonkels Lord Byron
dem Aufenthalt in Schottland ein Ende. Byron
kam
dadurch in Besitz des Titels und der Stammgüter seiner Familie und nahm Wohnsitz auf dem Schlosse Newstead-Abbey.
Nun wurde seine Erziehung durch seinen Vormund, den Grafen von Carlisle, geleitet. Nach einem kürzern Aufenthalt in London,
wo man umsonst die Heilung seines Klumpfußes versuchte, und nach dem Besuch einer vorbereitenden Schule
in Dulwich kam Byron
1801 auf die Schule zu Harrow. Noch während er den gewöhnlichen Kursus durchmachte, faßte
er, in den Sommerferien 1803, eine glühende, unerwiderte Neigung für Mary Chaworth, deren Eltern ein Landgut in der Nähe
von Newstead-Abbey besaßen.
Okt. 1805 bezog Byron
die Universität Cambridge, wo er mit Unterbrechung bis 1808 blieb. Noch als Student gab er «Hours of idleness»
(Newark 1807) heraus, die in der «Edinburgh Review » durch den nachmaligen
Lord Brougham eine bittere Kritik erfuhren, gegen die Byron
die geharnischte Satire «English
bards and Scotch reviewers» richtete, in der sein Talent zuerst erglänzte, worin er aber Scotts «Marmion»
einer unverdienten Kritik unterzog. 1809 volljährig, nahm er im März seinen Sitz im Oberhause ein, wo er sich der Opposition
anschloß.
Doch besuchte er es nur selten, und seine drei Reden waren unbedeutend. Reich, schön, im Vollgenuß jugendlicher Kraft, [* 5] stürzte er sich in Zerstreuungen und Ausschweifungen, die seine Gesundheit und sein Vermögen schwächten. Juni 1809 trat er mit seinem Freunde Hobhouse eine große Reise an. Über Portugal [* 6] und Spanien fuhr er nach Malta, durchzog einen großen Teil Griechenlands und Kleinasiens, machte das Wagestück den Hellespont zu durchschwimmen, besuchte Konstantinopel [* 7] und kehrte, nach längerm Aufenthalt in Athen, [* 8] auf demselben Wege im Juli 1811 zurück. Im Febr. 1812 erschienen die auf der Reise vollendeten beiden ersten Gesänge von «Childe Harold’s pilgrimage», die ihn auf die Höhe des Dichterruhms hoben.
Die Bewunderung steigerte sich durch die Teilnahme für seine Persönlichkeit, deren Spiegelbild man in
seinen Helden fand. Byron
ließ schnell die erzählenden Gedichte «The Giaur»,
«The bride of Abydos» (frei verdeutscht von Kley, Halle
[* 9] 1884),
«’The Corsair», «Lara», «Parisina», «The
siege of Corinth» u. a. folgen, die seinen Ruhm erhöhten. Am vermählte er sich
mit Anna Isabella Milbanke. Die Ehe war jedoch unglücklich und schon im Febr. 1816 verließ Lady Byron
(s.
unten) den Gatten. Die Folge war ein Umschwung der öffentlichen Meinung gegen Byron.
Entrüstet über B.s Lebenswandel
sprach die engl. Gesellschaft, ohne ihn gehört zu haben, das Verdammungsurteil über ihn aus,
und Byron
, der heimatlichen Zustände überdrüssig, verließ im April 1816 England, das er nicht
wiedersah.
Durch
die Niederlande
[* 10] und am Rhein aufwärts zog er in die Schweiz,
[* 11] wo er sich im Juni am Genfersee bei dem Ehepaar Shelley
(s. d.) niederließ. Der Beschreibung dieser Reise und Italiens
[* 12] sind die beiden letzten Gesänge des «Childe Harold»
gewidmet. Er lebte seitdem, unausgesetzt dichterisch thätig, am Genfersee und in verschiedenen Städten Oberitaliens. In
Venedig
[* 13] (1819) und Ravenna (1820) trat er zur schönen Gräfin Teresa Guiccioli in ein vertrautes Verhältnis (vgl. Rabbe,
Les maitresses authentiques de Lord Byron
, 1890). Als deren Vater und Brüder, die Grafen Gamba, als Carbonari
aus Ravenna verbannt wurden, nahm Byron die Familie in seinen Schutz und ging mit ihr nach Pisa
[* 14] (1821), wohin ihm
die Gräfin, die sich von ihrem Gemahl getrennt hatte, folgte.
