Titel
Bundesrat
im Deutschen Reich. I. Entstehung und rechtliche Natur. Als auf Grund des Prager Friedens die 22 deutschen Staaten nördlich der Mainlinie sich durch den Vertrag vom verpflichtet hatten, ein neues deutsches Bundesverhältnis unter Führung Preußens [* 2] herzustellen, traten im Jan. 1867 Vertreter dieser Regierungen zur Beratung der von Preußen [* 3] vorgelegten Bundesverfassung in Berlin [* 4] zusammen; die Aufgabe der Konferenz von Regierungsvertretern war in kurzer Zeit erledigt.
Diese histor.
Thatsache ist der Ausgangspunkt des Bundesrat.
Die neue Institution in vorhandene staatsrechtliche
Kategorien unterzubringen,
erwies sich als unmöglich. Weder ist der Bundesrat
eine Erste Kammer noch ein Ministerium; am
nächsten stehen ihm der schweiz.
Ständerat und der Senat der nordamerik.
Union; sie teilen mit dem Bundesrat
den
Gedanken einer Staatenvertretung,
allerdings mit dem bedeutsamen Unterschied, daß diese Staatenvertretungen republikanischer
Bundesstaaten rein parlamentarisch
organisiert sind.
Als Vertretungskörper der verbündeten Regierungen ist der Bundesrat
der norddeutschen Bundesverfassung
eingefügt worden und so in die Reichsverfassung
(Abschnitt III, Art. 6–10) übergegangen. Der deutsche Gesamtstaat war
von Anfang an nie als reine Monarchie gedacht, sondern, wenn auch unter preuß. Präsidium,
als ein föderativ-monarchisches Staatswesen. Demgemäß erscheint als
Träger
[* 5] der
Souveränität nicht der weiterhin mit der
Kaiserwürde ausgestattete
Bundespräsident, sondern die korporative Einheit der bisherigen einzelnen
Träger der
Souveränität.
Der kongruente staatsrechtliche
Ausdruck jenes Grundgedankens wäre das Fürstenkollegium als oberster Regierungsfaktor des
deutschen
Bundesstaates gewesen. An dessen
Stelle wurde aber ein Vertretungskörper gesetzt, unser heutiger Bundesrat.
Der Bundesrat ist somit
staatsrechtlich zu charakterisieren als der Repräsentant des
Trägers der
Souveränität und demgemäß
das oberste Regierungsorgan des
Reichs. Eine Prärogative des
Kaisers dem Bundesrat
gegenüber besteht allerdings in folgenden Punkten:
1) Der
Kaiser ernennt den verfassungsmäßigen Vorsitzenden des Bundesrat
, den Reichskanzler (s.d.). Die
Stellvertretung im Vorsitze
für den Fall, daß
Preußen unvertreten
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sein sollte, hat nach den Versailler Verträgen Bayern. [* 7]
2) Der Kaiser hat nach dem Wortlaut der Verfassung (Art. 12) das Recht, den Bundesrat
zu berufen, zu eröffnen, zu vertagen, zu schließen;
diese aus einer quasiparlamentarischen Auffassung des Bundesrat
hervorgegangenen Vorschriften sind für den Bundesrat ziemlich gegenstandslos,
da die thatsächlichen Verhältnisse sehr bald dazu führten, daß der Bundesrat
, mit Ausnahme
kurzer Sommerferien, als permanentes Regierungsorgan des Reichs sich gestaltete. Dadurch haben auch die andern Verfassungsvorschriften
(Art. 13, 14): daß der Bundesrat
alljährlich einmal, ferner daß er auf Verlangen von einem Drittel der Stimmen berufen werden
müsse, ihre praktische Bedeutung verloren.
II. Zusammensetzung des Bundesrat.
Der Bundesrat ist somit dasjenige Reichsorgan,
in dem der Wille der Einzelstaaten im Reiche seinen gesetzlichen Ausdruck findet. Daraus ergiebt sich, daß alle Einzelstaaten
in demselben vertreten sein müssen; Elsaß-Lothringen
[* 8] trägt dermalen noch nicht den rechtlichen Charakter eines Einzelstaates,
kann somit eine beschließende Stimme im B. nicht haben; durch specialgesetzliche Vorschrift (Gesetz vom
§. 7) wurde jedoch dem Reichslande beratende Stimme im B. für Elsaß-Lothringen betreffende Sachen eingeräumt.
