Bunsen
,
Christian Karl Josias, Freiherr von, Gelehrter und Staatsmann, geb. zu Corbach im Waldeckischen, widmete sich seit 1806 zu Marburg [* 2] theol. und 1809-13 zu Göttingen [* 3] unter Heyne philol. Studien. Nachdem er an letzterm Orte 1811 bereits eine Lehrerstelle am Gymnasium erhalten und eine Preisschrift «De jure hereditario Atheniensium» (Gött. 1813) veröffentlicht, nahm er, um nicht in westfäl. Dienste [* 4] zu treten, 1813 seine Entlassung und ging, um seine Kenntnis der german. Sprachen zu erweitern, zuerst nach Holland, dann nach Kopenhagen, [* 5] wo Finn Magnussen sein Lehrer im Isländischen wurde.
Die letzten Monate des J. 1815 verbrachte er in Berlin, [* 6] um Niebuhr kennen zu lernen. Hierauf wendete er sich 1816 nach Paris, [* 7] wo er unter Sylvestre de Sacy das Persische und Arabische studierte, und ging dann nach Rom, [* 8] wo er sich 1817 mit einer Engländerin, Frances Waddington, verheiratete. Niebuhr erwirkte 1818 B.s Ernennung zum Gesandtschaftssekretär. Für seine spätere bedeutende Stellung wurde der Aufenthalt des Königs von Preußen [* 9] in Rom 1822 entscheidend, der B.s freimütige Äußerungen über die preuß. Agende und die Gesangbuchsangelegenheit gut aufnahm und ihn zum Legationsrat ernannte.
Als
Niebuhr 1824
Rom verließ, wurde Bunsen
zum Geschäftsträger und 1827 zum Ministerresidenten ernannt und
mit den Unterhandlungen über die gemischten
Ehen beauftragt. Das Vertrauen des Königs wußte er 1827 bei einem Aufenthalt
in
Berlin ganz zu gewinnen und trotz abweichender polit.
Ansichten bis zuletzt zu bewahren. Damals knüpfte sich auch sein
auf lebendigster geistiger Interessengemeinschaft beruhendes Freundschaftsverhältnis mit dem spätern
König
Friedrich Wilhelm IV. an.
Die in engem Verkehr mit
Niebuhr zu
Rom verlebten Jahre hatte Bunsen
zur tiefern
Begründung seiner Forschungen über die
Philosophie
der
Sprache
[* 10] und
Religion vom weltgeschichtlichen Standpunkte benutzt, insbesondere einesteils zum
Studium der
Platonischen
Philosophie
und der
Staatsverfassungen des
Altertums, andernteils zu biblischen, kirchengeschichtlichen und liturgischen
Untersuchungen. Mühsame
Arbeiten unternahm er auch für die umfassende
«Beschreibung der Stadt
Rom» (mit Platner u. a., 3 Bde.,
Stuttg. 1830-43); ihm gehören in dem genannten Werke viele der topogr. Mitteilungen über das
alte
Rom und alle Untersuchungen über
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die ältere Geschichte des christl. Rom an. Aus den letztern ging auch das treffliche Werk «Die Basiliken des
christl. Rom» (Münch. 1843) hervor. Die erste Anwesenheit Champollions in Rom 1826 bildete eine neue Epoche in B.s Altertumsstudien.
Er ward nicht nur eifriger Zuhörer des franz. Gelehrten, sondern munterte auch Lepsius
zu hieroglyphischen Studien auf. Für das Archäologische Institut, das in Rom im Winter 1829 gegründet wurde, blieb Bunsen
während
seines ganzen, bis 1838 dauernden Aufenthalts in Rom als dessen Generalsekretär ununterbrochen thätig.
Als er 1835 das Hospital nebst Wohnhaus [* 12] für deutsche Künstler und Gelehrte (Casa Tarpea) gründete, erbaute er daselbst zugleich neben seiner Wohnung auf dem Kapitol einen Versammlungssaal für das Archäologische Institut. Der Belebung des evang. Gemeindegottesdienstes widmete er sowohl praktisch in der Gesandtschaftskapelle zu Rom als litterarisch durch den «Versuch eines allgemeinen evang. Gesang- und Gebetbuchs» (Hamb. 1833; später u. d. T. «Allgemeines evang. Gesang- und Gebetbuch», ebd. 1846 neu erschienen; 2. Aufl. 1871) rege Teilnahme.