Als die Gamba auch hier nicht geduldet wurden, führte sie Byron nach Genua, [* 15] wo sie lebten, bis ihn (Juli 1823) der Freiheitskampf in Griechenland [* 16] fortzog. Nach längerm Aufenthalt in Kephallonia kam er im Jan. 1824 in Mesolongion (Missolunghi) an, bildete auf eigene Kosten eine Brigade von 500 Sulioten und traf Anstalten zu einer Unternehmung gegen Lepanto. Noch schwach von einem epileptischen Anfall, zog er sich durch einen Ritt bei Regenwetter ein Fieber zu und starb in Mesolongion, wo man ihm ein Mausoleum weihte. Ganz Griechenland trauerte um ihn 21 Tage. Graf Pietro Gamba, der Byron nach Griechenland gefolgt war, führte die Leiche nach England, wo sie, da das Begräbnis in der Westminsterabtei verweigert ward, in der Dorfkirche von Hucknall bei Newstead-Abbey beigesetzt wurde. Eine Bronzestatue B.s steht seit 1879 am östl. Eingange zum Hyde Park in London.
Nach B.s zweiter Abreise aus England erschienen die beiden letzten Gesänge des «Childe Harold» (1816‒18; das ganze Gedicht hg. und erklärt von Aug. Mommsen, Berl. 1885),
«The prisoner of Chillon» (1816),
das dramat. Gedicht «Manfred» (1817; vgl. Rötscher, Über B.s Manfred, Berl. 1844; Anton, B.s Manfred, Erfurt [* 17] 1875),
«The Lament of Tasso» (1817),
die venet. Novelle «Beppo» (1818),
die Erzählung «Mazeppa» (1819),
die dramat. Dichtungen «Marino Faliero» (deutsch bearbeitet von Fitger, Oldenb. 1886),
«The two Foscari», «Cain», «Sardanapalus», «Heaven and Earth», «The deformed transformed» und «Werner» (1820‒22),
«Don Juan» (1821‒23),
«The Island» [* 18] (1823) und kleinere Gedichte. Auch unternahm er 1822 mit Leigh Hunt und Shelley die Herausgabe einer periodischen Schrift «The Liberal», die dem Verleger in England eine Anklage zuzog.
Über B.s Rang als Dichter ist, besonders in England, um so mehr gestritten worden, je verschiedener man ihn als Menschen beurteilte. Unleugbar war sein Einfluß auf die moderne Dichtung von welthistor. Bedeutung. Zu einer Zeit, wo sich in ganz Europa [* 19] die Litteratur der Romantik des Mittelalters zuneigte, trat er als Vertreter der Unzufriedenheit mit dem Bestehenden auf und gab allen Klängen des Spotts und des Hasses, des Zweifels und der Verzweiflung, jedem Zwiespalt von Leben und Natur so erschütternd Ausdruck, wie keiner vor ihm. So weckte er in dem heranwachsenden Geschlechte jene ideale Gärung, die als Weltschmerz lange fortdauert, und deren Wirkung fast alle hochherzigen Charaktere der Zeit kennzeichnet. Als wesentlich bleiben seiner Dichtung der Sturm und Drang, der Freiheitsdurst und die Weltverachtung ¶
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des Individuums aufgedrückt, das sich vom alten Zustande der Dinge losreißt, ohne zur Gestaltung eines neuen Ideals zu gelangen. Er steht damit im Banne derselben Bewegung, die ein halbes Jahrhundert früher die westeurop. Bildungswelt aufgerüttelt hatte (vgl. O. Schmidt, Rousseau und Byron, Oppeln [* 21] 1890). Gewaltig im lyrischen Ausdruck des Lebensüberdrusses und des Menschenhasses, der glühenden Begeisterung für die Herrlichkeit der Vorwelt und eines gigantischen Trotzes auf eigene Kraft, war in der Schilderung von Charakteren weniger glücklich.