Aus dem Rechtscharakter des Bundesrat.
Als Vertretungskörper der verbündeten Regierungen ergiebt sich aber auch die
weitere Folge, daß die gleichzeitige Zugehörigkeit zu und Reichstag verfassungsmäßig ausgeschlossen
ist (Art. 9). Die außerordentlich große Verschiedenheit der thatsächlichen Bedeutung der einzelnen Gliedstaaten des Reichs
führte zu einer verschiedenartigen Abmessung des Stimmengewichts derselben im B.; jedoch hat diese Abstufung keinerlei principielle,
sondern lediglich quantitative Bedeutung; auch ihre positivrechtliche Gestaltung (Art. 6) beruht auf einer histor.
Zufälligkeit, nämlich dem Stimmenverhältnis im Plenum des Frankfurter Bundestages;
danach zählt die preuß. Stimme, unter Einrechnung der Stimmen der 1866 eroberten Staaten, 17fach, die der Königreiche Sachsen [* 9] und Württemberg [* 10] je 4fach, die von Baden [* 11] und Hessen [* 12] je 3fach, von Mecklenburg-Schwerin und Braunschweig [* 13] je 2fach;
Bayern erhielt aus besondern Gründen ein Mehr von 2, somit 6 Stimmen;
die übrigen Bundesglieder zählen einfach;
die Stimme für Waldeck [* 14] führt seit dem Accessionsvertrage Preußen: somit ergiebt sich eine Gesamtzahl von 58 Stimmen, von denen 18 in der Hand [* 15] Preußens, 14 in der Hand der drei andern Königreiche, 26 in der Hand der Kleinstaaten liegen.
Jeder Einzelstaat kann so viele
Bevollmächtigte zum Bundesrat
ernennen, als er nach der Verfassung Stimmen zu führen hat;
für die Bevollmächtigten werden in der Regel noch Stellvertreter ernannt;
die Stellung der am preuß. Hofe beglaubigten einzelstaatlichen Gesandten ist in zweckmäßiger
Weise mit der Stellung von Bevollmächtigten zum Bundesrat
in Zusammenhang gesetzt worden;
nach der (nicht publizierten) Geschäftsordnung vom (in Abänderung der ursprünglichen vom kann unter bestimmten formellen Voraussetzungen (für eine Sitzung durch Auftrag des Bevollmächtigten, dauernd nur auf Grund besonderer Vollmacht der Regierung) die Stimme mehrerer Bundesglieder von einem Bevollmächtigten abgegeben werden;
die in der Geschäftsordnung vorgesehenen regelmäßigen Beratungen der ersten Bevollmächtigten, der Ministerkonferenz, scheint als dauernde Einrichtung nicht in Übung gekommen zu sein.
Daß die Stimme eines Staates, auch wenn sie mehrfach zählt, nur einheitlich
abgegeben werden kann (Art. 6), folgt aus der principiellen Natur des Bundesrat.
Bei Stimmengleichheit entscheidet
die preuß. («Präsidial»-)Stimme (Art. 7,
Abs. 3). In Sachen der sog. Reservatrechte (s. d.) können die Bevollmächtigten der beteiligten Einzelstaaten
zwar mitberaten, sind aber von der Abstimmung ausgeschlossen (Art. 7, Abs. 4). Eine Berufung anf «mangelnde Instruktion» ist
durch die Verfassung ausdrücklich ausgeschlossen; nicht instruierte, ebenso wie nicht vertretene «Stimmen werden nicht gezählt»
(Art. 7, Abs. 3).