Seit 1827 war B.s amtliches Leben bewegter geworden. So hatte er für die europ. Gesandtenkonferenz
in Rom zur Ordnung der Angelegenheiten des Kirchenstaates den als «Memorandum
del Maggio 1832» bekannten Reformentwurf ausgearbeitet und das Breve über die gemischten Ehen vom erwirkt, das
freilich den Keim zu weitern Differenzen in sich trug, wie die Kölner
[* 13] Wirren zeigten. Eine wenig glückliche That war namentlich
der geheime Vertrag, den er 1834 mit dem Erzbischof Spiegel
[* 14] von Köln
[* 15] über eine mildere Ausführung des Breves abschloß. Bunsen
unternahm
nach der Verhaftung des Erzbischofs Droste, der Spiegels Nachfolger war, 1837 den Versuch, den Papst zu
einer versöhnlichen Ausgleichung zu bringen.
Was er dafür that, fand weder den Beifall der Kurie noch seiner Regierung. Im April 1838 wurde er abberufen und erhielt einen Reiseurlaub nach England. Nach Ablauf [* 16] desselben ging er im Nov. 1839 als preuß. Gesandter nach Bern. [* 17] Von dort ward er von Friedrich Wilhelm IV. 1841 nach Berlin berufen, und zum Zweck der Errichtung eines evangelischen engl.-preuß. Gesamtbistums in Jerusalem [* 18] mit einer außerordentlichen Mission nach England beauftragt. Bald darauf erfolgte seine Ernennung zum preuß. Gesandten in England.
In B.s amtlicher Stellung blieb 1848-52 seine Thätigkeit besonders auf die Verteidigung der Rechte Deutschlands [* 19] und der Herzogtümer gegen Dänemark [* 20] gerichtet. 1818 veröffentlichte er das «Memoir on the constitutional rights of the Duchies of Schleswig [* 21] and Holstein, presented to Viscount Palmerston 8th April 1848.». Während der ersten Monate des J. 1849 führte er als Bevollmächtigter Preußens [* 22] und der Centralgewalt die Waffenstillstandsverhandlungen mit geringem Erfolge; erfolgreicher war seine Einwirkung auf den König in der Deutschen Frage im Jan. 1849. 1850 protestierte er gegen das Londoner Protokoll, nachdem er vergebens versucht hatte, die Abfassung desselben zu verhindern.
Doch mußte er den Londoner Vertrag unterzeichnen. Seine Bemühungen, beim Ausbruch der orient.
Wirren Preußen zur Parteinahme gegen Rußland zu vermögen, hatten zur Folge, daß er im Juni 1854 die erbetene Abberufung
erhielt. Bunsen
ließ sich zu Charlottenberg bei Heidelberg
[* 23] nieder. Nachdem er 1857 auf besondere Einladung des
Königs der Versammlung
der Evangelischen Allianz zu Berlin beigewohnt hatte, erfolgte seine Berufung in das preuß. Herrenhaus und
seine Erhebung in den Freiherrenstand. Körperliche Leiden
[* 24] nötigten ihn, zwei Winter zu Cannes zuzubringen. Im Frühjahr 1860 siedelte
er nach Bonn
[* 25] über, wo er jedoch schon starb.
Ungemein vielseitig war neben seiner politischen immer seine wissenschaftliche Thätigkeit gewesen. In dem Werke «Die Verfassung der Kirche der Zukunft» (Hamb. 1845) entwickelte er zuerst den freiern Standpunkt, der ihn mehr und mehr von seinen frühern religiösen Gesinnungsgenossen trennte. Aus kirchengeschichtlichen Studien gingen hervor: «Ignatius von Antiochien und seine Zeit» (Hamb. 1847) und «Die drei echten und die vier unechten Briefe des Ignatius von Antiochien» (ebd. 1847). Noch weiter griff die Untersuchung «Hippolytus und seine Zeit» (englisch, 4 Bde., Lond. 1851; deutsch, 2 Bde., Lpz. 1852-53),
der anstatt einer zweiten Auflage das umfangreiche Werk «Christianity and mankind» (7 Bde., Lond. 1855) folgte. Die wachsende Intoleranz der auf evang. wie kath. Seite die Herrschaft anstrebenden Kreise [* 26] veranlaßte die Schrift «Die Zeichen der Zeit» (2 Bdchn., Lpz. 1855; 3. Aufl. 1856),
die das größte Aufsehen erregte. Nachdem Bunsen
hierauf das Werk: «Gott
in der Geschichte, oder der Fortschritt des Glaubens an eine sittliche Weltordnung» (3 Bde., Lpz.
1857-58) veröffentlicht hatte, begann er die Bearbeitung des auf neun Bände berechneten «Vollständigen
Bibelwerks für die Gemeinde», das er als die Hauptaufgabe seines Lebens betrachtete, von dem er jedoch nur das
Erscheinen des ersten, zweiten und fünften Bandes erlebte. Das großartige Werk ist von Holtzmann und Kamphausen in B.s Geiste
und mit Benutzung seiner hinterlassenen Vorarbeiten zu Ende geführt worden (9 Bde.,
Lpz. 1858-70). (S. Bibel,
[* 27] Bd. 2, S. 961 a.)