Seine Helden sind fast alle nach einem Schnitt. Mit der Gesellschaft zerfallen, bewegen sie sich meist auf der Grenze von Sitte und Willkür. Er stellt sie vorwiegend durch Beschreibung und Reflexion [* 22] dar, läßt sie zu wenig handeln und mischt seine Gefühle und seinen Glauben in ihr Leben und handeln wie in ihre Reden. Wie bei ihm selbst wechselt bei ihnen Fausts und Don Juans Wesen ab. Auch B.s Meisterwerk, das unvollendete großartige epische Gedicht «Don Juan» (vgl. Colton, The tendencies of Don Juan, 1826) macht hierin keine Ausnahme.
Andererseits entfaltet sich B.s reichbegabte Natur in keinem andern Werk in so glänzender Mannigfaltigkeit, keins offenbart in gleicher Weise seine erstaunliche Leichtigkeit des Schaffens und Sprachgewalt. «Don Juan» ist das Epos der modernen Gesellschaft, zugleich das Werk, das in lyrischem Erguß wie in dramatisch lebendiger Darstellung von Welt und Menschen den vollständigsten Eindruck von B.s Persönlichkeit hinterläßt (vgl. Hel. Druskowitz, B.s Don Juan, 1879). Seine Heldinnen sind im ganzen noch schwächer, haltloser und, trotz breiter romantischer Schilderungen, einförmiger als seine Helden. B.s Stil ist glänzend, obschon ihm mitunter Malerei und Deklamation mehr Dienste [* 23] leisten, als die echte Poesie erheischt. Oft aber drückt er in schlagender Kürze Gedanken und Gefühle aus. Manche seiner Lieder gehören zu den schwungvollsten und innigsten der engl. Poesie. Seine Dramen (vgl. von Westenholz, Über B.s histor. Dramen, Stuttg. 1890) sind allzu reichlich mit Beschreibungen und Betrachtungen ausgeschmückt, weshalb sie sich, obgleich gelegentlich aufgeführt, nie auf den Bühnen behaupteten.
Eine höchst wertvolle Bereicherung der Kenntnis von B.s Charakter bietet der von seinem Freunde Th. Moore in die Darstellung von B.s Leben verwobene Briefwechsel desselben («Letters and journals of Lord Byron with notices of his life», 2 Bde., Lond. 1830; neueste Ausg. 1875; deutsch, 4 Bde., Braunschw. 1831‒33),
der ihn als gewandten, geistreichen Prosaisten zeigt. B.s «Poetical works» erschienen in zahlreichen Ausgaben (zuerst 6 Bde., Lond. 1815; Ausg. von Murray 1828; vollständiger als «Life and Works of Byron», 1832‒35; zuletzt in Routledges «Popular Library», 1890, und bei Griffith Farran u. Co., Lond. 1891) und wurden in fast alle lebenden Sprachen übersetzt, deutsch von Böttger (Lpz. 1840; in 8 Bdn., 6. Aufl., ebd. 1864) und am vorzüglichsten von O. Gildemeister (6 Bde., Berl. 1864; 4. Aufl. 1888); die «Erzählenden Dichtungen» übersetzte Strodtmann (Hildburgh. 1862),
die «Dramen und epischen Dichtungen» Schröter (4 Bde., Stuttg. 1885‒86).
Vgl. die bibliogr. Übersicht Flaischlens, in Deutschland [* 24] im «Centralblatt für Bibliothekswesen», Ⅶ. Die Memoiren B.s wurden durch den Erben dieser Papiere, Moore, aus Rücksicht auf die Familie vernichtet.