III. Die persönliche Rechtsstellung der Bevollmächtigten zum Bundesrat ist, selbstverständlich abgesehen vom Reichskanzler, nicht die von Reichsbeamten; sie verbleiben vielmehr, obwohl sie in ihrer Gesamtheit eine Reichsbehörde darstellen, im Staatsdienst ihres Einzelstaates, beziehen demnach vom Reich weder Gehalt noch stehen sie unter dessen Disciplinargewalt. Diesem Verhältnis giebt die Reichsverfassung in Art. 10 den allerdings unzutreffenden Ausdruck, daß der Kaiser für den «üblichen diplomat. Schutz» der Mitglieder des Bundesrat zu sorgen habe, unzutreffend deshalb, weil völkerrechtliche Begriffe und Voraussetzungen für das Verhältnis der Einzelstaaten zum Reiche schlechterdings unanwendbar sind; doch hat im Gerichtsverfassungsgesetz §. 18, Abs. 2, wie in den beiden Prozeßordnungen (Strafprozeßordn. §§. 49, 72; Civilprozeßordn. §§. 347, 367) der Gedanke noch eine weitere, übrigens unbedenkliche Folge gefunden.
Die Abstimmung erfolgt dem Vertretungsgedanken entsprechend lediglich nach Instruktionen der Vertretenen;
über diese giebt das Reichsrecht außer der oben erwähnten über Nichtinstruktion keine Vorschrift;
die Sache fällt somit ausschließlich in das Gebiet des Partikularstaatsrechts;
mehrfache Anläufe, besonders in Bayern und Württemberg, das Problem gesetzgeberisch zu lösen, im Sinne einer rechtsnotwendigen Mitwirkung der Volksvertretung für die Erteilung unternommen, sind resultatlos verlaufen;
doch entbehrt die Behauptung des staatsrechtlichen Grundes, als sei nach dem geltenden Recht in keinem Falle die Mitwirkung der Volksvertretung zur Erteilung von Instruktionen erforderlich, ebenso wie die weitere, als seien Partikulargesetze zur Regelung dieses Verhältnisses wider die Reichsverfassung.
IV. Die Arbeiten des Bundesrat geschehen teils in Plenarverhandlungen, teils in Ausschußsitzungen. Es bestehen 11 Ausschüsse (Art. 8): 1) für das Landheer und die Festungen, 2) für das Seewesen, 3) für Zoll- und Steuerwesen, 4) für Handel und Verkehr, 5) für Eisenbahnen, Post und Telegraphen, [* 16] 6) für Justizwesen, 7) für Rechnungswesen, 8) für die auswärtigen Angelegenheiten, 9) für Elsaß-Lothringen, 10) für die Verfassung, 11) für die Geschäftsordnung;
diese Ausschüsse zählen meist 7, einige (2 und 8) 5 Mitglieder und 1-2 Stellvertreter;
die Besetzung erfolgt in der Weise, daß Preußen allen Ausschüssen mit Ausnahme des 8., und zwar mit dem Rechte des Vorsitzes angehört;
außerdem gehören dem 1. Ausschuß Bayern und Württemberg nach der Verfassung, Sachsen nach der Militärkonvention an, die übrigen Mitglieder sowie die Mitglieder des 2. Ausschusses ernennt der Kaiser;
dem 8. Ausschuß gehören die 3 Königreiche Bayern, Württemberg, Sachsen durch die Verfassung an;
alle übrigen Mitglieder der ¶
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Ausschüsse sowie die Stellvertreter werden vom Plenum des Bundesrat immer für ein Jahr durch Bezeichnung des Staates, dem die Entsendung der Person anheimgestellt bleibt, gewählt. Der 8. Ausschuß wurde bei Ausrichtung des Reichs auf Verlangen Bayerns in die Verfassung aufgenommen zum Zwecke einer mittelstaatlichen Kontrolle der auswärtigen Politik Preußens. Alle Anträge von Bundesgliedern müssen zur Beratung gestellt werden (Art. 7, Abs. 2).