Als Frucht von B.s ägypt. Studien erschien «Ägyptens Stelle in der Weltgeschichte» (5 Bde., Gotha
[* 28] 1845-56).
-
Vgl. Baehring, B.s Bibelwerk nach seiner Bedeutung für die Gegenwart beleuchtet (Lpz. 1861; 2. Aufl. 1870). -
Eine eingehende Schilderung von B.s Leben bietet die von seiner Witwe verfaßte Biographie: A memoir of
Baron Bunsen
(2 Bde., Lond.
1867; 2. Aufl. 1869), die in der von Nippold bearbeiteten deutschen Ausgabe: Christian Karl Josias Freiherr von Bunsen.
Aus seinen
Briefen und nach eigener Anschauung geschildert von seiner Witwe (3 Bde., Lpz. 1868-71),
noch durch viele Mitteilungen aus seinem Nachlasse bereichert wurde;
eine gedrängte Biographie gab Bachring:
Bunsen
, Lebensbild eines deutsch-christl. Staatsmannes (ebd. 1892).
Sehr inhaltsreich ist L. von Rankes Veröffentlichung: Aus
dem Briefwechsel Friedrich Wilhelms IV. mit Bunsen
(ebd. 1873; 2. Aufl. 1874). Am dem hundertjährigen
Geburtstage B.s, wurde ihm in seinem Geburtsort Corbach ein Denkmal errichtet.
Seine Witwe Frances, Freifrau von Bunsen
, geborene Waddington (geb. starb zu Karlsruhe.-
Vgl. Hare, Life and
letters of Frances Baroness Bunsen
(2 Bde., Lond.
1879; deutsch von Hans Tharau, 6. Aufl., Gotha 1890).
Der älteste der fünf Söhne B.s, Heinrich von Bunsen
, geb. 1818, in England erzogen, war Pfarrer zu Donnington
Rectory bei Wolverhampton und starb - Der zweite Sohn, Ernst von Bunsen
, geb.
1819, preuß. Hauptmann a. D. und
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Kammerherr, schrieb: «Die Einheit der Religionen» (Bd. 1, Berl. 1870),
«The chronology of the Bible» (Lond. 1874),
«Biblische Gleichzeitigkeiten» (Berl. 1875),
«Die Überlieferung. Ihre Entstehung und Entwickelung» (2 Bde., Lpz. 1889),
«Die Rekonstruktion der kirchlichen Autorität» (ebd. 1892). - Der dritte Sohn, Karl von Bunsen
, geb. 1821, Legationsrat,
war seit 1853 Sekretär
[* 30] der preuß. Gesandtschaft in Turin
[* 31] und Florenz,
[* 32] seit 1869 im Haag,
[* 33] zog sich 1871 auf
seine Besitzung bei Biebrich
[* 34] zurück und starb daselbst - Der vierte Sohn, Georg von Bunsen, geb. zu Rom,
widmete sich zu Berlin und Bonn philol., geschichtlichen und geogr. Studien und besuchte dann Frankreich,
England und Italien.
[* 35]
Seit Mai 1802 war er Mitglied des preuß. Abgeordnetenhauses, während der ersten drei Sessionen als Vertreter des Wahlkreises Bonn-Rheinbach, später von Lennep-Solingen und 1877-79 von Elberfeld-Landkreis (Mettmann). [* 36] 1867 ward er vom Kreise Solingen [* 37] in den Norddeutschen und 1871 in den Deutschen Reichstag gewählt. Von 1876 bis 1885 vertrat er den Wahlkreis Hirschberg-Schönau im Reichstag; hier gehörte er der nationalliberalen, seit 1884 der deutschfreisinnigen Partei an. Er lebt jetzt in Berlin. - Der jüngste Sohn, Theodor von Bunsen, geb. war der preuß. Expedition nach Japan [* 38] als diplomat. Attaché beigegeben, dann als Legationssekretär in Rio [* 39] de Janeiro und Stockholm [* 40] und als erster Geschäftsträger des Norddeutschen Bundes in Peru [* 41] thätig. Von 1875 bis 1876 war er deutscher Generalkonsul in Alexandria. Er vertrat 1877-81 das Fürstentum Waldeck [* 42] im Deutschen Reichstag, wo er sich der nationalliberalen Partei anschloß, und lebte später, mit publizistischen Arbeiten beschäftigt, in Heidelberg, wo er starb.