Aus damaliger Zeit sind zu erwähnen: Lady Blessington, Conversations with Lord Byron (1832 u. 1834); Galt, Life of Lord Byron (1831); von den vielen neuern biogr. Beiträgen: Eberty, Lord Byron, eine Biographie (2. Aufl., 2 Bde., Lpz. 1879);
Elze, Lord Byron (3. Aufl., Berl. 1886; ins Englische [* 25] übers. 1872);
Gräfin Guiccioli, Lord Byron jugé par les témoins de sa vie (2 Bde., Par. 1868);
Engel, Lord Byron. Eine Autobiographie nach Tagebüchern und Briefen (3. Aufl., Mind. 1884);
Gottschall, Lord Byron, im «Neuen Plutarch», Bd. 4 (Lpz. 1876);
J. C. Jeaffreson, The real Lord Byron (Lond. 1883), der den Verdächtigungen gegenüber mit Erfolg eine Ehrenrettung auf Grund zuverlässigen und teilweise neuen Materials anstrebt; Weddigen, Lord B.s Einfluß auf die europ. Litteraturen der Neuzeit (1884);
J. Schmidt, Byron im Lichte unserer Zeit (Hamb. 1888);
R. Byron W. Noel, Life of Lord Byron (ebd. 1890);
Durdik, über B.s Poesie und Charakter (czechisch, 2. Aufl., Prag [* 26] 1890);
Dallois, Études morales et littéraires à propos de Lord Byron (Par. 1891).
Seine Gattin, Anna Isabella Milbanke, Lady Byron, einzige Tochter und Erbin Sir Ralph Milbankes und Lady Judith Noels, geb. in London, ward durch ihre Mutter, Schwester Thomas Noels, Viscounts Wentworth, Erbin von Wentworth. Sie besaß vielseitige, sorgfältig entwickelte Talente und eine ungewöhnliche Entschiedenheit und war äußerlich graziös und angenehm. Mit Lord Byron wurde sie während der Saison von 1813 bekannt bei ihrer Tante Lady Melbourne, [* 27] seiner Gönnerin, die seine Ehe mit ihr wünschte.
Ihr einfach edles Wesen schildert Lord Byron später in einem der anziehendsten Frauencharaktere des «Don Juan», Aurora Raby. Auch sie faßte eine tiefe Neigung für ihn, wies jedoch, an der Möglichkeit eines Ausgleichs der großen Verschiedenheiten ihrer Naturen zweifelnd, seinen Heiratsantrag Nov. 1813 zurück. Einen zweiten, nach einem längern Briefwechsel im Sept. 1814 gestellten nahm sie an und die Vermählung wurde vollzogen. Das Eheband widerstrebte seinem unsteten Sinne, und eine Frau von vorwiegend praktischem Wesen, strengen Grundsätzen und Selbstbewußtsein wie Lady Byron konnte trotz der reinsten Absichten das leidenschaftliche, cholerisch-melancholische Temperament eines Dichters vom Schlage B.s nicht verstehen oder gar leiten. Dazu entsprangen seiner verschwenderischen Lebensweise häusliche Verlegenheiten; so lag eine stürmische Zeit hinter dem Paare, als die Tochter Augusta Ada geboren wurde. Am verließ Lady Byron London und begab sich mit ihrer Tochter nach Kirkby-Mallory in Leicestershire, dem Landsitze ihres Vaters.
Sie schrieb noch mehrere heitere, freundliche Briefe an Lord Byron; ihre Mutter lud sogar ein, sodaß dieser höchst überrascht war, als ihm kurz darauf (2. Febr.) sein Schwiegervater den Entschluß der Lady Byron ankündete, sich auf immer von ihm zu trennen. Diese Kunde rief das größte Aufsehen hervor. Man nahm fast allgemein für Lady Byron Partei, und ein plötzlicher Sturm des öffentlichen Unwillens trieb Lord in die Fremde. Als jedoch Moores Biographie Lord B.s erschien, war schon ein entschiedener Rückschlag eingetreten. Sein heldenhafter Tod in Griechenland hatte diesen verstärkt; Moore änderte das Urteil zu seinen Gunsten. Lady Byron brachte den Rest ihres langen Lebens mit Werken der Wohlthätigkeit, ¶