V. Die Funktionen des Bundesrat sind: A. Teilnahme an der Gesetzgebung. Reichsgesetze kommen zu stande durch übereinstimmenden Mehrheitsbeschluß von und Reichstag (Art. 5). Regelmäßig werden Gesetzentwürfe zuerst im B. festgestellt und sind dann nach Maßgabe der Beschlüsse des Bundesrat im Namen des Kaisers dem Reichstag in Vorlage zu bringen (Art. 16); im Reichstag kann jedes Mitglied des Bundesrat jederzeit das Wort zur Vertretung der Ansichten seiner Regierung ergreifen, auch dann, wenn diese im B. in der Minderheit geblieben war (Art. 9). Bei der Beschlußfassung im B. entscheidet einfache Mehrheit, nur 1) Verfassungsänderungen sind abgelehnt, wenn 14 Stimmen dagegen sind (Art. 78, Abs. 2); 2) die sog. Reservatrechte (Ausnahmerechte) können nur mit Zustimmung des beteiligten Einzelstaates aufgehoben werden (Art. 78, Abs. 2); 3) in Sachen des Heerwesens, der Marine, der Zölle und der indirekten Steuern können Abänderungen der bestehenden Einrichtungen nur mit Zustimmung Preußens (Art. 5, Abs. 2, 3) erfolgen. Der Bundesrat als Repräsentant des Trägers der Souveränität erteilt den Reichsgesetzen die Sanktion, welcher Akt jedoch nicht zu äußerm Ausdruck gebracht wird. - Der hat Bundesrat das Verordnungsrecht des Reichs auszuüben, und zwar ist er als Repräsentant des Trägers der Souveränität hierzu in erster Linie zuständig (Art. 7). Außerdem ist das Verordnungsrecht in weitem Umfange durch positive Vorschriften der Verfassung oder von Specialgesetzen dem Kaiser, mehrfach auch andern Organen des Reichs oder den Einzelstaaten übertragen; überall aber, wo nicht eine derartige besondere Vorschrift das Verordnungsrecht besonders regelt, ist der Bundesrat kompetent, so insbesondere für das weite Gebiet des Zollwesens und der indirekten Steuern. Die Verordnungen des Bundesrat werden meist in dem seit 1873 erscheinenden «Centralblatt für das Deutsche [* 18] Reich» (s. d.) publiziert. - Dem Bundesrat sind sodann noch C. verschiedene einzelne Funktionen übertragen, teils in Gemeinschaft mit dem Kaiser, teils in alleiniger Zuständigkeit, welche sich nicht unter einen allgemeinen Gesichtspunkt stellen lassen.
Dahin gehören 1) das Recht der Zustimmung zu Kriegserklärungen, es sei denn, daß ein Angriff auf das Bundesgebiet erfolgt wäre (Art. 11, Abs. 2); 2) das Recht der Zustimmung zu Staatsverträgen, die in die Sphäre der Gesetzgebung fallen (Art. 11, Abs. 3); 3) das Recht der Mitwirkung für Ernennung gewisser Kategorien von Beamten;
4) das Recht der Zustimmung zur Auflösung des Reichstags (Art. 24);
5) die Beschlußfassung über die gegen ein Bundesglied zu verhängende Exekution (Art. 19);
6) die gütliche Erledigung von nicht privatrechtlichen Streitigkeiten unter Bundesgliedern sowie von Verfassungsstreitigkeiten in Einzelstaaten auf Anrufen eines Teiles (Art. 76);
7) die Beschlußfassung über die dem Reichskanzler alljährlich zu erteilende Entlastung in betreff der Reichsverwaltung (Art. 72);
8) die Teilnahme an der Kontrolle der Reichsschuldenverwaltung durch drei in die Reichsschuldenkommission zu entsendende Mitglieder;
9) die Entscheidung über Beschwerden wegen verzögerter oder verweigerter Rechtspflege gegen ein Bundesglied (Art. 77);
10) die höchstinstanzliche Entscheidung von Streitfragen des Zoll- und indirekten Steuerrechts auf Anregung der Aufsichtsorgane des Reichs über die Zoll- und Steuerverwaltung, sowie die Abrechnung der Zoll- und Steuergefälle mit den Einzelstaaten (Art. 36, Abs. 3, 39).